Entscheidungsstichwort (Thema)
Parteiidentität bei Klagen aus Verkehrsunfall in EU-Staaten. Aussetzung des Rechtsstreits
Leitsatz (amtlich)
a) Die für die Aussetzung gem. Art. 27 EuGVVO erforderliche Parteiidentität ist zu verneinen, wenn der in Deutschland ansässige Beteiligte eines Verkehrsunfalls seine unfallbedingten Schadensersatzansprüche gegen den ausländischen Haftpflichtversicherer bei seinem deutschen Wohnsitzgericht einklagt, nachdem zuvor der ausländische Unfallbeteiligte wegen seiner Ansprüche Klage gegen ihn bei den Gerichten des anderen EU-Staats erhoben hat.
b) Zu den Kriterien, nach denen über die Aussetzung eines Rechtsstreits gem. Art. 28 Abs. 1 EuGVVO zu entscheiden ist.
Normenkette
Brüssel I-VO Art. 27; Brüssel I-VO § 28
Verfahrensgang
OLG Karlsruhe in Freiburg (Urteil vom 28.12.2011; Aktenzeichen 13 U 188/10) |
LG Konstanz (Entscheidung vom 27.08.2010; Aktenzeichen 2 O 21/09 D) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten zu 1) wird das Urteil des 13. Zivilsenats des OLG Karlsruhe vom 28.12.2011 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zu ihrem Nachteil entschieden worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der in Deutschland wohnhafte Kläger nimmt die Beklagte zu 1), den in Belgien ansässigen Haftpflichtversicherer des Unfallgegners (im Folgenden: Beklagte), wegen eines Verkehrsunfalls auf Schadensersatz in Anspruch. Der Unfall ereignete sich am 4.7.2008 in Belgien. Die Parteien streiten in erster Linie darüber, ob der vorliegende beim LG Konstanz anhängig gemachte Rechtsstreit im Hinblick auf ein Verfahren vor belgischen Gerichten hätte ausgesetzt werden müssen. In jenem Verfahren verlangt der Unfallgegner des Klägers, der frühere Beklagte zu 2), seinerseits Schadensersatz vom Kläger.
Rz. 2
Das LG hat die Beklagte zur Zahlung von 5.348,50 EUR nebst Zinsen an den Kläger verurteilt. Das OLG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision. Sie erstrebt die Abweisung der Klage. Hinsichtlich des Beklagten zu 2) ist die Klage in den Vorinstanzen durch Prozessurteil rechtskräftig abgewiesen worden.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 3
Das Berufungsgericht führt aus: Die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Rechtsstreits nach Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. EG 2001, L 12, S. 1, im Folgenden: EuGVVO) lägen nicht vor. Danach müsse die Klage durch dieselben Parteien erhoben werden. Dies sei hier nicht der Fall. Denn die Beklagte sei an dem Verfahren in Belgien nicht beteiligt. Das Urteil im dortigen Verfahren sei in seinem zivilrechtlichen Teil lediglich zwischen dem Kläger und dem Unfallgegner ergangen. Soweit die Berufung geltend mache, der Unfallgegner und die Beklagte als sein Versicherer seien als ein- und dieselbe Partei i.S.d. Art. 27 EuGVVO zu betrachten, könne dem nicht gefolgt werden. Nach dem von der Berufung angeführten Urteil des EuGH vom 19.5.1998 seien ein Versicherungsnehmer und ein Versicherer ausnahmsweise dann als eine Partei i.S.v. Art. 21 EuGVÜ - mit dem heutigen Art. 27 EuGVVO wortgleich - anzusehen, wenn die Interessen des Versicherers und seines Versicherungsnehmers hinsichtlich des Gegenstands zweier Rechtsstreitigkeiten soweit übereinstimmten, dass ein Urteil, das gegen einen ergehe, Rechtskraft gegenüber dem anderen entfalten würde. Ein solcher Fall liege nicht vor. Zwar seien die Interessen der Beklagten und ihres Versicherungsnehmers insoweit gleichgerichtet, als sie sich gegen die Abwehr der geltend gemachten Schadensersatzansprüche des Klägers richteten. Die Beklagte habe jedoch mit den von ihrem Versicherungsnehmer gegen den Kläger geltend gemachten Schadensersatzansprüchen nichts zu tun und deshalb auch kein direktes Interesse an dieser Entscheidung. Es sei auch nicht ersichtlich, inwieweit ein von dem Versicherungsnehmer gegen den Kläger erwirktes Urteil eine Rechtskraftwirkung gegenüber der Beklagten im vorliegenden Rechtsstreit entfalten könne.
