Leitsatz (amtlich)

Der Sozialversicherer kann nicht schon deshalb bei dem Arbeiter, der seinen Arbeitskollegen verletzt hat, aufgrund des § 640 RVO Regreß nehmen, weil dieser grob fahrlässig gehandelt hat; Voraussetzung eines Regresses aus § 640 RVO ist, daß die Haftung des Schuldigen nach den §§ 636, 637 RVO ausgeschlossen ist, so daß ein Regreß aus § 1542 RVO ausscheidet.

 

Normenkette

RVO §§ 640, 637

 

Verfahrensgang

OLG Karlsruhe (Urteil vom 28.04.1978)

LG Karlsruhe

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 28. April 1978 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Am 23. Oktober 1973 nahm der Erstbeklagte seinen bei derselben Firma wie er beschäftigten Arbeitskollegen K., wie schon öfter, auf der Heimfahrt von der gemeinsamen Arbeitsstelle in seinem Kraftwagen mit; der Vagen war bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert. Infolge erheblichen Alkoholgenusses kam der Erstbeklagte (demnächst: der Beklagte) von der Fahrbahn ab und stieß gegen einen Baum; K. erlitt tödliche Verletzungen. Die klagende Berufsgenossenschaft hat dessen Witwe bis 31. Dezember 1976 insgesamt 42.719,80 DM Überbrückungshilfe und Witwenunfallrente gewährt. Es ist außer Streit, daß der Beklagte den Unfall verschuldet hat. Die Zweitbeklagte hat der Klägerin insgesamt 7.872,50 DM erstattet, im übrigen aber Zahlung verweigert, weil die Klägerin sich ein Mitverschulden des Getöteten anrechnen lassen müsse, das mit 1/3 zu bewerten sei; denn dieser habe Kenntnis von dem Alkoholgenuß gehabt, sogar dem Beklagten teilweise dazu verholfen.

Die Klägerin hat von dem noch offenstehenden Betrag einen Teilbetrag von 12.470,29 DM eingeklagt sowie die Feststellung begehrt, daß die Beklagten verpflichtet seien, ihr von dem übergangsfähigen Schaden nicht nur eine Quote, sondern 100 % zu erstatten. Sie hat ihre Ansprüche zunächst aus § 1542 RVO hergeleitet, sie im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens mit dem Hinweis, es habe sich um einen Arbeitsunfall gehandelt, den der Beklagte grob fahrlässig verschuldet habe, in erster Linie auf § 640 RVO gestützt.

Das Landgericht hat der Klage aus § 640 RVO stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Mit der Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht vertritt den Standpunkt, der Klägerin, die den Wegeunfall als Arbeitsunfall anerkannt habe, stünden Ansprüche nach § 640 RVO gegen die Beklagten zu, weil der Erstbeklagte den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt habe. Dementsprechend prüft es weder, wie hoch der Unterhaltsanspruch der Witwe gegen ihren getöteten Ehemann war, noch ob diesen ein Mitverschulden traf. Auch die Feststellungsklage hinsichtlich künftiger Ansprüche der Klägerin sei aus § 640 RVO begründet.

II.

Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Nach § 640 Abs. 1 RVO haften Personen, deren Ersatzpflicht durch § 636 oder § 637 RVO beschränkt ist, für alles, was der Träger der Sozialversicherung infolge des Arbeitsunfalls aufwenden muß, wenn sie diesen grob fahrlässig herbeigeführt haben. Diese Vorschrift erstreckt sich auch auf Wegeunfälle.

1. Zu Unrecht bestreitet die Revision, daß es sich um einen Arbeitsunfall gehandelt habe. Die Beklagten hatten in den Tatsacheninstanzen niemals in Abrede gestellt, daß die Klägerin den Unfall als Arbeitsunfall des K. auf dem Weg von der Arbeit (§ 550 RVO) anerkannt hat und dementsprechend Leistungen an dessen Witwe erbringt; vielmehr hatten die Beklagten lediglich den Standpunkt vertreten, dieser Arbeitsunfall sei kein betriebsbezogener i.S. des § 637 RVO gewesen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Klägerin den Wegeunfall des K. dadurch, daß sie die dessen Witwe zu erbringenden Leistungen durch Bescheide festsetzte, für die Zivilgerichte verbindlich (§ 642 Abs. 2 i.V. mit § 638 Abs. 1 Nr. 1 RVO) als Arbeitsunfall anerkannt hat.

