Entscheidungsstichwort (Thema)
Mord
Tenor
1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 30. Juni 2000
- im Schuldspruch dahin geändert, daß der Angeklagte des Totschlags schuldig ist,
- im Strafausspruch mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Dessau zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen das Urteil wenden sich der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft mit ihren Revisionen. Der Angeklagte beanstandet die Feststellung eines bedingten Tötungsvorsatzes. Ferner rügt er – insofern in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, die ihr Rechtsmittel ausschließlich zu seinen Gunsten eingelegt hat – die Annahme von Heimtücke sowie (auch für den Fall seiner Verurteilung wegen Mordes) die Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang, das Rechtsmittel des Angeklagten hat teilweise Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt:
Der Angeklagte war Angehöriger der Grenztruppen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland. Im Juni 1976 waren in dem Abschnitt, in dem er seinen Dienst als Grenzaufklärer versah, von westlicher Seite Grenzsicherungseinrichtungen beschädigt worden. Da weitere Anschläge befürchtet wurden, herrschte bei der Einheit des Angeklagten eine „gespannte Atmosphäre”.
Am 10. Juni 1976, gegen 23.00 Uhr, hatte das spätere Tatopfer, das in der Bundesrepublik Deutschland wohnte, von Westen aus die Grenze überschritten und auf einem alten Bahndamm den (aus Richtung der Bundesrepublik Deutschland gesehen) ersten Zaun der Grenzsicherungsanlagen der DDR erreicht. Nachdem der Grenzübertritt bemerkt worden war, erhielt der Angeklagte als Führer einer Streife auf dem den Grenzanlagen vorgelagerten DDR-Gebiet den Befehl, die Person festzunehmen. Gemeinsam mit dem ihn begleitenden Grenzsoldaten begab er sich zu dem Bahndamm. Der Angeklagte stand unter dem Eindruck der in den Tagen zuvor von der Bundesrepublik Deutschland ausgegangenen Grenzverletzungen. Er war „erbost über das dreiste Verhalten der Person auf dem Bahndamm und wollte diese erneute Provokation an der Grenze unbedingt beenden”. In dieser Stimmung kletterte er auf den Bahndamm und näherte sich der „am Zaun stehenden, in Richtung Osten schauenden und laut: ‚Freunde, wo seid Ihr?’ rufenden Person von dieser unbemerkt von hinten”. Als er sich dem Tatopfer „auf 4 bis 6 m genähert hatte”, erwiderte der Angeklagte: „Hier sind Deine Freunde” und gab unmittelbar anschließend auf das sich umdrehende Tatopfer aus seiner im Hüftanschlag gehaltenen Maschinenpistole „einen kurzen gezielten Feuerstoß (2 Schüsse) ab, um damit jeglichen Fluchtversuch bereits im Ansatz zu unterbinden.”
Das Tatopfer wurde in Arm und Bauch getroffen und verstarb kurze Zeit später an den Folgen des Schusses in den Bauch. Nachdem es zusammengebrochen war, erkannte der Angeklagte zu seinem Erschrecken, daß es sich nicht um einen „dreisten Provokateur”, sondern „um den allgemein als harmlos bekannten Westbürger O. handelte,” der die Grenze seit 1967 bereits zehnmal im alkoholisierten Zustand von West nach Ost überquert und sich jeweils widerstandslos hatte festnehmen lassen.
2. Die Verfahrensrügen des Angeklagten sind unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Das gilt auch für die an die Höhendifferenz zwischen Ein- und Ausschußwunde anknüpfende Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht. Die Revision macht geltend, daß der – nach ihrer Behauptung – „um etwa 2 bis 3 Grad von vorn nach hinten absteigende Schußkanal” durch einen Schuß aus dem Hüftanschlag bei einer Entfernung von 4 bis 6 m nicht ohne Gefälle zwischen dem Angeklagten und dem Tatopfer O. zu erklären sei. Indes gilt dies – wie sie selbst einräumt – nur unter der Voraussetzung einer aufrechten Körperhaltung des Tatopfers im Zeitpunkt der Abgabe des Schusses. Feststellungen dazu, ob O. aufrecht stand oder ob und gegebenenfalls mit welcher Neigung sein Oberkörper nach vorn gebeugt war, waren dem Landgericht aber ersichtlich nicht möglich. Im übrigen ist auch die sachverständig beratene Strafkammer bei ihrer Beweiswürdigung – entgegen dem durch die Revision erweckten Eindruck und letztlich in Einklang mit ihrem Vorbringen – nicht von einem waagerechten, sondern von einem nur „nahezu waagerechten” Schußkanal ausgegangen.
3. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge ergibt, daß der Schuldspruch keinen Bestand haben kann.
a) Entgegen dem Revisionsvorbringen des Angeklagten läßt allerdings die Wertung, er habe den tödlichen Schuß mit bedingtem Tötungsvorsatz abgegeben, keinen Rechtsfehler erkennen. Die Schwurgerichtskammer ist bei ihren Feststellungen zum Vorsatz und deren Würdigung von rechtlich zutreffenden Maßstäben ausgegangen und hat alle erheblichen Umstände in ihre Erwägungen einbezogen. Über die Gesichtspunkte hinaus, die sie berücksichtigt hat, sind keine Umstände ersichtlich, die das Ergebnis der Gesamtschau hätten dahin beeinflussen können, daß der Angeklagte trotz der objektiven Gefährlichkeit seines Handelns darauf vertraut haben könnte, O. werde nicht oder nicht so schwer getroffen.
b) Dagegen hält, wie beide Revisionen zu Recht geltend machen, die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte habe das Tatopfer heimtückisch getötet, rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Insofern ist zwar die Feststellung, das Tatopfer O. sei im Zeitpunkt der Abgabe des tödlichen Schusses objektiv arg- und wehrlos gewesen, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Durchgreifende Bedenken bestehen aber in Bezug auf die subjektiven Voraussetzungen der Heimtücke.
In subjektiver Hinsicht setzt der Tatbestand des Heimtückemordes voraus, daß der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers kennt und sichbewußt ist, daß er diese zur Tat ausnutzt. Dabei genügt es nicht, daß er die Umstände, auf die sich die Würdigung der Tötung als heimtückisch stützt, in einer äußerlichen, nicht ins Bewußtsein dringenden Weise wahrnimmt. Er muß vielmehr, was allerdings oft mit „einem Blick” geschehen wird, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit für seine Tat erfaßt haben (BGHSt 6, 120, 121; 6, 329, 331). An einer in das Bewußtsein dringenden Wahrnehmung der Arg- und Wehrlosigkeit kann es etwa dann fehlen, wenn der Täter in hoher Erregung handelt (Jähnke in LK StGB 10. Aufl. § 211 Rdn. 47).
An diesen Maßstäben gemessen vermögen die Urteilsgründe den Vorwurf heimtückischer Tötung nicht zu tragen:
Es erscheint schon zweifelhaft, ob zumindest im Ergebnis mit der erforderlichen Deutlichkeit festgestellt ist, daß der Angeklagte die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers O. erkannt hat. Soweit das Landgericht ausführt, „subjektiv (sei) die Arg- und die daraus resultierende Wehrlosigkeit des O. für den Angeklagtenerkennbar” gewesen und an anderer Stelle betont, daß die „für den Angeklagtenerkennbare Arg- und Wehrlosigkeit des O.” durch bestimmte Umstände verstärkt worden sei, stellt es rechtlich unzutreffend nicht auf die Kenntnis, sondern auf die Möglichkeit der Kenntniserlangung ab. Dadurch wird zugleich der Aussagewert der sich zwischen den beiden zitierten Passagen findenden Feststellung gemindert, dem Angeklagten sei „in diesem Moment klar” gewesen, daß das Opfer nicht mit einem Schußwaffeneinsatz gerechnet habe.
