Leitsatz (amtlich)
›Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich das Unterlassen einer gebotenen Röntgenaufnahme als grober Behandlungsfehler darstellt.‹
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger befand sich nach einem am 21. August 1982 erlittenen Verkehrsunfall bis zum 10. September 1982 zur Behandlung der Unfallfolgen in dem Krankenhaus der Drittbeklagten in X.. Der Erstbeklagte ist der Chefarzt der Station, auf der der Kläger lag. Der Zweitbeklagte ist dort ebenfalls als Arzt tätig. Außer über Schmerzen im Brustkorb klagte der Kläger auch über Schmerzen im rechten Schultergelenk. Ausweislich des Krankenblattes erfolgten folgende Röntgenkontrollen: am 22. August 1982 "re. Schulter, re. Rippen", am 23. August 1982 "re. Rippen, BWS", am 1. September 1982 "HWS" und am 6. September 1982 "re. Rippen".
Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus suchte der Kläger wegen fortdauernder Schmerzen in der Schulter seinen Hausarzt auf, der Szintigramme anfertigte und schließlich aufgrund einer Röntgenaufnahme vom 11. Oktober 1982 eine komplette Sprengung des rechten Schultereckgelenks diagnostizierte. Nach Überweisung an Dr. J., Chefarzt der orthopädischen Abteilung in K., lehnte der Kläger eine von diesem am 25. Oktober 1982 vorgeschlagene Operation am 18./19. November 1982 ab. Bei einer weiteren Untersuchung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in D. im Februar 1983 gelangte der untersuchende Arzt Dr. H. zu der Auffassung, daß von einer operativen Revision eine Befundbesserung nicht mehr zu erwarten sei.
Der Kläger hat die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, mindestens 10. 000 DM, sowie die Feststellung begehrt, daß die Beklagten zum Ersatz des Schadens verpflichtet seien, der sich daraus ergebe, daß bei seiner stationären Behandlung die Schultereckgelenksprengung nicht erkannt und behandelt worden sei. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Oberlandesgericht die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten, abgesehen von einer Klarstellung zum Tenor, zurückgewiesen. Mit ihrer - zugelassenen - Revision halten die Beklagten daran fest, daß die Klage abzuweisen sei.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß die Schultereckgelenksprengung bereits bei der Einlieferung des Klägers in das Krankenhaus der Drittbeklagten vorgelegen hat, und ausgeführt: Nach Lage des Falles habe sich den Beklagten zu 1) und 2) der Verdacht auf das Vorliegen einer Schultereckgelenkssprengung aufdrängen müssen. Es stelle einen schweren Behandlungsfehler dar, daß sie diesen Verdacht nicht durch eine sog. gehaltene Röntgenaufnahme (= Röntgenaufnahme, bei der der Patient zur Belastung des Schultereckgelenks Gewichte in der Hand hält), abgeklärt hätten. Hierbei wäre die Sprengung des Schultereckgelenks im Röntgenbild sichtbar geworden und hätte sich die Indikation zu einem operativen Eingriff zwecks Abwendung von Dauerbeeinträchtigungen ergeben, wie sie nunmehr bei dem Kläger eingetreten seien. Soweit zweifelhaft bleibe, ob sich eine vollständige Beschwerdefreiheit hätte erreichen lassen, wirke sich zugunsten des Klägers aus, daß bei einem schweren Behandlungsfehler eine Umkehr der Beweislast eintrete. Daß der Beklagte im November 1982 eine Nachoperation abgelehnt habe, lasse seinen Schadensersatzanspruch unberührt, weil der Erfolg einer solchen - verzögerten - Operation ungewiß sei. Das gehe zu Lasten der Beklagten, die in dieser Hinsicht beweispflichtig seien.
II. Das Berufungsurteil hält der Überprüfung im Ergebnis stand.
Die Beklagten ziehen in der Revisionsinstanz nicht mehr in Zweifel, daß die während des Krankenhausaufenthalts des Klägers bereits vorliegende Schultereckgelenksprengung schuldhaft nicht erkannt und behandelt worden ist. Die Revision wendet sich jedoch dagegen, daß das Berufungsgericht die unterbliebene Kontrolle des Schultergelenks durch eine sog. gehaltene Röntgenaufnahme und die infolgedessen unterbliebene operative Regulierung als groben Behandlungsfehler gewertet und deshalb eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Ursächlichkeit dieses Behandlungsfehlers für die heutigen Beschwerden des Klägers angenommen hat. Ferner rügt die Revision, daß das Berufungsgericht dem Umstand keine Bedeutung beigemessen hat, daß der Kläger im November 1982 die ihm von Dr. J. vorgeschlagene Nachoperation abgelehnt hat. Zu beiden Punkten ist dem Berufungsurteil indes beizutreten.
