Entscheidungsstichwort (Thema)
sexueller Mißbrauch von Kindern
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 11. Februar 1999 wird verworfen.
Der Angeklagte trägt die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.
I.
Nach den Feststellungen fuhr der Angeklagte an einem nicht mehr näher feststellbaren Tag im Sommer 1990 mit der damals elf Jahre alten Nebenklägerin zu seiner an einem Fischteich gelegenen Wochenendhütte. In der Hütte legte er das völlig überraschte Mädchen auf einen Tisch, entkleidete es teilweise und führte mit ihm – entgegen den Bitten des weinenden Kindes – den Geschlechtsverkehr aus.
An einem Tag zwischen Februar 1991 und Februar 1992 hatte der Angeklagte mit dem inzwischen 12 bzw. 13 Jahre alten Kind in dessen Kinderzimmer erneut Geschlechtsverkehr.
Entgegen der Einlassung des Angeklagten, nach der es zum Geschlechtsverkehr erst genau ab dem 16. Geburtstag der Nebenklägerin Ende 1994 gekommen sein soll, fanden nach den landgerichtlichen Feststellungen weitere entsprechende Sexualkontakte sowohl zwischen den beiden vorgenannten Fällen als auch in der Folgezeit bis zur 1997 erfolgten Festnahme des Angeklagten statt, sind aber entweder nicht angeklagt oder gemäß § 154 StPO behandelt worden.
II.
Die Sachrüge bleibt erfolglos, da die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat. Der näheren Ausführung bedarf dies nur hinsichtlich der Beweiswürdigung:
Der Tatrichter muß den festgestellten Sachverhalt, soweit er bestimmte Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten nahelegt, in den Entscheidungsgründen erschöpfend würdigen. Dies ist im vorliegenden Fall im Ergebnis rechtsfehlerfrei geschehen.
1. Hinsichtlich der ersten Tat hat der Angeklagte den gemeinsamen Besuch der Wochenendhütte eingestanden; zum Geschlechtsverkehr sei es dort einmal gekommen, allerdings entgegen den Angaben der Geschädigten erst 1997.
Bei ihrer dem entgegenstehenden zeitlichen Einordnung verkennt die Kammer nicht, daß die Nebenklägerin Schwierigkeiten bei Zeitangaben hat, zählt aber mehrere nachvollziehbare Anhaltspunkte auf, die eine Festlegung auf den Sommer 1990 ermöglichen: So verweist die Kammer darauf, daß die Nebenklägerin bereits bei der ersten Vernehmung den Beginn der Sexualkontakte mit einem im Februar/März 1990 erlittenen Hundebiß in Zusammenhang gebracht habe. Zudem habe die Nebenklägerin angegeben, sie sei während der beiden Taten im vierten Schuljahr gewesen. Dabei handelte es sich wegen einiger mitgeteilter einschneidender Besonderheiten um ein auch für die Nebenklägerin unverwechselbares Schuljahr. Außerdem habe die Nebenklägerin angegeben, daß sie von R. aus abgeholt worden sei (wo die Familie nur im fraglichen Zeitraum wohnte) und ein geplanter Freibadbesuch (der einen Hinweis auf die Sommermonate gibt) Ausgangspunkt der Tat gewesen sei. Schließlich habe die Nebenklägerin angegeben, daß beide Taten sich vor dem Einsatz einer Familienhelferin (ab Februar 1992) ereignet hätten. Der Einsatz dieser Familienhelferin sei ein wichtiger Einschnitt im Leben der Nebenklägerin gewesen, anhand dessen auch das in seinen intellektuellen Fähigkeiten eingeschränkte Opfer zeitliche Einordnungen habe vornehmen können.
2. Hinsichtlich der zweiten Tat hat der Angeklagte eingestanden, daß er einmal im fraglichen Zimmer der Nebenklägerin gewesen sei und dort mit ihr „geschmust” habe, vor dem 16. Geburtstag der Nebenklägerin habe er sich aber mit „niederschwelligeren Sexualkontakten in Form von Knutschen” begnügt, erst anschließend sei es zum Geschlechtsverkehr gekommen. Auch bei diesem Fall benennt die Kammer mehrere konkrete Umstände, die ihr trotz der dargestellten Probleme eine sichere zeitliche Einordnung anhand der Aussagen der Nebenklägerin rechtsfehlerfrei ermöglichen.
