Leitsatz (amtlich)
Eine Lieferung eines Gegenstands an einen einzelnen weiterverarbeitenden Betrieb ohne Geheimhaltungsvorkehrungen begründet jedenfalls dann öffentliche Zugänglichkeit der in ihm verkörperten technischen Lehre, wenn der Gegenstand zur Weiterverarbeitung in dessen für Dritte bestimmter Produktion bestimmt ist.
Normenkette
PatG 1981 § 3 Abs. 1; EPÜ Art. 54 Abs. 2
Verfahrensgang
BPatG (Aktenzeichen 1 Ni 10/96) |
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des 1. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts vom 9. Dezember 1997 abgeändert.
Das deutsche Patent 32 46 398 wird im Umfang seiner Patentansprüche 1, 2 und 4 für nichtig erklärt.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Beklagte ist eingetragener Inhaber des am 15. Dezember 1982 angemeldeten deutschen Patents 32 46 398 (Streitpatents), das ein „Anschraubscharnier für Reihenschränke” betrifft und vier Patentansprüche umfaßt. Die allein angegriffenen Patentansprüche 1, 2 und 4 lauten:
- „Anschraubscharnier für Reihenschränke mit aufliegenden Türen, das rechts und links einsetzbar ist und einen Öffnungswinkel von 180° ermöglicht, bestehend aus einem ersten, mit Befestigungslöchern oder Befestigungsgewinden versehenen Scharnierteil (18) mit Scharnierbolzen (20) und einem zweiten, gleichfalls mit Befestigungslöchern oder Befestigungsgewinden versehenen Scharnierteil (16) mit einer Lagerbohrung (24) zur Aufnahme des Scharnierbolzens (20), wobei das zweite Scharnierteil an einer zur Türblattaußenfläche (38) im wesentlichen senkrechten Türblattkantenfläche (50) und das erste Scharnierteil (18) an einer bei geschlossener Tür parallel zur Türblattaußenfläche (38) verlaufenden Türrahmenfläche (40) derart ansetzbar ist, daß die Lagerbohrungsachse (30) der Scharnierteile (16, 18) in einem Abstand (E) zur Türrahmenfläche (40) gehalten wird, der erheblich größer ist als der Abstand (F) der Türblattaußenfläche (38) von der Türrahmenfläche (40), und wobei die Scharnierteile (16, 18) eine bei verschlossener Tür sichtbare Breite (B) besitzen, die erheblich größer wie der Durchmesser des Scharnierbolzens (20) ist, dadurch gekennzeichnet, daß der Abstand (A) der Lagerbohrungsachse (30) von dem am weitesten vorspringenden Teil (56) der nach vorne stehenden Scharnierteilaußenfläche kleiner als die halbe bei verschlossener Tür sichtbare Breite (B) ist.
- Scharnier nach Anspruch 1, dadurch gekennzeichnet, daß die bei verschlossener Tür sichtbare Breite (B) der Scharnierteile (16, 18) gleich der Breite der Befestigungsfläche des an der Türrahmenfläche (40) befestigten ersten Scharnierteils (18) ist.
- Scharnier nach Anspruch 1 oder 2, wobei der Querschnitt der Stirnfläche der Scharnierteile einen Halbkreis mit dem Radius der halben, bei verschlossener Tür sichtbaren Breite (B) bildet, dadurch gekennzeichnet, daß A kleiner B/2 durch Versetzung der Lagerachse (30) soweit nach außen (Y) erreicht wird, daß zwischen der Außenfläche des Scharnierbolzens (20) bzw. der Innenfläche der Lagerbohrung (24) und dem am weitesten vorspringenden Teil (56) der Scharnierteilaußenfläche noch eine stabile Wand (W) verbleibt.”