Rz. 4
Das Berufungsgericht sehe auch davon ab, das Verfahren gem. Art. 28 Abs. 1 EuGVVO bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts in Belgien auszusetzen. Zwar bestehe ein Zusammenhang der Klagen in beiden Verfahren nach Art. 28 Abs. 3 EuGVVO. Bei der Ausübung des dem Berufungsgericht zustehenden Ermessens seien jedoch insb. die Parteiinteressen des Klägers zu berücksichtigen. Nach der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme stehe insb. aufgrund der Aussagen zweier neutraler Zeugen fest, dass der Unfallgegner des Klägers den Unfall schuldhaft verursacht habe. Die vom LG vorgenommene Beweiswürdigung sei nicht zu beanstanden. Da das erstinstanzliche belgische Gericht offensichtlich keine Zeugenvernehmung durchgeführt habe und nicht beurteilt werden könne, ob dies ggf. von dem Berufungsgericht nachgeholt worden sei, führe die Ermessensentscheidung dazu, eine Aussetzung des Verfahrens nicht vorzunehmen, sondern das erstinstanzliche Urteil zu bestätigen. Dafür spreche auch, dass auf diese Weise dem Kläger der ihm nach Art. 11 Abs. 2 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO aus sozialen Schutzgründen eingeräumte Gerichtsstand an seinem Wohnsitz erhalten bleibe.
II.
Rz. 5
Diese Erwägungen halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rz. 6
1. Die Revision ist insgesamt statthaft (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Sofern das Berufungsgericht eine Beschränkung der Revisionszulassung für die Beklagte beabsichtigt haben sollte, wäre diese unzulässig, so dass die Revision unbeschränkt zugelassen ist (vgl. BGH, Urt. v. 12.12.2006 - VI ZR 4/06, VersR 2007, 811 Rz. 4 m.w.N., insoweit in BGHZ 170, 180 nicht abgedruckt).
Rz. 7
2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts, den Rechtsstreit nicht nach Art. 27, 28 EuGVVO auszusetzen, kann mit der Revision angegriffen werden. Das Verfahren der Aussetzung nach Art. 27, 28 EuGVVO bestimmt sich nach nationalem Recht (vgl. Kropholler/von Hein, 9. Aufl., EuZPR, Art. 27 Rz. 24; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR, Bearb. 2011, Art. 28 EuGVVO Rz. 7; s. auch BGH, Urt. v. 6.2.2002 - VIII ZR 106/01, NJW 2002, 2795, 2797). Nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO in der seit dem 1.1.2002 geltenden Fassung kann das OLG in seinen Beschlüssen die Rechtsbeschwerde zulassen. Wenn ein gesonderter Beschluss über die Ablehnung der Aussetzung anfechtbar sein kann, muss auch eine Überprüfung der in einem Urteil ausgesprochenen Ablehnung im Rahmen der Revision möglich sein (vgl. Anders in Prütting/Gehrlein, ZPO, 4. Aufl., § 252 Rz. 3; Gehrlein in MünchKomm/ZPO, 4. Aufl., § 252 Rz. 8; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 33. Aufl., § 252 Rz. 1; s. auch BAG, NJW 1968, 1493 f.; Musielak/Ball, ZPO, 9. Aufl., § 557 Rz. 9; a.A. Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 252 Rz. 1c; Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 71. Aufl., § 252 Rz. 5; Hk-ZPO/Wöstmann, 5. Aufl., § 252 Rz. 2).
