Leitsatz (amtlich)
›Zum Ausschluß der Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit. Abgrenzung von § 172 Nr. 1 GVG zu § 171 b GVG.‹
Tatbestand
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen homosexueller Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Revision des Angeklagten, der eine Verfahrensrüge erhebt und die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat keinen Erfolg.
1. Die Verfahrensrüge ist unbegründet. Ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO liegt nicht vor.
Die Jugendkammer hat durch Beschluß während der Zeugenvernehmung des Geschädigten die Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit gemäß § 172 Nr. 1 GVG ausgeschlossen. Das ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Allerdings kommt bei der Zeugenvernehmung eines durch eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung Verletzten ein Ausschluß der Öffentlichkeit vornehmlich gemäß § 171 b GVG in Betracht. Durch diese durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 (BGBl I 2496) geschaffene Regelung ist der Schutz von Persönlichkeitsrechten im Vergleich zu gegenläufigen Belangen des Öffentlichkeitsgrundsatzes beträchtlich verstärkt worden (vgl. Odersky in Festschrift für Pfeiffer, 1988, S. 325, 328 ff). Insoweit unterliegt der Ausschluß der Öffentlichkeit maßgeblich auch der Disposition des Betroffenen (vgl. § 171 b Abs. 2 GVG); so ist gegen seinen Widerspruch ein Ausschluß der Öffentlichkeit aus diesem Grunde nicht gestattet (§ 171 b Abs. 1 Satz 2 GVG). Im vorliegenden Fall hätte ein Ausschluß der Öffentlichkeit während der Zeugenvernehmung des Geschädigten zum Schutz seiner Intimsphäre auf der Grundlage des § 171 b GVG nahegelegen. Hierauf hat sich die Jugendkammer indes nicht gestützt. Sie hat nicht - wie regelmäßig erforderlich ist und wie es auch hier nahegelegen hätte - eine Entschließung des zur Zeit der Vernehmung 17jährigen Zeugen herbeigeführt, ob er selbst einen Ausschluß der Öffentlichkeit zur Wahrung seiner Intimsphäre wünsche, ihn gegebenenfalls gar beantrage oder aber ihm widerspreche. Indes ist der von der Jugendkammer herangezogene Ausschließungsgrund der Besorgnis einer Gefährdung der Sittlichkeit gemäß § 172 Nr. 1 GVG, auch wenn - wie in solchen Fällen häufig - zugleich ein Ausschluß der Öffentlichkeit zum Schutz der Intimsphäre nach § 171 b GVG in Betracht kommt, nicht etwa schlechthin ausgeschlossen. Die Ausschließungsgründe stehen - nicht anders als vor Inkrafttreten des Opferschutzgesetzes für das Verhältnis des § 172 Nr. 1 GVG zu § 172 Nr. 2 GVG a.F. galt - mit unterschiedlicher Schutzfunktion selbständig nebeneinander (vgl. BT-Drucks. 10/5305 S. 23/24; 10/6124 S. 17). So gestattet § 172 Nr. 1 GVG den Ausschluß der Öffentlichkeit wegen im Einzelfall gegenüber der Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes überwiegender gegenläufiger Interessen der Allgemeinheit (vgl. Kleinknecht/Meyer StPO 40. Aufl. § 172 GVG Rdn. 1). Seine Anwendung kann sowohl in Fällen in Betracht kommen, in denen ein Ausschluß der Öffentlichkeit auch nach § 171 b GVG möglich wäre, als auch in solchen, in denen jene Norm - etwa wegen eines Widerspruchs des Betroffenen (§ 171 b Abs. 1 Satz 2 GVG) - keine Anwendung finden könnte.
Die Liberalisierung der Anschauungen zur öffentlichen Darstellung sexualbezogener Vorgänge ist auf die Auslegung des Merkmals ›Gefährdung der Sittlichkeit‹ in § 172 Nr. 1 GVG nicht ohne Einfluß geblieben und hat zu einer Einschränkung des Anwendungsbereichs dieses Ausschlußgrundes geführt (vgl. Kissel GVG § 172 Rdn. 31/32; Odersky aaO. S. 332; Kleinknecht/Meyer aaO. § 172 GVG Rdn. 7). Dessen ungeachtet steht dem Tatrichter bei der Wertung, ob die öffentliche Erörterung sexualbezogener Vorgänge nach allgemeiner Anschauung anstößig wäre, ein Beurteilungsspielraum zu (BGH NStZ 1986, 179 m. Anm. Gössel = JR 1986, 215 m.Anm. Böttcher). Maßgeblich hierfür kann - entgegen dem Ansatz der Revision - nicht etwa der spätere Gegenstand der Verurteilung sein; es ist vielmehr auf den bei Ausschluß der Öffentlichkeit zu erwartenden Inhalt des in Frage stehenden Verhandlungsabschnittes abzustellen. Gegenstand der Zeugenvernehmung des Geschädigten waren hier insbesondere die Vornahme massiver homosexueller Handlungen des erwachsenen Angeklagten an dem zur Tatzeit 13jährigen Zeugen, die Frage nach dabei etwa vorgenommener Gewalt sowie anderweitige homosexuelle Kontakte des Zeugen zur damaligen Zeit.
Bei dieser Sachlage ist der Ausschluß der Öffentlichkeit wegen Gefährdung der Sittlichkeit durch den Tatrichter ungeachtet einer nur in seltenen Fällen zulässigen Anwendung dieses Ausschließungsgrundes vom Revisionsgericht hinzunehmen und kann rechtlich nicht beanstandet werden (vgl. auch Nr. 132 Satz 1 RiStBV), zumal ausweislich des Sitzungsprotokolls die Öffentlichkeit erst ›nach Erörterung‹ ausgeschlossen worden ist.
Die Heranziehung des § 172 Nr. 1 GVG anstelle des § 171 b GVG ist auch nicht etwa deshalb rechtlich bedenklich, weil die Öffentlichkeit nicht bereits während der Vernehmung des Angeklagten zum Anklagevorwurf ausgeschlossen worden war. Angesichts dessen, daß der Angeklagte den Tatvorwurf stets bestritten hatte, war eine Erörterung sexualbezogener Einzelheiten im Rahmen seiner Einlassung nicht zu erwarten. Eine Anwendung des § 172 Nr. 1 GVG durch den Tatrichter erst bei der Zeugenvernehmung des Geschädigten war daher nicht sachwidrig, sondern lag in seinem pflichtgemäßen Ermessen.
2. Die sachlichrechtliche Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Insbesondere ist die Beweiswürdigung der Jugendkammer, die sich nach Vernehmung eines Sachverständigen zur Glaubwürdigkeit des jugendlichen Geschädigten von der Richtigkeit seiner den Angeklagten belastenden Zeugenaussage überzeugt hat, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
Fundstellen
Haufe-Index 2993126 |
BGHSt 38, 248 |
BGHSt, 248 |
NJW 1992, 2436 |
NStZ 1992, 393 |
MDR 1992, 702 |
StV 1992, 458 |