Entscheidungsstichwort (Thema)
schwerer sexueller Mißbrauch eines Kindes
Leitsatz (amtlich)
1. Die Tatbestandsalternative des „Eindringens in den Körper” in § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB ist nicht auf Fälle des Vaginal-, Oral- oder Analverkehrs beschränkt.
2. Zum minder schweren Fall des § 176 a Abs. 3 StGB.
3. Abgesehen von den Fällen des Vaginal-, Oral- oder Analverkehrs bedarf das Tatbestandsmerkmal „besonders erniedrigen” für die Annahme des Regelbeispiels der „Vergewaltigung” in § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB der Prüfung und Darlegung der Einzelumstände der Tat.
Normenkette
StGB 1998 § 176a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 177 Abs. 2 S. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 19. Februar 1999 im Schuldspruch dahin geändert, daß der Angeklagte im Fall II 4 der Urteilsgründe des schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexueller Nötigung und Körperverletzung schuldig ist.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
3. Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten dadurch in der Revisionsinstanz entstandenen notwendigen Auslagen.
Von Rechts wegen
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten „der Körperverletzung, der exhibitionistischen Handlung in Tateinheit mit Beleidigung und des sexuellen Mißbrauchs von Kindern in 3 Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung und Körperverletzung” für schuldig befunden und ihn unter Einbeziehung rechtskräftig erkannter Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer wirksam „auf die fehlerhafte Verurteilung im Fall II 4 des Urteils beschränkt(en)” Revision. Sie erstrebt im Fall II 4 die Verurteilung des Angeklagten wegen (neben §§ 177, 223 StGB) tateinheitlich begangenen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes nach § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Das auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte – vom Generalbundesanwalt vertretene – Rechtsmittel führt zur Änderung des Schuldspruchs, bleibt aber zum Strafausspruch ohne Erfolg.
1. Nach den Feststellungen hielt sich der Angeklagte zum Baden am Strand von Dranske auf. Er schwamm hinter der damals 12jährigen Sara A. hinterher und hielt sie, nachdem er sie erreicht hatte, an den Füßen fest. Sie „versuchte, sich durch Treten zu befreien, weil sie sich schwimmend nicht über Wasser halten konnte. Schließlich geriet sie mit ihrem Kopf unter Wasser, verschluckte sich und glaubte zu ertrinken”. Weiter hat das Landgericht festgestellt: „Währenddessen faßte ihr der Angeklagte an das bedeckte Geschlechtsteil und drückte hierbei einen Finger in die Scheide des Mädchens, was ihr erhebliche Schmerzen bereitete” (UA 9). Das Mädchen vermochte sich dann jedoch „durch Tritte” zu befreien und ans Ufer zu schwimmen, wo sie „das geschluckte Wasser (erbrach)” (UA 9).
Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Landgericht zu Recht die Vornahme einer sexuellen Handlung mittels „Gewalt” und „unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist” (§ 177 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 StGB), als verwirklicht angesehen (zur Konkurrenz beider Tatalternativen BGHSt 44, 228, 231; BGH StV 1999, 208, 209). Mit noch vertretbarer Begründung hat es eine Strafbarkeit des Angeklagten nach § 176 a Abs. 1 Nr. 3 StGB aus subjektiven Gründen verneint und ihn auch nicht wegen – tateinheitlich begangener – gefährlicher (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB), sondern nur wegen „einfacher” Körperverletzung verurteilt. Hiergegen wendet die Beschwerdeführerin auch nichts ein.
2. Mit Erfolg beanstandet die Beschwerdeführerin jedoch, daß das Landgericht das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB verneint und den Angeklagten deshalb nicht wegen schweren sexuellen Mißbrauchs eines Kindes verurteilt hat. Nach dieser Vorschrift wird bestraft, wer mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an ihm vornimmt oder an sich von ihm vornehmen läßt, „die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind”. Das Landgericht hat zwar gesehen, daß der Angeklagte „seinen Finger durch den Badeanzug der Zeugin hindurch in deren Scheide gedrückt” hat. Es ist aber der Auffassung, eine solche Tathandlung erfülle nicht das qualifizierende Merkmal des „Eindringens” im Sinne der genannten Vorschrift (UA 18). Es meint, „dem Gesetzgeber (hätten) hierbei nur solche Mißbrauchstatbestände vor Augen (gestanden), bei denen der Täter nicht in die Scheide, sondern in andere Körperöffnungen, wie Mund oder After, eindringt und das Opfer hierdurch besonders erniedrigt” (UA 19). Der Senat teilt diese Auffassung nicht.