Rz. 8
3. Die Revision wendet sich nicht gegen die zutreffende Annahme der Vorinstanzen, dass der Geschädigte, der seinen Wohnsitz in einem Mitgliedstaat hat, nach Art. 11 Abs. 2, Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO vor dem Gericht seines Wohnsitzes eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates hat (vgl. BGH, Urt. v. 6.5.2008 - VI ZR 200/05, BGHZ 176, 276 Rz. 4 ff.; v. 23.10.2012 - VI ZR 260/11, VersR 2013, 73 Rz. 20; EuGH, Urt. v. 13.12.2007 - Rs. C-463/06, VersR 2008, 111 Rz. 21 ff. - Odenbreit).
Rz. 9
4. Die Revision beanstandet ohne Erfolg, dass das Berufungsgericht eine Aussetzung des Rechtsstreits nach Art. 27 EuGVVO abgelehnt hat.
Rz. 10
a) Art. 27 EuGVVO regelt, dass dann, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht werden, das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aussetzt, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht (Abs. 1), und dass, sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig erklärt. Die Klage ist im letztgenannten Fall als unzulässig abzuweisen (vgl. BGH, Urt. v. 9.10.1985 - IVb ZR 36/84, NJW 1986, 662; OLG Köln, VersR 2012, 1058 f.; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 25; Wagner in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 60 f.).
Rz. 11
Art. 27 EuGVVO ist den Prozessvoraussetzungen und damit der Zulässigkeit der Klage zuzuordnen. Die Vorschrift normiert ebenso wie das Prozesshindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit gem. § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO eine negative Prozessvoraussetzung (vgl. zu Art. 21 EuGVÜ BGH, Urt. v. 9.10.1985 - IVb ZR 36/84, NJW 1986, 662; v. 20.11.2003 - I ZR 294/02, BGHZ 157, 66, 68 zu Art. 31 Abs. 2 CMR; OLG Stuttgart OLGReport Stuttgart 2001, 288, 289). Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO, auch EuGVO oder Brüssel I-VO genannt, in Kraft getreten am 1.3.2002) ersetzt in den Grenzen ihres zeitlichen, räumlichen und sachlichen Anwendungsbereichs das Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27.9.1968 (EuGVÜ, BGBl. II 1972, 774, vgl. Rauscher/Staudinger, EuZPR/EuIPR, Bearb. 2011, Einl. Brüssel I-VO Rz. 1 f.). Sie ist im Streitfall nach Art. 1 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO anzuwenden. Das vor belgischen Gerichten anhängige Verfahren stellt ebenso wie das vorliegende Verfahren eine Zivilsache i.S.d. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 EuGVVO dar. Dem steht nicht entgegen, dass es sich bei dem dortigen Verfahren um ein Adhäsionsverfahren handelt (vgl. auch Art. 5 Nr. 4 EuGVVO).
Rz. 12
Die Zivilklage auf Ersatz des Schadens, der einem Einzelnen durch eine strafbare Handlung entstanden ist, hat zivilrechtlichen Charakter, auch wenn sie in einem Strafverfahren zu diesem hinzutritt (vgl. EuGH, Urt. v. 21.4.1993 - Rs. C-172/91, NJW 1993, 2091 Rz. 18 ff. - Sonntag; vom 28.3.2000 - C-7/98, NJW 2000, 1853 Rz. 30 - Krombach; BGH, Beschl. v. 16.9.1993 - IX ZB 82/90, NJW 1993, 3269, 3270, insoweit in BGHZ 123, 268 nicht abgedruckt). Ist das Erstverfahren ein Adhäsionsverfahren, so ist das Gericht im Zweitverfahren bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 27 EuGVVO zu dessen Beachtung verpflichtet wie auch umgekehrt im Adhäsionsverfahren prioritäre Verfahren in anderen Mitgliedstaaten zu beachten sind (vgl. Försterling in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 27 EuGVVO Rz. 17 [Stand: Januar 2005]; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 12; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR, Bearb. 2011, Art. 27 Brüssel I-VO Rz. 12; zu den Fällen eines absoluten Vorrangs des Strafverfahrens Schlosser, EuZPR, 3. Aufl., Art. 27 Rz. 8).