2. Das Berufungsgericht verkennt jedoch, daß aus dem Anerkenntnis des Unfalls als Arbeitsunfall des K. nicht folgt, daß es sich dann auch um einen vom Beklagten verursachten betriebsbezogenen Arbeitsunfall i. S. von § 637 RVO handelte, der ihn von der Haftungfreisteller würde.

Die Haftungsfreistellung eines in demselben Betrieb wie der Versicherte tätigen Betriebsangehörigen nach § 637 RVO greift nur ein, wenn dieser den Arbeitsunfall durch eine betriebliche Tätigkeit verursacht hat. Ob ein Arbeitsunfall vorliegt, bestimmt sich aus der Person des Verletzten; die Frage der Betriebszugehörigkeit der den Personenschaden verursachenden Tätigkeit ist dagegen aus der Person des Schädigers zu beurteilen (BGHZ 67, 279, 281; Wussow, Unfallhaftpflichtrecht, UHR 12. Aufl. TZ, 1547).

Im Streitfall wurde der verunglückte Arbeitskollege aber weder in einem betriebseigenen Kraftfahrzeug befördert (alsdann wird meist die Betriebsbezogenheit zu bejahen sein) noch wurde er, wenn auch im eigenen Pkw des Arbeitskollegen, aber auf einer „Dienstfahrt” mitgenommen, was in aller Regel als innerbetrieblicher Vorgang zu werten wäre (BGH Urt. v. 2. März 1971 – VI ZR 146/69 = VersR 1971, 564 und v. 2. November 1971 – VI ZR 50/70 = VersR 1972, 145). Vielmehr hat der Beklagte den K. in seinem Privatwagen auf dem Rückweg von der Arbeitsstätte zur Wohnung mitgenommen. Die Zurücklegung des Weges von und zu der Arbeitsstätte im eigenen Kraftfahrzeug eines Betriebsangehörigen ist aber grundsätzlich nicht Ausübung einer „betrieblichen Tätigkeit” i.S. von § 637 RVO (st. Rspr. des Senats: s. Urteile vom 27. Juni 1956 – VI ZR 252/55 = VersR 1956, 589 und vom 24. Oktober 1967 – VI ZR 67/66 = VersR 1967, 1201; zuletzt vom 14. Februar 1978 – VI ZR 216/76 = VersR 1978, 625).

3. Sind somit die Voraussetzungen des § 637 RVO im Streitfall nicht gegeben, so greift § 640 RVO als Anspruchsgrundlage nicht ein. Die Klägerin kann, weil der Beklagte von seiner Haftung nicht freigestellt ist, gemäß § 1542 RVO und nur gemäß dieser Vorschrift Regreß nehmen.

