Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung der Vorsteuerabzugsberechtigung bei der Schadensermittlung im Dieselskandal
Leitsatz (amtlich)
Auf den Differenzschaden eines vorsteuerabzugsberechtigten Käufers ist die beim Fahrzeugkauf angefallene Umsatzsteuer im Wege der Vorteilsausgleichung anzurechnen, wenn und soweit sie nebst anderen anzurechnenden Vermögensvorteilen den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 80, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
Leitsatz (redaktionell)
Die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV sind Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist.
Normenkette
BGB § 823 Abs. 2; UStG § 15; EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1; BGB § 249
Verfahrensgang
Thüringer OLG (Entscheidung vom 19.07.2022; Aktenzeichen 1 U 361/22) |
LG Meiningen (Entscheidung vom 15.03.2022; Aktenzeichen 3 O 681/21) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts in Jena vom 19. Juli 2022 - mit Ausnahme der begehrten Freistellung von Zinsen aus den außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten - aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Die Klägerin kaufte am 12. Juli 2016 einen von der Beklagten hergestellten Mercedes-Benz Vito Tourer, der mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist. In dem Fahrzeug wird die Abgasrückführung unter Einsatz eines sogenannten "Thermofensters" temperaturabhängig gesteuert.
Rz. 3
Die Klägerin hat die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung nebst Verzugszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, den Ersatz von Finanzierungskosten nebst Verzugszinsen, die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten sowie die Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten nebst Prozesszinsen begehrt.
Rz. 4
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Berufungsanträge mit Ausnahme der begehrten Freistellung von Zinsen weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 5
Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
I.
Rz. 6
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 7
Die Klägerin habe keinen Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB. Sie habe ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten wegen einer - unterstellt - unzulässigen Abschalteinrichtung nicht hinreichend dargelegt. Ein deliktischer Anspruch folge auch nicht im Hinblick auf die Richtlinie 2007/46/EG und die Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Das dadurch gegebenenfalls geschützte Interesse des Erwerbers, dass das Fahrzeug zur Nutzung im Straßenverkehr zugelassen und diese Nutzung nicht aufgrund mangelnder Übereinstimmung mit dem genehmigten Typ oder den für diesen Typ geltenden Rechtsvorschriften untersagt werde, sei nicht tangiert, weil das Fahrzeug der Klägerin zugelassen und die Betriebserlaubnis nicht wieder entzogen worden sei.
II.
Rz. 8
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
Rz. 9
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
Rz. 10
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit den die Richtlinie 2007/46/EG umsetzenden Vorschriften der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
Rz. 11
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Rz. 12
Der angefochtene Beschluss ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil er sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Insbesondere kann ein Schadenseintritt nicht deshalb verneint werden, weil das Kraftfahrt-Bundesamt bislang von betriebsbeschränkenden Maßnahmen abgesehen hat (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 41 f.). Der Senat kann im Umfang der Aufhebung nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Rz. 13
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben. Dabei wird es zu beachten haben, dass die beim Fahrzeugkauf angefallene Umsatzsteuer auf den Differenzschaden der vorsteuerabzugsberechtigten Klägerin im Wege der Vorteilsausgleichung anzurechnen ist, wenn und soweit sie nebst anderen anzurechnenden Vermögensvorteilen den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigt (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 80; Urteil vom 24. Juli 2023 - VIa ZR 752/22, NJW 2023, 3010 Rn. 19; zu § 826 BGB vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juli 2022 - VIa ZR 622/21, HFR 2022, 1179 Rn. 9).
Möhring |
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Krüger |
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Fundstellen
Haufe-Index 16178141 |
NJW 2024, 496 |
WM 2024, 279 |
JZ 2024, 114 |