Rz. 13
b) Für das Revisionsverfahren ist davon auszugehen, dass die deutschen Gerichte später angerufen wurden als die belgischen Gerichte. Die Vorinstanzen haben dazu keine Feststellungen getroffen. Die frühere Anrufung der belgischen Gerichte ist daher zugunsten der Revision zu unterstellen (vgl. zum Zeitpunkt der Anrufung Art. 30 EuGVVO).
Rz. 14
c) Das Berufungsgericht hat die Voraussetzungen des Art. 27 EuGVVO rechtsfehlerfrei verneint.
Rz. 15
aa) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind die in Art. 27 EuGVVO verwendeten Begriffe autonom und unter Berücksichtigung der Systematik und Zielsetzungen der Verordnung auszulegen (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.1987 - Rs. C-144/86, NJW 1989, 665 Rz. 6 ff. - Gubisch; vom 6.12.1994 - Rs. C-406/92, ZIP 1995, 943 Rz. 30, 47 - Tatry; vom 19.5.1998 - Rs. C-351/96, VersR 1999, 594 Rz. 16 - Drouot; BGH, Urt. v. 11.12.1996 - VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201, 211; allgemein für die EuGVVO EuGH, Urt. v. 16.7.2009 - Rs. C-189/08, NJW 2009, 3501 Rz. 17 m.w.N. - Zuid Chemie; vom 25.10.2011 - Rs. C-509/09 und C-161/10, NJW 2012, 137 Rz. 38 - eDate Advertising; vom 25.10.2012 - Rs. C-133/11, GRUR 2013, 98 Rz. 30 - Folien Fischer; s. auch BGH, Urt. v. 20.12.2011 - VI ZR 14/11, WM 2012, 852 Rz. 17; vom 8.5.2012 - VI ZR 217/08, VersR 2012, 994 Rz. 13).
Rz. 16
Art. 27 EuGVVO gehört zusammen mit dem den Sachzusammenhang betreffenden Art. 28 EuGVVO zum 9. Abschnitt des Kapitels II der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (EuGVVO). Dieser Abschnitt soll im Interesse einer geordneten Rechtspflege in der Union Parallelverfahren vor Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten und daraus möglicherweise resultierende gegensätzliche Entscheidungen verhindern. Die Regelungen sollen, soweit wie möglich, von vornherein eine Situation ausschließen, wie sie in Art. 34 Nr. 3 EuGVVO geregelt ist, nämlich die Nichtanerkennung einer Entscheidung wegen Unvereinbarkeit mit einer Entscheidung, die zwischen denselben Parteien in dem Mitgliedstaat, in dem die Anerkennung geltend gemacht wird, ergangen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.1987 - Rs. C-144/86, NJW 1989, 665 Rz. 8 - Gubisch; vom 27.6.1991 - Rs. C-351/89, NJW 1992, 3221 Rz. 15 ff. - Overseas Union Insurance; vom 6.12.1994 - Rs. C-406/92, ZIP 1995, 943 Rz. 32 - Tatry; vom 19.5.1998 - Rs. C-351/96, VersR 1999, 594 Rz. 17 - Drouot zu Art. 21 EuGVÜ; vom 9.12.2003 - Rs. C-116/02, RIW 2004, 289 Rz. 41 - Gasser; vom 14.10.2004 - Rs. C-39/02, Slg. 2004, I-9686 Rz. 31 - Mærsk; vom 9.11.2010 - Rs. C-296/10, NJW 2011, 363 Rz. 64 - Purrucker; BGH, Urt. v. 11.12.1996 - VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201, 210; v. 6.2.2002 - VIII ZR 106/01, NJW 2002, 2795 f.; v. 24.3.2011 - I ZR 211/08, GRUR 2011, 1112 Rz. 21).