1. Die Revision beanstandet ohne Erfolg, daß der Vorwurf eines groben Behandlungsfehlers vom Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht nicht ausreichend belegt sei. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war schon auf dem während der Krankenhausbehandlung des Klägers gefertigten Röntgenbild vom 22. August 1982 die Schultereckgelenksprengung erkennbar. Zwar zeigte nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sch. das Röntgenbild, weil im Liegen gefertigt, nicht den typischen Hochstand der Schulter, wies jedoch die Verbreiterung eines normalerweise 2 bis 3 Millimeter breiten Gelenkspalts auf 4 bis 5 Millimeter aus. Jedenfalls im Zusammenhang mit dem Vorgeschehen (schwerer Verkehrsunfall) und dem klinischen Lokalbefund (Schmerzen im Schulterbereich) hätte sich den behandelnden Ärzten nach Auffassung des Gutachters, dem das Berufungsgericht auch hierin folgt, wenigstens der Verdacht aufdrängen müssen, daß eine Eckgelenksprengung vorlag, dem zumindest einige Tage später, als der Kläger weiterhin über starke Schmerzen im Schultergelenk klagte, durch eine sog. gehaltene Röntgenaufnahme nachzugehen gewesen wäre. Hierbei handelt es sich, wie das Berufungsgericht weiter unbeanstandet festgestellt hat, um eine in einer derartigen Situation normale und übliche Maßnahme. Sie hätte, wie auch die Beklagten nicht in Zweifel ziehen, die Eckgelenksprengung manifestiert. Therapeutische Konsequenz hätte sodann, wie das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler den Ausführungen des Sachverständigen entnimmt, nach der unter chirurgischen Fachleuten einhelligen Auffassung eine Operation sein müssen, bei der die verletzten Bänder zu nähen und eingelagerte Bandrißreste und Knorpelpartikel zu entfernen gewesen wären, um die sonst zu erwartende Spätfolge einer schmerzhaften Arthrosis im Eckgelenk auszuschließen. Schließlich hat sich das Berufungsgericht die Überzeugung gebildet, daß der Kläger in eine solche Operation in der damaligen Situation (ohnehin erforderliche stationäre Krankenhausbehandlung) eingewilligt hätte.
Auf dem Boden dieser Feststellungen hat die Beurteilung des Berufungsgerichts, daß den Beklagten zu 1) und 2) ein grober Behandlungsfehler unterlaufen sei, eine ausreichende tatsächliche Grundlage. Die Feststellungen ergeben, daß die Beklagten zu 1) und 2) eine offensichtlich gebotene und der Art nach auf der Hand liegende Kontrollerhebung unterlassen und darüber die nach einhelliger medizinischer Auffassung gebotene Therapie verabsäumt haben. Das Berufungsgericht konnte dieses Verhalten ohne Rechtsfehler als groben Behandlungsfehler ansehen. Daß hier die Schultereckgelenksprengung des Klägers "übersehen" worden und unbehandelt geblieben ist, erscheint in der Tat unverständlich.
Auf dieser Grundlage ist auch die Annahme des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden, daß der Behandlungsfehler der Beklagten zu 1) und 2) als die Ursache für die heutigen Beschwerden des Klägers im rechten Schultergelenk anzusehen ist. Zwar läßt sich - naturgemäß - nicht sicher sagen, ob sich durch einen alsbaldigen operativen Eingriff ein beschwerdefreier Zustand hätte herbeiführen lassen. Indessen hat ein grober Behandlungsfehler für den Patienten Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr zur Folge (st. Senatsrechtsprechung, s. etwa BGHZ 85, 213, 215). Demzufolge konnte das Berufungsgericht die heutigen Beeinträchtigungen des Klägers ohne Rechtsfehler auf die Versäumnisse der Beklagten zu 1) und 2) zurückführen.
2. Soweit der Kläger im November 1982 davon abgesehen hat, sich der ihm von Dr. J. vorgeschlagenen Nachoperation zu unterziehen, ist dieses Verhalten unter dem Gesichtspunkt der unterlassenen Schadensminderung i.S.v. § 254 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BGB zu würdigen. Auch in dieser Hinsicht erweist sich das Berufungsurteil, welches der Verweigerung der Nachoperation keinen Einfluß auf den Schadensersatzanspruch des Klägers beimißt, im Ergebnis als richtig.
Allerdings verstößt ein Geschädigter gegen seine Schadensminderungspflicht und muß sich deshalb ggfls. eine Kürzung seines Schadensersatzanspruchs gefallen lassen, wenn er es unterläßt, sich einer zumutbaren Operation zur Beseitigung oder Verminderung seiner körperlichen Beeinträchtigung zu unterziehen. Zumutbar in diesem Sinne ist eine solche Operation nach der Rechtsprechung des Senats, wenn sie einfach und gefahrlos und nicht mit besonderen Schmerzen verbunden ist sowie die sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung biete (Senatsurteile BGHZ 10, 18, 19 sowie vom 4. November 1986 - VI ZR 12/86, VersR 1987, 408 f. ). Die Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich dieser Voraussetzungen obliegt dem Schädiger (Senatsurteil vom 4. November 1986 aaO).