Der Beklagte war für die Klägerin jahrelang als Handelsvertreter tätig. Die Klägerin behauptet, sie habe das vom Beklagten anläßlich von Kontakten mit der H. GmbH in B. (nachfolgend: H.) entwickelte patentgemäße Scharnier schon vor Eintritt in die spätere Serienfertigung auf Drängen von H. im Lauf des Jahres 1982, und zwar im Juli/August dieses Jahres und damit vor dem Anmeldetag des Streitpatents, durch ein Drittunternehmen, die mit der Klägerin wirtschaftlich verbundene L. GmbH in W. (nachfolgend: L.), herstellen lassen und ohne Geheimhaltungspflicht an H. geliefert. Sie hat sich dazu in erster Instanz auf verschiedene urkundliche Unterlagen sowie auf den Zeugen W. gestützt. Der Beklagte hat zunächst sowohl die Herstellung patentgemäßer Scharniere als auch deren Auslieferung vor dem Anmeldetag des Streitpatents mit Nichtwissen bestritten. Das Bundespatentgericht hat nach Vernehmung des bei der Klägerin beschäftigten Zeugen W. die auf Nichtigerklärung des Streitpatents im Umfang seiner Patentansprüche 1, 2 und 4 gerichtete Klage abgewiesen.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Sie hat weitere Unterlagen vorgelegt sowie den früher bei H. beschäftigten Zeugen M. benannt. Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Er bestreitet nicht mehr, daß im August 1982 Scharniere an H. geliefert worden sind, behauptet jedoch, es habe sich um eine „Zwischenlösung” gehandelt, die die Erfindung nicht offenbart habe.
Der Senat hat durch uneidliche Vernehmung des Zeugen M., des bereits erstinstanzlich vom Beklagten benannten Zeugen K. sowie durch erneute Vernehmung des Zeugen W. Beweis erhoben.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils und zur Nichtigerklärung des Streitpatents im angefochtenen Umfang.
I. 1. Der Senat ist auf Grund der übereinstimmenden Erklärungen der Parteien davon überzeugt, daß die Klägerin Scharniere, die den angegriffenen Patentansprüchen des Streitpatents völlig entsprechen, im Laufe des Jahres 1982 in ihr Programm aufgenommen und auch vertrieben hat. Er ist auf Grund der Erklärung des Beklagten weiter davon überzeugt, daß im August 1982 Scharniere an H. geliefert worden sind. Der Streit der Parteien geht im Berufungsverfahren einzig noch darum, ob es sich dabei um eine „Zwischenlösung” gehandelt hat, die die besonderen Merkmale der Lösung des Streitpatents nicht offenbart hat, oder um eine Lieferung, die schon alle Merkmale der angegriffenen Patentansprüche des Streitpatents aufwies.
2. Der Senat ist im wesentlichen auf Grund der Aussage des erst in zweiter Instanz benannten Zeugen M. sowie der objektiven Umstände des Falls davon überzeugt, daß im August 1982 und damit vor dem Anmeldetag des Streitpatents Scharniere, deren Ausgestaltung den Patentansprüchen 1, 2 und 4 des Streitpatents entsprach, an H. geliefert wurden, die seitens der Abnehmerin in Schaltschränke eingebaut werden sollten, die für die Fa. D. bestimmt waren.
Der Zeuge M., der von 1978 bis 1984 als Einkäufer bei H. beschäftigt war, konnte sich noch daran erinnern, daß etwa im März/April 1982 erstmals auf Grund einer Vorgabe der Kundin D. darüber gesprochen wurde, daß ein Beschlag benötigt wurde, der ein planes Aufliegen der Tür ermöglichte. Der Zeuge hat weiter bekundet, daß zwischen dem Beklagten und dem Konstruktionsleiter von H., L., in seiner Anwesenheit von einer exzentrischen Anordnung der Lagerbohrung des Scharniers gesprochen wurde, wie sie dem Streitpatent entspricht. Nach Aussage des Zeugen ergaben sich bei diesem Auftrag, der ca. 20 - 25% des Jahresumsatzes von H. ausmachte, terminliche Probleme, weil die D. drängte und sich schon die Zurverfügungstellung von Mustern verzögerte. Die dann zunächst gelieferten Muster und die Vorrichtungen der kurz darauf erfolgten größeren Lieferung haben, wie der Zeuge M. bekundet hat, bereits die exzentrische Anordnung der Lagerbohrung aufgewiesen, wie sie dem Streitpatent entspricht.