Rz. 17
bb) Zur Erreichung dieser Ziele ist Art. 27 EuGVVO weit auszulegen (vgl. EuGH, Urt. v. 14.10.2004 - Rs. C-39/02, Slg. 2004, I-9686 Rz. 32 m.w.N. - Mærsk; BGH, Urt. v. 8.2.1995 - VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758, 1759; v. 11.12.1996 - VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201, 210; v. 24.3.2011 - I ZR 211/08, GRUR 2011, 1112 Rz. 21). Angesichts seines Wortlauts und des dargestellten Zwecks verlangt er als Voraussetzung für die Verpflichtung des später angerufenen Gerichts, sich für unzuständig zu erklären, dass die Parteien in beiden Verfahren identisch sind (vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.1994 - Rs. C-406/92, ZIP 1995, 943 Rz. 33 - Tatry; vom 19.5.1998 - Rs. C-351/96, VersR 1999, 594 Rz. 18 - Drouot zu Art. 21 EuGVÜ; s. auch BGH, Urt. v. 9.10.1985 - IVb ZR 36/84, NJW 1986, 662, 663). Die Identität der Parteien ist in Art. 27 Abs. 1 EuGVVO unabhängig von ihrer jeweiligen Stellung in den beiden Verfahren zu verstehen, so dass der Kläger des ersten Verfahrens Beklagter des zweiten Verfahrens sein kann (vgl. EuGH, Urt. v. 6.12.1994 - Rs. C-406/92, ZIP 1995, 943 Rz. 31 - Tatry; BGH, Urt. v. 8.2.1995 - VIII ZR 14/94, NJW 1995, 1758, 1759; Gottwald in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 13).
Rz. 18
cc) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann Parteiidentität auch vorliegen, wenn es sich um unterschiedliche Personen handelt, deren Interessen hinsichtlich des Gegenstands zweier Rechtsstreitigkeiten identisch und voneinander untrennbar sind. So können die Interessen eines Versicherers und seines Versicherungsnehmers hinsichtlich des Gegenstands zweier Rechtsstreitigkeiten so weit übereinstimmen, dass ein Urteil, das gegen den einen ergeht, Rechtskraft gegenüber dem anderen entfalten würde. Dies wäre insb. dann der Fall, wenn statt des Versicherungsnehmers der Versicherer kraft übergegangenen Rechts klagt oder verklagt wird, ohne dass der Versicherungsnehmer in der Lage wäre, auf den Ablauf des Verfahrens Einfluss zu nehmen. In einem solchen Fall sind Versicherer und Versicherungsnehmer für die Anwendung von Art. 27 EuGVVO als ein und dieselbe Partei anzusehen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.5.1998 - Rs. C-351/96, VersR 1999, 594 Rz. 19, 23, 25 - Drouot zu Art. 21 EuGVÜ; OLG Düsseldorf, GRUR-Int. 2000, 776, 779; Urt. v. 26.4.2012 - 2 U 18/12, juris Rz. 30; OLG Köln OLGReport Köln 2004, 82, 85; OLG Karlsruhe, ZUM 2008, 516, 517 f.; LG Düsseldorf, GRUR-RR 2009, 402, 404; LAG Rheinland-Pfalz, IPRspr. 2008 Nr. 160, 513, 517; OGH, GRUR-Int. 2007, 433, 435; Corte di Cassazione, VersRAI 2009, 45, 46; kritisch Zöller/Geimer, ZPO, 29. Aufl., Art. 27 EuGVVO Rz. 8a f.; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR, Bearb. 2011, Art. 27 Rz. 6 ff.; s. auch Weller in Hess/Pfeiffer/Schlosser, The Brussels I Regulation 44/2001, Application and Enforcement in the EU, 2008, Rz. 354, 367 f.). Die Anwendung von Art. 27 EuGVVO darf dagegen nicht dazu führen, dass dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer, falls ihre Interessen voneinander abweichen, die Möglichkeit genommen wird, ihre jeweiligen Interessen gegenüber den anderen betroffenen Parteien gerichtlich geltend zu machen (vgl. EuGH, Urt. v. 19.5.1998 - Rs. C-351/96, a.a.O., Rz. 20 - Drouot zu Art. 21 EuGVÜ).