Hieran gemessen stößt es freilich auf Bedenken, wenn das Berufungsgericht eine Obliegenheit des Klägers, sich der in Frage stehenden Nachoperation zu unterziehen, verneint, weil nicht festgestellt werden könne, daß eine etwa im November 1982 durchgeführte operative Gelenkrevision "eine völlige Beschwerdefreiheit des Klägers erbracht hätte und die nunmehr vorhandenen Beeinträchtigungen mit Sicherheit ausgeblieben wären" (BU S. 13). Damit werden, wie die Revision insoweit zu Recht geltend macht, die Anforderungen an die Zumutbarkeit einer nachträglichen Operation überspannt. In Wahrheit kann dem Geschädigten nach den mitgeteilten Grundsätzen eine Nachoperation auch schon dann zuzumuten sein, wenn sie auch nur die sichere Aussicht auf wesentliche Besserung bietet, sofern die weiteren genannten Voraussetzungen - Einfachheit und Gefahrlosigkeit des Eingriffs sowie Durchführbarkeit ohne besondere Schmerzen - gegeben sind.
Eine Verletzung der Schadensminderungspflicht des Klägers ist indes aus folgendem Grunde zu verneinen: Das Berufungsgericht entnimmt den Ausführungen des Sachverständigen, daß der Erfolg einer Nachoperation im November 1982 letztlich zweifelhaft sei; es stützt sich dabei auf die Äußerung des Sachverständigen, daß die Aussicht auf Beschwerdelinderung, wie sie für den Fall einer Operation bald nach dem Unfall gegeben gewesen sei, wohl auch noch im November 1982 bestanden habe, dies aber nicht mit Sicherheit gesagt werden könne. Diese Würdigung des Sachverständigengutachtens durch das Berufungsgericht ist rechtlich möglich. Indem die Revision hiergegen darauf verweist, daß der Sachverständige die Erfolgschance einer Nachoperation insgesamt als günstig hingestellt habe, begibt sie sich auf das ihr verschlossene Gebiet der tatrichterlichen Würdigung. Darüberhinaus stellt das Berufungsgericht - im gleichen Sinne - ohne Rechtsfehler darauf ab, daß sich im Februar 1983 in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in D. der untersuchende Arzt Dr. H. aufgrund der von dem Kläger mitgebrachten, schon aus Oktober 1982 stammenden, Röntgenaufnahmen auf den Standpunkt gestellt habe, von einer operativen Revision sei eine Befundbesserung nicht mehr zu erwarten, weil im Röntgenbild schon Verkalkungen im Bandapparat sichtbar seien. Auch aus diesem Grunde hält es das Berufungsgericht für unsicher, ob das Krankheitsbild im Oktober/November 1982 noch beeinflußbar war. Denn derselbe röntgenologische Befund, der Dr. J. zu einer Nachoperation habe raten lassen, sei von Dr. H. im gegenteiligen Sinne beurteilt worden, ohne daß erkennbar sei, welche der beiden ärztlichen Beurteilungen den Vorzug verdiene. Die hiernach von dem Berufungsgericht rechtsfehlerfrei angenommene Ungewißheit, ob die Nachoperation zu einer wesentlichen Besserung der Beschwerden des Klägers geführt hätte, geht zu Ungunsten der Beklagten, da diese, wie ausgeführt, für eine Verletzung der Schadensminderungsobliegenheit durch den Kläger die Beweislast tragen.
3. Zu der Frage, die das Berufungsgericht zum Anlaß für die Zulassung der Revision genommen hat,
ob nämlich "die Verweigerung einer nicht mit Sicherheit erfolgversprechenden Operation zur Behebung der durch einen ärztlichen Fehler herbeigeführten Schäden auch dann ohne Nachteile für den auf Schadensersatz klagenden Patienten bleibt, wenn der Arzt nicht wegen erwiesener Schadenszufügung, sondern nur im Hinblick auf unterstellte Kausalität wegen Beweislastumkehr nach grobem Behandlungsfehler haftet",
bemerkt der Senat, daß auch nach seiner Auffassung für eine unterschiedliche Handhabung in dieser Hinsicht keine Veranlassung besteht. Weder sind in Fällen, in denen die Aufklärung des Ursachenverlaufs durch einen groben Behandlungsfehlers belastet ist, strengere Anforderungen an die Obliegenheit des Patienten zu stellen, sich einer operativen Revision zu unterziehen, noch kann der Umstand, daß der Patient einen solchen Eingriff berechtigterweise verweigert, unter Gesichtspunkten der Billigkeit den Arzt von den beweisrechtlichen Konsequenzen entlasten, den ein grober Behandlungsfehler nach sich zieht.
III. Das Berufungsurteil ist auch im übrigen nicht zu beanstanden. Neben den Beklagten zu 1) und 2), die nach §§ 823, 847 BGB haften, hat gemäß §§ 31, 831 Abs. 1 Satz 1 BGB auch die Drittbeklagte für den Schaden des Klägers einzustehen. Die Bemessung des Schmerzensgeldes auf 10. 000 DM hält sich im Rahmen des tatrichterlichen Ermessensspielraums.
Die Revision der Beklagten war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 2992982 |
NJW 1989, 2332 |
BGHR BGB § 254 Abs. 2 Satz 1 Operation 1 |
BGHR BGB § 823 Abs. 1 Arzthaftung 36 |
MDR 1989, 900 |
DfS Nr. 1994/377 |