3. Für die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin führt die Kammer – allerdings verstreut über das gesamte Urteil – eine Vielzahl sachlicher Anhaltspunkte an. Dabei werden sowohl von den Sachverständigen bei der aussagepsychologischen Begutachtung gewonnene Qualitätsmerkmale wiedergegeben (etwa hinsichtlich der geringen suggestiven Beeinflußbarkeit der Nebenklägerin oder der unaufgeforderten Mitteilung von positiven Eigenschaften des Angeklagten), als auch von der Kammer darüber hinaus insbesondere durch Berichte der Familienhelferin festgestellte Indiztatsachen.
4. Die Kammer hat auch die zugunsten des Angeklagten sprechenden Umstände, insbesondere die Widersprüche in den Aussagen der Nebenklägerin, gesehen, umfassend gewürdigt und mit rechtsfehlerfreier Begründung als nicht durchgreifend angesehen. Sie hat sich ausführlich mit dem Umstand auseinandergesetzt, daß Teile der Aussagen der Nebenklägerin objektiv unrichtig sind und sie frühere Aussagen in der Hauptverhandlung teilweise abgeschwächt hat.
a) So hat die Kammer umfassend und frei von Rechtsfehlern gewürdigt, daß die Wahrunterstellung, in der Wochenendhütte habe erst ab 1995 ein schwerer Holztisch gestanden, in Widerspruch steht zu einer Aussage der Nebenklägerin, der erste sexuelle Mißbrauch sei dort (1990) gerade auf diesem Holztisch erfolgt.
Erstrecken sich Sexualstraftaten über mehrere Jahre, so verschmelzen multiple ähnliche Handlungen in der Erinnerung des Opfers häufig zu einem „durchschnittlichem Ereignis”, Details mehrerer ähnlicher Ereignisse werden zu einem gut erinnerbaren Ereignis verschmolzen. Es ist nachvollziehbar, wenn die Kammer davon ausgeht, daß ein elfjähriges Mädchen bei ihrem ersten sexuellen Erlebnis mit einem Mann, das noch dazu für sie völlig überraschend, schmerzhaft und teilweise unverstanden abläuft, nicht auf die Eigenarten des bei der Tat benutzten Tisches achtet und bei einer Jahre später erfolgten Vernehmung einen Tisch beschreibt, den sie in jüngerer Vergangenheit noch am Tatort gesehen hat. Hinzu kommt, daß sie erst bei der dritten Vernehmung und erst auf Nachfrage von einem schweren Holztisch sprach.
b) Ebenso ausführlich erörtert die Kammer Widersprüche bezüglich Farbe und Modell der vom Angeklagten zur Tatzeit benutzten Fahrzeuge, wobei sie mit nachvollziehbarer Begründung zu dem Ergebnis kommt, daß hinsichtlich dieser Randdetails ein Irrtum der Nebenklägerin vorliegt, der die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben zum Kern des Tatgeschehens nicht beeinträchtigt.
c) Auch die Schwierigkeiten der Nebenklägerin bei der zeitlichen Einordnung von Ereignissen wurde von der Kammer als ein für den Angeklagten günstiger Umstand erkannt. Nach umfassender und rechtsfehlerfreier Würdigung kommt die Strafkammer zu dem Schluß, daß dies in den beiden abgeurteilten Fällen den getroffenen Feststellungen nicht entgegensteht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß bei sich bei über Jahre erstreckenden Serienstraftaten, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern betreffen, die zeitliche Einordnung den meisten Opfern Schwierigkeiten bereitet und insbesondere Tatfrequenzen kaum annähernd zuverlässig bekundet werden können (BGHR StGB vor § 1 Serienstraftaten Kindesmißbrauch 2; StGB § 176 Serienstraftaten 8 sowie StGB § 176 Abs. 1 Mindestfeststellungen 4). Hinzu kommt, daß die Nebenklägerin geistig einfach strukturiert ist. Das alles wurde berücksichtigt, indem Fälle mit mangelnder Individualisierungsmöglichkeit eingestellt und bei den verbliebenen zwei Taten die zeitliche Einordnung nicht anhand von Datumsangaben der Nebenklägerin, sondern anhand von auch für die Nebenklägerin merkbarer Besonderheiten (s.o. II 1 und 2) vorgenommen wurde.
d) Die Kammer hat auch in die Beweiswürdigung einbezogen, daß viele Fälle nicht angeklagt bzw. eingestellt wurden. Diese Fälle wurden allerdings nicht wegen bewußt unwahrer Aussagen der Nebenklägerin ausgeschieden. Vielmehr hat die Kammer festgestellt, daß es zu weiteren Mißbrauchsfällen gekommen ist. Die bei entsprechenden Serienstraftaten zu empfehlende Beschränkung (zuletzt BGH, Beschl. vom 13. Juli 1999 - 5 StR 256/99) erfolgte hier, weil aufgrund verständlicher Erinnerungslücken der Nebenklägerin eine ausreichende Individualisierung oder eine genauere zeitliche Eingrenzung nicht möglich war.