Rz. 19
dd) Nach diesen Grundsätzen geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, dass im Streitfall keine Parteiidentität besteht.
Rz. 20
Der vorliegende Fall liegt anders als der vom Gerichtshof mit Urteil vom 19.5.1998 (C-351/96, a.a.O.) entschiedene. Dort betrafen beide Klagen die gleiche Pflicht zur Leistung eines Beitrags zu Havereischäden, in dem einen Fall in Form einer Leistungsklage, in dem anderen Fall in Form einer negativen Feststellungsklage.
Rz. 21
Vorliegend sind hingegen in den beiden Verfahren die unterschiedlichen Schäden jedes an dem Verkehrsunfall Beteiligten gegen den jeweils anderen eingeklagt. Mit den Ansprüchen des (früheren) Beklagten zu 2) gegen den Kläger, die Gegenstand des in Belgien geführten Verfahrens sind, hat die Beklagte indes nichts zu tun. Ihre mit dem Unfallereignis zusammen hängenden Interessen beziehen sich ausschließlich auf die Ansprüche, die dem Kläger nach seiner Ansicht gegen den Beklagten zu 2) zustehen und für die die Beklagte eintrittspflichtig ist. Insoweit sind die Interessen beider Beklagten in gleicher Weise darauf gerichtet, die vom Kläger geltend gemachten Ansprüche abzuwehren. Durch das in Belgien gegen den Kläger geführte Verfahren zur Geltendmachung des Schadens des Beklagten zu 2) ist die Beklagte dagegen in keiner Weise betroffen und sie kann darauf auch keinen Einfluss nehmen. Die Revision zeigt in eine andere Richtung weisende Umstände nicht auf. Insoweit gibt es weder voneinander abweichende noch gar identische und untrennbar miteinander verbundene Interessen. Bezogen auf die Ansprüche des Beklagten zu 2) gegen den Kläger kann von einer Parteiidentität beider Beklagter mithin nicht die Rede sein. Dass der Kläger und der Beklagte zu 2) ihre jeweiligen Ansprüche aus demselben Unfallereignis herleiten und der Umfang der Haftung sich nach den beiderseitigen Verursachungsbeiträgen richtet, reicht insoweit nicht aus.
Rz. 22
5. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts, den Rechtsstreit nicht nach Art. 28 Abs. 1 EuGVVO auszusetzen.
Rz. 23
a) Nach dieser Vorschrift kann dann, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen, die im Zusammenhang stehen, anhängig sind, jedes später angerufene Gericht das Verfahren aussetzen. Auch dies verfolgt den Zweck, gegensätzliche Entscheidungen zu vermeiden und eine geordnete Rechtspflege in der Union zu sichern (vgl. EuGH, vom 6.12.1994 - Rs. C-406/92, ZIP 1995, 943 Rz. 32 - Tatry zu Art. 22 EuGVÜ; Jenard, Bericht zum EuGVÜ, ABl. EG 1979 C 59 S. 1, 41; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 28 Rz. 1). Eine Aussetzung kann auch noch im Berufungsverfahren erfolgen (vgl. BGH, Urt. v. 6.2.2002 - VIII ZR 106/01, NJW 2002, 2795, 2797). Das Berufungsgericht geht unbeanstandet davon aus, dass im vorliegenden Fall der erforderliche Zusammenhang zwischen den Klagen gegeben ist.