a) Von § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB wird – außer dem Vollzug des Beischlafs – die Vornahme solcher „ähnliche(n)” sexuellen Handlungen erfaßt, „die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind”. Dieser Wortlaut der Vorschrift gibt für eine Einschränkung ihres Anwendungsbereichs, wie sie das Landgericht vertritt, nichts her. Auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt die Auffassung des Landgerichts nicht. Nach der Gesetzesbegründung zum 6. StrRG ist dieses qualifizierende Merkmal dem durch das 33. StrRG in § 177 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 eingeführten Regelbeispiel eines besonders schweren Falls der Vergewaltigung (nunmehr § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB i.d.F. des 6. StrRG) nachgebildet (BTDrucks. 13/8587 S. 31 f.). Hiernach sollte „vor allem das Eindringen des Geschlechtsgliedes in den Körper als orale oder anale Penetration erfaßt” werden (BTDrucks. 13/2463 S. 7 und 13/7324 S. 6; Senatsbeschluß vom 14. September 1999 - 4 StR 381/99 -; Lackner/Kühl StGB 23. Aufl. § 177 Rdn. 11; Tröndle/Fischer StGB 49. Aufl. § 176 a Rdn. 4; Lenckner NJW 1997, 2801, 2802). Mag danach der Gesetzgeber auch in erster Linie an den Anal- und Oralverkehr gedacht haben, so hat er die Anwendung des Tatbestandes neben dem Beischlaf nicht auf diese Arten sexueller Betätigung beschränkt. Dies folgt schon daraus, daß ausdrücklich auch „das Eindringen mit Gegenständen” erfaßt werden sollte, das „eine in gleicher Weise belastende und erniedrigende Verhaltensweise darstellen (kann)” (BTDrucks. 13/2463 S. 7, BTDrucks. 13/7324 S. 6, jeweils zu § 177 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB i.d.F. des 33. Strafrechtsänderungsgesetzes; krit. zur Entstehungsgeschichte Helmken ZRP 1995, 302, 303 f.). Im übrigen übersieht das Landgericht, daß § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB - insoweit anders als das Regelbeispiel des § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB – nicht voraussetzt, daß die mit einem Eindringen in den Körper verbundenen sexuellen Handlungen das Opfer „besonders erniedrigen”. Vielmehr knüpft das Gesetz allein an das „Eindringen in den Körper” an. An der „Beischlafähnlichkeit” solcher sexuellen Handlungen besteht nach der gesetzgeberischen Bewertung – anders als beim Zungenkuß (vgl. dazu Tröndle/Fischer aaO § 176 a Rdn. 4; Helmken aaO; Renzikowski NStZ 1999, 377, 381 zu § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB n.F.) – jedenfalls in den Fällen kein Zweifel, in denen die Tathandlung entweder auf Seiten – wie hier – des Opfers oder des Täters unter Einbeziehung des Geschlechtsteils geschieht. Aus diesem Grund kommt es im vorliegenden Fall auch nicht darauf an, daß sich nicht hat feststellen lassen, ob der Angeklagte bei der Tatbegehung „den Zwickel des Badeanzuges zur Seite schob, um mit dem bloßen Finger in die Scheide zu fassen” (UA 9), und das Landgericht deshalb davon ausgegangen ist, daß „der Angeklagte ihren Badeanzug mit in die Scheide gedrückt” hat (UA 13). Dies ändert an dem „Eindringen in den Körper” nichts.
Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend. § 265 StPO steht dem nicht entgegen, weil schon die unverändert zugelassene Anklage dem Angeklagten insoweit schweren sexuellen Mißbrauch eines Kindes nach § 176 a Abs.1 Nr. 1 StGB zur Last legte.
