Leitsatz (amtlich)
›Der Tatrichter darf im Arzthaftungsprozeß eine ihm vorliegende Begutachtung durch eine Gutachter- und Schlichtungsstelle im Wege des Urkundenbeweises würdigen. Rügt eine Partei jedoch die mangelnde Sachkunde der dieser Stelle angehörenden Ärzte, so hat der Richter eine sachverständige Begutachtung durch einen auf dem einschlägigen Fachgebiet erfahrenen Sachverständigen zu veranlassen.‹
Tatbestand
Der Kläger, von Beruf Gastwirt, begab sich nach vorheriger Vereinbarung am 1. Juni 1981 in das Krankenhaus der früheren Erstbeklagten, um eine Coronar-Angiographie durchführen zu lassen. Diese wurde am 3. Juni 1981 gegen 11.00 Uhr von dem Zweitbeklagten (im folgenden Beklagten genannt) nach der Methode Sones über einen in die rechte Armschlagader (arteria brachialis) gelegten Katheter ausgeführt. Um 18.00 Uhr desselben Tages war bei dem Kläger der Puls am rechten Arm nur noch schwach tastbar und die Hand wurde kühl. Am folgenden Tag bestand derselbe Befund. Das war darauf zurückzuführen, daß im rechten Arm eine Thrombose der Arteria brachialis eingetreten war. Am 5. Juni 1981 verließ der Kläger das Krankenhaus, ohne daß Maßnahmen wegen der Thrombose ergriffen worden waren. Wegen starker Schmerzen kam er aber am 11. Juni 1981 wieder dorthin zur ambulanten Behandlung. An diesem Tage wurde bei ihm eine Oszillographie und eine Doppler-Ultraschall-Druckmessung vorgenommen und am 16. Juni 1981 eine Thrombektomie. Danach blieb er noch bis zum 30. Juni 1981 in stationärer Behandlung im Krankenhaus der früheren Erstbeklagten. Gegen den Willen der behandelnden Ärzte brach er diese Behandlung ab, nachdem sich herausstellte, daß die Thrombektomie keinen Erfolg hatte. Vom 3. August bis 15. August 1981 wurde der Kläger dann in der Universitätsklinik in F. stationär behandelt. Er wurde dort fünfmal operiert; schließlich mußte bei ihm als Folge der nach der Angiographie eingetretenen Thrombose die rechte Hand amputiert werden.
Der Kläger hat zunächst von beiden Beklagten wegen Verletzung ärztlicher Pflichten in der Zeit vom 3. bis 5. Juni 1981 ein Schmerzensgeld sowie die Feststellung der Verpflichtung verlangt, daß die Beklagten für jeden weiteren Schaden haften, der ihm aus der Behandlung vom 3. Juni 1981 noch entstehen wird, soweit er nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht der Klage gegen den Beklagten stattgegeben und im übrigen die Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht geht davon aus, es sei zwischen den Parteien unstreitig, daß, wie auch schon das Landgericht in Übereinstimmung mit den Bescheiden der Gutachter- und Schlichtungsstelle angenommen habe, durch sofortige Behandlung der Thrombose spätestens 24 Stunden nach Durchführung der Angiographie der Verlust der rechten Hand des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre. Solche Behandlungsmaßnahmen habe der Beklagte jedoch schuldhaft versäumt. Die Behauptung des Beklagten, eine Behandlung der Thrombose sei deshalb nicht möglich gewesen, weil der Kläger sich den ihm angeratenen Behandlungsmaßnahmen entzogen und am 5. Juni 1981 die Klinik gegen ärztlichen Rat verlassen habe, habe der Beklagte nicht beweisen können.
II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
Mit Erfolg rügt die Revision, daß das Berufungsgericht ohne ausreichende tatsächliche Feststellungen davon ausgeht, der Beklagte habe bereits dadurch einen Behandlungsfehler begangen, daß er nicht spätestens 24 Stunden nach Durchführung der Angiographie mit der Behandlung der Thrombose bei dem Kläger begonnen habe.
1. Zutreffend weist die Revision insoweit darauf hin, zwischen den Parteien sei im Anschluß an die Bescheide der Gutachter- und Schlichtungsstelle nur unstreitig gewesen, daß durch eine sofortige Behandlung der Thrombose mit hoher Wahrscheinlichkeit der Verlust der rechten Hand vermieden worden wäre.
2. Daraus durfte das Berufungsgericht aber nicht ohne weiteres den Schluß ziehen, der Beklagte habe in der Zeit vom 3. bis 5. Juni 1981 erforderliche Behandlungsmaßnahmen bei dem Kläger schuldhaft versäumt. Nach dem Gutachten der Gutachter- und Schlichtungsstelle hätte die Thrombose zwar 24 Stunden nach der Untersuchung behandelt werden müssen. Dieser Hinweis in dem Gutachten war aber keine ausreichende Entscheidungsgrundlage, um dem Beklagten einen Behandlungsfehler nachzuweisen.