Jedenfalls aber genügt die Beweiswürdigung zur subjektiven Seite unter den hier gegebenen besonderen Umständen nicht den an sie zu stellenden rechtlichen Anforderungen:
Angesichts der Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze im Jahre 1976 versteht es sich keineswegs von selbst, daß sich ein „Grenzprovokateur”, der sich nach Überschreiten dieser Grenze auf dem Gebiet der DDR bis unmittelbar an deren ersten Grenzzaun vorgewagt hatte, keiner feindseligen Angriffe auf seine Person versah. Im Gegenteil mußte, wer die Grenze illegal überschritt, naheliegender Weise auch in Rechnung stellen, daß Angehörige der Grenztruppen im Falle seiner Entdeckung möglicherweise Schüsse auf ihn abgeben würden. In der angespannten Situation, die in den Tagen vor der Tat – unter anderem mit der Folge eines verstärkten Einsatzes von Grenzaufklärern – entstanden war, nachdem Unbekannte vom Westen aus „Lampen an den Grenzsicherungsanlagen ‚ausgeschossen’ bzw. ‚ausgeworfen’” hatten, mußte die Gefahr eines Schußwaffeneinsatzes einem Grenzverletzer, zumal wenn er provozierende Aktionen plante, deutlich vor Augen stehen. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, aus welchen Gründen der Angeklagte, der das Tatopfer bei Abgabe der Schüsse noch nicht als den – allgemein als harmlos bekannten – O. identifiziert hatte, sondern der Meinung war, einen „dreisten Grenzprovokateur” vor sich zu haben, abweichende Vorstellungen gehabt hat und von der Arglosigkeit des von ihm gestellten Grenzverletzers ausgegangen sein muß, wie das Landgericht als Ergebnis seiner im übrigen sorgfältigen Beweiswürdigung annimmt.
Hinzu kommt, daß sich die Schwurgerichtskammer nicht mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob dem Angeklagten die Bedeutung der von ihm – nach ihrer Würdigung – erkannten Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers in der erforderlichen Weise in das Bewußtsein gedrungen ist. Hierzu hätte aber insbesondere mit Blick auf die spannungsgeladene Situation, in der sich die Tat ereignete, sowie die Gemütsverfassung des Angeklagten Anlaß bestanden. Dieser befand sich vor der Abgabe des tödlichen Schusses ersichtlich in einem Zustand hochgradiger Empörung und Erregung: Wie das Urteil ausdrücklich feststellt, war der Angeklagte, dem „die Sicherung der Staatsgrenze … oberstes Gebot (war), dem er sich kompromißlos verpflichtet fühlte,” nach den vorausgegangenen Grenzprovokationen „erbost über das dreiste Verhalten der Person auf dem Bahndamm und wollte diese erneute Provokation an der Grenze unbedingt beenden”: Die Rufe „Hallo Freunde” empfand er als eine „hämische Provokation”. Diese Feststellungen sprechen nachhaltig für eine Seelenlage, die einer in das Bewußtsein des Angeklagten dringenden Wahrnehmung der objektiven Arg- und Wehrlosigkeit des O. hindernd entgegengestanden haben kann.
4. Der Rechtsfehler führt zur Änderung des Schuldspruchs. Nicht zuletzt unter Berücksichtigung der langen Zeit (25 Jahre) seit der Tat sieht der Senat es als ausgeschlossen an, daß sich in einer erneuten Hauptverhandlung noch Umstände feststellen lassen, die – rechtsfehlerfrei – den Schluß auf die erforderlichen subjektiven Voraussetzungen einer heimtückischen Tötung erlauben könnten.
5. Infolge der Änderung des Schuldspruchs kann der auf die absolute Strafandrohung des § 211 StGB gestützte Strafausspruch keinen Bestand haben. Ob dieser auch im Falle der Verwerfung der Rechtsmittel zum Schuldspruch hätte aufgehoben werden müssen, weil die Tat des Angeklagten – wie Staatsanwaltschaft und Angeklagter meinen – durch so außergewöhnliche Umstände geprägt ist, daß sich die vom Gesetz für Mord angedrohte lebenslange Freiheitsstrafe als unverhältnismäßig dargestellt hätte und eine Strafmilderung in entsprechender Anwendung des § 49 StGB geboten wäre (vgl. BGHSt 30, 105), bedarf danach keiner Entscheidung.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Tolksdorf, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 604641 |
NStZ-RR 2001, 296 |