b) Dagegen kann der Schuldspruch bestehen bleiben, soweit das Landgericht den Angeklagten wegen tateinheitlich begangener „sexueller Nötigung” (§ 177 Abs. 1 StGB) verurteilt hat. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Generalbundesanwalts, daß stattdessen eine Verurteilung wegen „Vergewaltigung” hätte erfolgen müssen. Die erzwungene sexuelle Handlung, die „mit einem Eindringen in den Körper verbunden” ist, ist zwar auch dann, wenn sie keinen Beischlaf darstellt, nicht „sexuelle Nötigung”, sondern als „Vergewaltigung” im Schuldspruch zu bezeichnen (BGH, Urteil vom 23. März 1999 - 1 StR 25/99). Dies gilt aber nur, wenn – anders als beim Tatbestand des § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB (s.o. 2. a) – die dem Beischlaf „ähnliche” sexuelle Handlung das Opfer im Sinne der weiteren Voraussetzung des § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB „besonders erniedrigt”. Die dabei zu berücksichtigenden Umstände des Einzelfalles rechtfertigen hier die Annahme besonderer Erniedrigung des Mädchens im Ergebnis nicht. Deshalb erfüllt das Einführen des Fingers in die Scheide des Mädchens auch nicht das Regelbeispiel des besonders schweren Falles des § 177 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB:
Dem tatbestandseinschränkenden Merkmal der „besonderen Erniedrigung” kommt in Fällen des Oral- und Analverkehrs regelmäßig keine eigenständige Bedeutung zu, weil sich hierbei der erniedrigende Charakter der sexuellen Handlung im Regelfall von selbst versteht (vgl. Tröndle/Fischer aaO § 177 Rdn. 20). Ansonsten bedarf es aber grundsätzlich jeweils der positiven Feststellung der Umstände des Einzelfalls, die in wertender Betrachtung die Annahme der „besonderen Erniedrigung” des Tatopfers stützen. Zwar können hier das junge Alter der Geschädigten, die Tatbegehung beim Baden am öffentlichen Badestrand und die durch den Griff in die Scheide verursachten „erhebliche(n) Schmerzen” (UA 9) für einen erniedrigenden Charakter der sexuellen Handlung sprechen (so das LG Augsburg NStZ 1999, 307 f. in einem Fall, in dem der Täter mit seinem Finger vollständig in die Scheide des Opfers eindrang; dazu krit. Renzikowski aaO mit Fußn. 56). Dagegen entfernt sich die „nur wenige Sekunden dauernde Beeinträchtigung”, bei der der Angeklagte seinen Finger „nur ein wenig” in die – zudem vom Badeanzug bedeckte – Scheide „hineindrückte” (UA 23), in ihrem Gewicht und Unrechtsgehalt so weit von den vom Gesetzgeber neben dem Beischlaf als Regelbild besonders schwerer Fälle („insbesondere”) gedachten Fällen oraler und analer Penetration, daß die Wertung der Tat als „besonders” erniedrigend ausscheidet. Deshalb bleibt es insoweit bei dem Schuldspruch wegen sexueller Nötigung.
3. Die Änderung des Schuldspruchs läßt im Ergebnis den Ausspruch über die im Fall II 4 der Urteilsgründe verhängte Einzelstrafe von einem Jahr sechs Monaten Freiheitsstrafe, die zugleich die Einsatzstrafe ist, unberührt; denn die andere rechtliche Bewertung der Tat verändert den Schuldgehalt der Tat nicht und ist im Ergebnis auch auf die Strafrahmenwahl ohne Einfluß.
Das Landgericht hat die Einzelstrafe dem für minder schwere Fälle des § 177 Abs. 1 eröffneten Strafrahmen des § 177 Abs. 5 Halbs. 1 StGB (sechs Monate bis fünf Jahre Freiheitsstrafe) entnommen. Hierbei hat es entscheidend darauf abgestellt, daß die nur kurz dauernde sexuelle Handlung „relativ geringfügig” gewesen sei. Mit der gleichen Begründung hat es auch einen minder schweren Fall des § 176 Abs. 1 Halbs. 2 StGB angenommen. Der Senat schließt aus, daß das Landgericht zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn es die Tat nach § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB beurteilt hätte. Der weite Anwendungsbereich des § 176 a Abs. 1 Nr. 1 StGB mit seinem von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe reichenden Strafrahmen verlangt in besonderem Maße, daß der Tatrichter den Unrechtsgehalt der Tat bereits bei der Strafrahmenwahl berücksichtigt. In Fällen sexueller Handlungen, die zwar – wie hier – mit einem „Eindringen in den Körper” verbunden sind, aber in ihrem Unrechtsgehalt nach Dauer und Intensität des Übergriffs weit hinter dem vom Gesetzgeber gedachten Regelbild der von der Vorschrift erfaßten vaginalen, oralen oder analen Penetration zurückbleiben, wird deshalb die Strafe regelmäßig dem für minder schwere Fälle eröffneten Strafrahmen zu entnehmen sein, um zu einem gerechten Schuldausgleich zu gelangen. Unter Berücksichtigung der von dem Landgericht zur Strafrahmenwahl angestellten Erwägungen ist daher nicht zweifelhaft, daß das Landgericht auf der Grundlage des geänderten Schuldspruchs einen minder schweren Fall des § 176 a Abs. 3 Halbs. 1 StGB bejaht und den Angeklagten zu derselben Einzelstrafe verurteilt hätte; denn der hier anwendbare Strafrahmen für minder schwere Fälle des § 176 a Abs. 1 StGB reicht von drei Monaten bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe (§ 176 a Abs. 3 Halbs. 1 StGB) und liegt damit im Mindestmaß noch um drei Monate niedriger als der vom Landgericht angewandte Strafrahmen des § 177 Abs. 5 StGB. Somit hat es bei der verhängten Einzelstrafe sein Bewenden.
Angesichts des geringen Teilerfolgs besteht für eine teilweise Kostenüberbürdung kein Anlaß.
Unterschriften
Meyer-Goßner, Maatz, Athing, Solin-Stojanovi[cacute], Ernemann
Fundstellen
Haufe-Index 540806 |
NJW 2000, 672 |
BGHR |
NStZ 2000, 367 |
StV 2000, 198 |