5. Das Landgericht hat entgegen der Ansicht der Revision der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung (Aussagegenese) die erforderliche besondere Aufmerksamkeit zugewendet (BGH, Beschl. vom 10. September 1998 - 1 StR 476/98 = StV 1999, 306).
6. Die Beweiswürdigung der Kammer verstößt schließlich auch nicht gegen Denkgesetze. Insbesondere enthält der nicht leicht verständliche zweite Absatz auf Seite 27 der Urteilsabschrift keinen Zirkelschluß. Die Kammer geht auf der Grundlage einer Reihe näher dargelegter Indizien rechtsfehlerfrei davon aus, daß der von der Nebenklägerin berichtete erste Geschlechtsverkehr 1990 stattgefunden habe. Ihre Erinnerung, die diesen Geschlechtsverkehr mit einem schweren Holztisch verbindet, müsse sie mithin getrogen haben.
III.
Auch die Verfahrensrügen greifen nicht durch.
1. Entgegen der Ansicht der Revision hat die Kammer die gemäß § 244 Abs. 3 StPO als wahr unterstellte Beweisbehauptung nicht zum Nachteil des Angeklagten gewertet. Als wahr unterstellt wurde die Behauptung, daß (erst) 1995 ein schwerer Holztisch in die Wochenendhütte des Angeklagten transportiert und gegen einen zuvor dort vorhandenen Campingtisch ausgetauscht worden sei.
Dementsprechend ist in den Feststellungen des Urteils – wie schon in der Anklage – hinsichtlich des Jahres 1990 lediglich von einem „Tisch” die Rede. Schlüsse zu Ungunsten des Angeklagten wurden daraus nicht gezogen. Vielmehr hat die Kammer ausweislich der Beweiswürdigung erkannt, daß dieser Umstand (wenn auch letztendlich nicht durchgreifend) gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben der Hauptbelastungszeugin, die bereits während der ersten Tat 1990 diesen schweren Holztisch in der Hütte bemerkt haben will, spricht. Bei einer Wahrunterstellung von Indiztatsachen muß das Gericht die Beweis-tatsache in den Feststellungen und in der Beweiswürdigung – wie hier geschehen – als so zutreffend behandeln, ist aber nicht verpflichtet, aus ihr die Schlußfolgerungen zu ziehen (hier: Unglaubwürdigkeit der Zeugin oder Verlegung der Tatzeit nach 1995), die der Antragsteller gezogen haben will (BGH NJW 1959, 396).
2. Auch ein Verstoß gegen die Hinweispflicht des § 265 StPO liegt im Zusammenhang mit der Behandlung des genannten Beweisantrags nicht vor. Die Wahrunterstellung enthält eine vorläufige Beurteilung und keine Zusage, daß die Tatsache auch bei der Urteilsberatung von der Bedeutung sei, die ihm der Antragsteller zumessen möchte (Herdegen in KK-StPO, 4. Aufl. § 244 Rdn. 92; Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Rdn. 689 f.).
Zwar ist unter Umständen trotzdem ein Hinweis erforderlich, wenn es naheliegt, daß der Angeklagte gerade angesichts der Wahrunterstellung davon absieht, Beweisanträge zu stellen (BGHSt 30, 383, 385). Mit der Wahrunterstellung wurde für den Angeklagten hier jedoch kein derartiger Vertrauenstatbestand geschaffen. Die Tat konnte auch dann 1990 in der Hütte begangen worden sein, wenn der Holztisch erst 1995 dorthin verbracht wurde.
Unterschriften
Schäfer, Brüning, Wahl, Herr Richter am BGH Dr. Boetticher ist in Urlaub und deshalb an der Unterschrift verhindert. Schäfer, Schomburg
Fundstellen
Haufe-Index 640481 |
www.judicialis.de 1999 |