a) Der Tatrichter kann allerdings von der Einholung von Sachverständigengutachten absehen, wenn ihm ein früher erstattetes Gutachten über die Beweisfrage vorliegt; er kann dieses dann im Wege des Urkundenbeweises würdigen (vgl. Hartmann in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 45. Aufl., Übersicht vor § 402, Anm. 2 a). Die Gutachter- und Schlichtungsstelle hat in ihrem Gutachten aber weder die Art der erforderlichen Behandlung aufgezeigt, noch sich überhaupt mit der Frage auseinandergesetzt, ob es Behandlungsmaßnahmen gab, die, auch wenn mit ihnen später, etwa erst am 11. Juni 1981, begonnen wurde, noch erfolgversprechend waren und ob es ärztlich auch noch verantwortbar war, ggfls. solange zu warten. Es kommt deshalb entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts im Streitfall nicht so sehr darauf an, daß der beklagte Arzt "inhaltlich" den Ausführungen in dem Gutachten nicht entgegengetreten ist. Denn er hatte - wie die Revision zutreffend rügt - jedenfalls behauptet und unter Beweis gestellt, daß noch nach dem 11. Juni 1981 eine realistische Chance bestand, die Hand des Klägers zu retten, zumal der sachverständige Zeuge Dr. H. bestätigt hatte, daß nach seinen damaligen Untersuchungen (Oszillographie und Doppler-Druckmessung) noch keine akute Gefährdung für den Arm vorlag.
b) Hinzu kam hier aber noch, daß der Beklagte bereits in der Klageerwiderung die Sachkunde der Gutachter- und Schlichtungsstelle in Zweifel gezogen hatte, in dem er darauf hinwies, die ihr angehörenden Ärzte seien längst außer Dienst, inwieweit sie noch auf dem neuesten Stand der Wissenschaft seien, sei nicht bekannt.
Einer solchen Rüge der mangelnden Sachkunde, die von einer Partei im Arzthaftungsprozeß erhoben wird, hat der Richter sorgfältig nachzugehen. Sie kann, wie im Streitfall, darauf gestützt werden, daß die der Gutachter- und Schlichtungsstelle angehörenden Ärzte nicht mehr mit dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft vertraut sind und daß andere Sachverständige über überlegenere Forschungsmittel und neuere Erkenntnisse verfügen, oder auch darauf, daß die Gutachter- und Schlichtungsstelle aus ständigen Kommissionsmitgliedern besteht, die unter Umständen nicht für das zu beurteilende Fachgebiet ausgebildet sind (zu letzterem vgl. Deutsch/Matthies, Arzthaftungsrecht, Grundlagen, Rechtsprechung, Gutachter und Schlichtungsstellen = RWS-Skript 148, S. 84).
Sofern Zweifel an der Sachkunde der Kommissionsmitglieder bestehen, hat das Gericht auf eine solche Rüge hin eine Begutachtung durch einen auf dem einschlägigen medizinischen Fachgebiet erfahrenen Sachverständigen zu veranlassen. Solche Zweifel bestehen zumindest dann, wenn wie im Streitfall - von den vier der Kommission angehörenden Ärzten drei bereits im Ruhestand sind und der vierte sich auf einem ärztlichen Sachgebiet betätigt (hier: Rheuma-Pathologie), das für die Beurteilung des Streitfalles nicht zuständig ist.
Das Berufungsgericht hätte deshalb durch neue sachverständige Begutachtung klären müssen, ob es aufgrund der ärztlichen Befunde, die nach Durchführung der Angiographie bei dem Kläger erhoben wurden, ein Behandlungsfehler war, daß nicht sofort eine Thrombosebehandlung eingeleitet wurde, und ob es noch am 11. Juni 1981 hinreichend erfolgversprechende Maßnahmen zur Bekämpfung der Thrombose gab (Thrombektomie; thrombolythische Therapie).
III. Bei dieser Sachlage mußte das Berufungsurteil aufgehoben werden.
1. Dem erkennenden Senat ist es jedoch aufgrund der bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht möglich, wie die Revision in erster Linie beantragt, das landgerichtliche Urteil wieder herzustellen.
Rechtlich unangreifbar ist das Berufungsgericht nämlich zu dem Ergebnis gelangt, das Landgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Kläger am 5. Juni 1981 gegen ärztlichen Rat die Klinik verlassen und sich den gebotenen Behandlungsmaßnahmen auf diese Weise entzogen habe.
a) Soweit sich die Revision dagegen wendet, daß das Berufungsgericht die dahingehenden Behauptungen des Beklagten nicht für erwiesen angesehen hat, enthalten ihre Rügen nur im Revisionsverfahren unzulässige Angriffe gegen die
Beweiswürdigung des Tatrichters. Rechtsfehler, auf denen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts beruhen könnte, zeigt die Revision insoweit nicht auf.
b) Das Berufungsgericht hat bezüglich dieser Behauptung auch nicht die Beweislast verkannt. es war jedenfalls wegen Fehlens einer Dokumentation über das Verlassen der Klinik gegen ärztlichen Rat Sache des beklagten Arztes darzulegen und zu beweisen, daß der Kläger darauf hingewiesen wurde, welche Risiken der Behandlungsabbruch nach sich ziehen konnte (vgl. Senatsurteil vom 3. Februar 1987 - VI ZR 56/86 - zum Abdruck in BGHZ bestimmt).
2. Die Sache war deshalb zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die noch fehlenden Feststellungen treffen kann. Da die Entscheidung über die Kosten der Revision von dem endgültigen Ausgang des Rechtsstreits abhängig ist, war dem Berufungsgericht auch diese Entscheidung zu übertragen.
Fundstellen
Haufe-Index 2992901 |
NJW 1987, 2300 |
BGHR ZPO § 402 Arzthaftung 1 |
DRsp IV(415)187f-g |
MDR 1987, 1018 |
VersR 1987, 1091 |