Rz. 24
Die Entscheidung über die Aussetzung nach Art. 28 EuGVVO ist in das Ermessen des Gerichts gestellt. Sie kann daher nur auf Ermessensfehler überprüft werden (vgl. BGH, Beschl. v. 12.12.2005 - II ZB 30/04, NJW-RR 2006, 1289 Rz. 6; OLG München NJW-RR 1995, 779; OLG Frankfurt, NJW-RR 2001, 215). Bei der Ausübung des Ermessens ist vom Zweck des Art. 28 Abs. 1 EuGVVO auszugehen, eine bessere Koordinierung der Rechtsprechungstätigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu verwirklichen und die Inkohärenz von Entscheidungen und den Widerspruch zwischen Entscheidungen zu vermeiden, selbst wenn diese getrennt vollstreckt werden können (vgl. EuGH, vom 6.12.1994 - Rs. C-406/92, ZIP 1995, 943 Rz. 55 - Tatry zu Art. 22 EuGVÜ). Dabei können u.a. folgende Gesichtspunkte eine Rolle spielen: Der Grad des Zusammenhangs beider Verfahren und der Gefahr widersprechender Entscheidungen, die Interessen der Parteien, die Förderung der Prozessökonomie, Stand und Dauer der Verfahren, die Sach- und Beweisnähe der Gerichte und die Zuständigkeit des Erstgerichts (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2009, 401 f.; OLG Karlsruhe OLGReport Karlsruhe 2003, 360 f.; Geimer in Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 28 EuGVVO Rz. 18 ff.; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 28 Rz. 10; Musielak/Stadler, ZPO, 9. Aufl., Art. 28 EuGVVO Rz. 3; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR, Bearb. 2011, Art. 28 Rz. 7; ausführlich Lüpfert, Konnexität im EuGVÜ, 1997, S. 205 ff.).
Rz. 25
b) Eine Ermessensentscheidung nach diesen Kriterien hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Es stellt einseitig auf die Interessen des Klägers ab, ohne die übrigen Abwägungskriterien in den Blick zu nehmen. Dass die Beweiswürdigung des LG nicht zu beanstanden sei, ist für sich genommen kein Gesichtspunkt, der die von der Verordnung angestrebte Vermeidung der Inkohärenz von Entscheidungen und des Widerspruchs zwischen Entscheidungen der nationalen Gerichte angemessen berücksichtigt. Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die in diesem Zusammenhang vom Berufungsgericht getroffene Feststellung, das (erstinstanzlich) belgische Gericht habe keine Zeugenvernehmung durchgeführt, nicht der Aktenlage entspricht.
Rz. 26
Bei dieser Sachlage wird die Ermessensentscheidung des Berufungsgerichts auch nicht von dem verbleibenden Argument getragen, dass dem Kläger auf diese Weise der ihm nach Art. 11 Abs. 2, Art. 9 Abs. 1 Buchst. b EuGVVO aus sozialen Schutzgründen eingeräumte Gerichtsstand an seinem Wohnsitz (vgl. dazu oben 3) erhalten bleibe. Deshalb muss hier nicht erörtert werden, inwieweit eine Abstimmung der Vorschriften zum Wohnsitzgerichtsstand einerseits und zur Verfahrensaussetzung andererseits erforderlich ist.
Rz. 27
6. Das Berufungsurteil ist danach aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Für eine abschließende Entscheidung sind weitere Feststellungen erforderlich. Insbesondere ist zu prüfen, ob das in Belgien anhängige Verfahren inzwischen rechtskräftig abgeschlossen ist. In diesem Fall kommt eine Aussetzung des vorliegenden Rechtsstreits nicht mehr in Betracht.
Fundstellen
Haufe-Index 3666629 |
BGHZ 2013, 180 |
BB 2013, 533 |
DB 2013, 8 |
EBE/BGH 2013 |
ZIP 2013, 848 |
DAR 2013, 312 |
DAR 2013, 322 |
JZ 2013, 294 |
MDR 2013, 869 |
NZV 2013, 336 |
NZV 2013, 4 |
RIW 2013, 387 |
VRS 2013, 248 |
VersR 2014, 476 |
ZfS 2014, 28 |
VRA 2013, 77 |
r+s 2013, 249 |