Es bedarf im Streitfall keiner Entscheidung der von den Parteien im Rechtsstreit eingehend erörterten Frage, ob § 640 RVO auch dann zur Anwendung kommt, wenn das Haftungsprivileg der §§ 636, 637 RVO „wegen Teilnahme am allgemeinen Verkehr” teilweise aufgehoben ist, wie dies u.a. von Lauterbach (Unfallversicherung, 3. Aufl. § 640 Anm. 24) im Anschluß an Ilgenfritz (NJW 1963, 1048 und BB 1963, 406) und von Dersch (Gesamtkommentar § 640 Anm. 4) unter Hinweis auf die amtliche Begründung zum UVNG (BT-Drucks, III/758) deshalb vertreten wird, weil der Ausschluß des Regresses aus § 640 RVO für den Fall, daß der im allgemeinen Verkehr verursachte Unfall des Arbeiters auf grober Fahrlässigkeit beruht, besonderer Erwähnung in dieser Vorschrift bedurft hätte. Denn im Streitfall wird, wie ausgeführt, das Haftungsprivileg der §§ 636, 637 RVO nicht wegen „Teilnahme am allgemeinen Verkehr” beschränkt; vielmehr greift die Haftungsbefreiung von vorneherein nicht ein, weil die Voraussetzung des § 637 RVO, nämlich Verursachung eines Arbeitsunfalls durch eine betriebliche Tätigkeit, nicht erfüllt ist. Durch die Formulierung in § 640 Abs. 1 Satz 1 RVO, „haben Personen, deren Ersatzpflicht durch § 636 oder § 637 beschränkt ist”, wird nicht nur der Kreis der möglichen Rückgriffsverpflichteten umschrieben, sondern durch Verweisung auf die beiden Vorschriften die Erfüllung deren sämtlicher Tatbestandsmerkmale zur Voraussetzung des Rückgriffs nach § 640 RVO gemacht; daher kann ein Sozialversicherer nicht nach § 640 RVO, sondern nur nach § 1542 RVO gegen den Betriebsangehörigen Regreß nehmen, wenn dieser seinen Arbeitskollegen nicht durch betriebliche Tätigkeit geschädigt hat, so daß er diesem bzw. dessen Sozialversicherer haftet (so auch Wolber BerGen 1965, 488, 489; Lauterbach a.a.O. § 640 Rz. 30 Nr. 3; Seitz, Ersatzansprüche der SVT nach §§ 640 und 1542 RVO, 2. Aufl. S. 220). Die Bemerkungen in der amtl. Begründung zum UVNG, die Verweisung auf die §§ 636, 637 RVO in § 640 RVO betreffe nur den dort umschriebenen Personenkreis ohne Rücksicht darauf, ob im Einzelfall eine solche Haftungsbeschränkung vorliegt, beziehen sich, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang ergibt, nur auf den Fall, daß das nach §§ 636, 637 RVO begründete Haftungsprivileg bei „Teilnahme am allgemeinen Verkehr” dahin aufgehoben ist, daß der grob fahrlässig Handelnde dem Verletzten das ersetzen muß, was dieser vom Sozialversicherer nicht erhält (vgl. BGHZ 63, 313). Daraus kann entgegen der Meinung der Revisionserwiderung nicht gefolgert werden, die Verweisung in § 640 RVO wolle ihrem Sinne nach schlechthin die Personen erfassen, deren Ersatzpflicht durch die §§ 636, 637 RVO beschränkbar ist, § 640 RVO wolle, falls Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen sei, den Regreß auf den in §§ 636, 637 RVO genannten Personenkreis unabhängig davon eröffnen, ob überhaupt der Haftungsausschluß nach § 637 RVO eingreift. Dem steht der klare Wortlaut der Vorschrift entgegen, der besagt, daß die Ersatzpflicht durch die §§ 636, 637 RVO (ganz oder teilweise) beschränkt „ist”; mit der Beschränkung ist also das Haftungsprivileg der genannten Vorschriften gemeint (ebenso Lauterbach a.a.O. § 640 Rz. 6), Gegen einen Arbeitnehmer, der den Arbeitsunfall eines Arbeitskollegen durch eine nichtbetriebliche Tätigkeit verursacht hat, ist der Rückgriff somit nicht nach § 640, sondern nur nach § 1542 RVO zulässig (s. Lauterbach a.a.O. § 640 Rz. 4; Gunkel/Hebmüller, Ersatzansprüche nach § 1542 RVO 3. Aufl. S. I-82/83 und Gunkel DOK 1967, 672 ff.). Es wäre auch kaum zu verstehen, daß ein Arbeiter, der seinem Kollegen deshalb haftet, weil ihm die Freistellung des § 637 RVO nicht zugutekommt, schon allein deshalb, weil er grob fahrlässig gehandelt hatte, dem scharfen Regreß des § 640 RVO ausgesetzt sein sollte, dem SVT also alle Aufwendungen ersetzen müßte und sich nicht auf die Mitschuld des Verletzten berufen dürfte.

III.

Die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit dieses prüfen kann, ob und ggf. in welchem Umfang Ansprüche der Klägerin nach § 1542 RVO begründet sind. Insbesondere wird es dem Vorbringen der Beklagten nachgehen müssen, das auf die übergegangenen Ansprüche anzurechnende Mitverschulden des Getöteten entspreche mindestens dem von ihnen nicht anerkannten Haftungsanteil von 1/3.

 

Unterschriften

Dr. Weber, Dunz, Scheffen, Dr. Steffen, Dr. Deinhardt

 

Fundstellen

Haufe-Index 1372862

NJW 1981, 869

Nachschlagewerk BGH

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