Verfahrensgang
KG Berlin (Entscheidung vom 23.05.2022; Aktenzeichen 20 U 109/21) |
LG Berlin (Entscheidung vom 05.07.2021; Aktenzeichen 7 O 208/20) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des 20. Zivilsenats des Kammergerichts vom 23. Mai 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die gegen die Beklagte zu 2 gerichteten Berufungsanträge zu 4 und zu 5 zurückgewiesen worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger nimmt die Beklagte zu 2 (im Folgenden Beklagte) wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Der Kläger kaufte am 21. März 2018 von der am Revisionsverfahren nicht beteiligten Beklagten zu 1 einen von der Beklagten hergestellten VW Tiguan Highline 4Motion 2,0 l TDI, der mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 288 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgerüstet ist. Das Fahrzeug verfügt über ein sogenanntes "Thermofenster", das die Abgasrückführung bei bestimmten Außentemperaturen reduziert. Die Bedatung des Thermofensters steht zwischen den Parteien im Streit.
Rz. 3
Der Kläger hat die Beklagte auf Feststellung ihrer Pflicht zum Ersatz aus der Manipulation des Fahrzeugs resultierender Schäden (Antrag zu 2) und auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Antrag zu 4) in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit seiner dagegen gerichteten Berufung hat der Kläger die Klageanträge weiterverfolgt und von der Beklagten unter Teilbezifferung des geltend gemachten Schadens außerdem die Erstattung des Kaufpreises nebst Verzugszinsen abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs verlangt (Antrag zu 5). Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers nach Erteilung eines Hinweises durch einstimmigen Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Mit seiner vom Senat insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger die Berufungsanträge zu 4 und zu 5 weiter.
Entscheidungsgründe
Rz. 4
Die Revision des Klägers hat Erfolg.
A.
Rz. 5
Im Revisionsverfahren ist neben dem Berufungsantrag zu 4 auch über den erstmals in der Berufungsinstanz gestellten Berufungsantrag zu 5 zu befinden.
Rz. 6
Eine zweitinstanzliche Klageerweiterung verliert allerdings entsprechend § 524 Abs. 4 ZPO ihre Wirkung, wenn die den erstinstanzlichen Streitgegenstand betreffende Berufung durch einen einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen wird (BGH, Urteil vom 3. November 2016 - III ZR 84/15, NJW-RR 2017, 56 Rn. 14; Urteil vom 7. Juli 2022 - IX ZR 144/20, NJW-RR 2022, 1433 Rn. 13; Beschluss vom 10. Juni 2015 - IV ZR 366/14, juris; Beschluss vom 9. Juli 2019 - VII ZR 86/17, NJW-RR 2019, 1150 Rn. 6; Beschluss vom 18. April 2023 - VIII ZR 421/21, juris Rn. 13). Das gilt auch für den Fall, dass die Erweiterung des Klageantrags - wie die vorliegende (Teil-)Änderung des Feststellungsantrags in einen Leistungsantrag - nach § 525 Satz 1, § 264 Nr. 2 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen und deshalb ohne weiteres zulässig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 10. März 2016 - VII ZR 47/13, NJW 2016, 2508 Rn. 8 und 11; Beschluss vom 2. Mai 2017 - VI ZR 85/16, NJW 2017, 2623 Rn. 8; Beschluss vom 4. Juni 2019 - XI ZR 331/17, ZIP 2019, 1855 Rn. 8 und 15 f.; Bub, NJW 2016, 2509).
Rz. 7
Das Berufungsgericht hat jedoch eine Sachentscheidung auch über den vom Kläger erstmals im Berufungsverfahren gegen die Beklagte gerichteten Leistungsantrag zu 5 auf Zahlung sogenannten "großen" Schadensersatzes getroffen. Insoweit hat es "eine auf Erstattung des Kaufpreises gerichtete Haftung der Beklagten" abgelehnt. Dass es sich hierzu nicht des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO hätte bedienen dürfen, sondern einen Termin zur mündlichen Verhandlung hätte anberaumen und die gegen die Beklagte gerichtete Berufung des Klägers durch Urteil hätte zurückweisen müssen, ändert nichts daran, dass der Kläger durch die erfolgte Zurückweisung des Berufungsantrags zu 5 beschwert ist.
B.
Rz. 8
Die Revision ist begründet. Der angefochtene Beschluss hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
I.
Rz. 9
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 10
Der Kläger könne eine auf Erstattung des Kaufpreises gerichtete Haftung der Beklagten nicht aus § 826 BGB herleiten. Er habe keinen greifbaren Anhaltspunkt für die Verwendung einer Prüfstandserkennungssoftware aufgezeigt. Es könne dahinstehen, ob das von ihm beschriebene Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung darstelle. Dessen Verwendung allein rechtfertige nicht den Vorwurf besonderer Verwerflichkeit. Eine Haftung der Beklagten ergebe sich auch nicht aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV. Die Bestimmungen zur EG-Typgenehmigung verfolgten nicht den Schutzzweck, den Käufer eines Fahrzeugs von der Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit abzuhalten.
II.
Rz. 11
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
Rz. 12
1. Allerdings begegnet es keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
Rz. 13
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen des Thermofensters (zu dem von der Revision angeführten On-Board-Diagnose-System vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 - VIII ZR 190/19, BGHZ 232, 94 Rn. 85 ff.) abgelehnt hat. Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32, zur Veröffentlichung bestimmt in BGHZ).
Rz. 14
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung großen Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Rz. 15
Der angefochtene Beschluss ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil er sich insoweit nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Insbesondere hat das Berufungsgericht keine Feststellungen zu der Funktionsweise des Thermofensters getroffen, die die Annahme des Senats rechtfertigten, es handele es sich - wie die Revisionserwiderung geltend macht - nicht um eine Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007. Der Senat kann im Umfang der Aufhebung nicht in der Sache selbst entscheiden, weil diese nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Rz. 16
Das Berufungsgericht wird dem Kläger zu ermöglichen haben, einen Differenzschaden darzulegen und einen entsprechenden Zahlungsantrag in das Berufungsverfahren einzuführen. Es wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu der - bislang offen gelassenen - Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben. Dabei wird es über einen vom Kläger geltend gemachten Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens im Wege eines Urteils befinden müssen (zum Verfahren nach zweitinstanzlicher Antragsänderung auf gerichtlichen Hinweis vgl. BGH, Beschluss vom 10. März 2016 - VII ZR 47/13, NJW 2016, 2508 Rn. 11; Beschluss vom 2. Mai 2017 - VI ZR 85/16, NJW 2017, 2623 Rn. 11; Beschluss vom 4. Juni 2019 - XI ZR 331/17, ZIP 2019, 1855 Rn. 16; Beschluss vom 6. Juni 2023 - XI ZR 199/22, juris Rn. 14).
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Fundstellen
Dokument-Index HI16187474 |