Der Senat ist von der Richtigkeit der Aussage des Zeugen M., der am Ausgang des Rechtsstreits kein erkennbares Interesse hat, überzeugt. Gesichtspunkte, die an der Glaubwürdigkeit des Zeugen und an der Glaubhaftigkeit seiner Aussage zweifeln lassen könnten, sind nicht zutage getreten. Zudem sprechen eine Reihe weiterer Umstände dafür, daß die Aussage der Wahrheit entspricht.
So ist die Einlassung des Beklagten nicht folgerichtig. Der Beklagte, der der Wahrheitspflicht nach § 124 PatG unterliegt, hat zunächst schon die Lieferung im August 1982 an H. nicht eingeräumt, obwohl er von ihr von Anfang an Kenntnis haben mußte. Erst in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundespatentgericht hat er sich darauf berufen, daß im August 1982 eine „Zwischenlösung” an H. geliefert worden sei, die die Merkmale des Streitpatents noch nicht habe erkennen lassen. Der Beklagte hat auch keinen Versuch unternommen zu erklären, warum die Patentanmeldung erst sehr spät erfolgt ist, obwohl er erkennbar – wie dem Senat auch aus anderen Verfahren bekannt ist – patentrechtlich nicht unerfahren ist und die Angelegenheit angesichts der eiligen Lieferung an H. sehr beschleunigungsbedürftig war; die Klägerin hat mit Recht darauf hingewiesen, daß eine Patent- (oder Gebrauchsmuster-)anmeldung kurzfristig zu bewerkstelligen gewesen wäre. All dies läßt zwar keinen zwingenden Schluß darauf zu, daß die Einlassung des Beklagten falsch und die Darstellung der Klägerin richtig ist, stützt aber indiziell die Darstellung der Klägerin, die zudem dem Geschehensablauf entspricht, wie er normalerweise zu erwarten ist. Fest steht, daß die Abnehmerin D. auf baldige Lieferung gedrängt hat und daß deshalb auch bei H. ein Interesse bestand, möglichst bald geeignete Scharniere in die Hand zu bekommen. Hierfür kamen aber nur die eigens im Hinblick auf diese Bestellung entwickelten Scharniere entsprechend dem Streitpatent in Betracht. Die „Zwischenlösung”, auf die sich der Beklagte beruft, kann nach dessen eigener Darstellung den Erwartungen der Fa. D. nicht entsprochen haben. Dies ergibt sich schon daraus, daß mit ihr, wie sich aus der vom Beklagten selbst vorgelegten Zeichnung ergibt, nur ein Öffnungswinkel von 170° und damit keine nennenswerte Verbesserung gegenüber den zuvor verwendeten Scharnieren erzielen ließ, die einen Öffnungswinkel von 169° erlaubten. Eine Lösung des Problems des Öffnungswinkels brachte erst die Lehre des Streitpatents, die erst nach dieser zeichnerischen Darstellung eine Öffnung von 180° ermöglichte; dies entspricht auch der Beschreibung des Streitpatents. Der Senat vermag dabei dem Beklagten nicht dahin zu folgen, daß es auf den Öffnungswinkel nicht entscheidend angekommen sei; dies widerspricht sowohl der nachvollziehbaren Aussage des Zeugen M. als auch den Angaben in Patentanspruch 1 und der Beschreibung des Streitpatents, die an mehreren Stellen diesen Winkel hervorhebt. Auch wenn kein Erfahrungssatz dahin bestehen mag, daß in einer derartigen Situation Belange des Patentschutzes gegenüber der Erfüllung eines großen und wichtigen Auftrags in der Regel zurückgestellt werden, darf doch nicht die Möglichkeit übersehen werden, daß bei der seinerzeitigen engen Zusammenarbeit der Parteien das bei Fortführung der Zusammenarbeit eher gering zu erachtende Risiko, eine jedenfalls im wirtschaftlichen Sinn „eigene” Vorbenutzung könne möglicherweise bekannt werden, gegenüber dem Nachteil, den Wünschen eines wichtigen Kunden nicht nachkommen zu können, als hinnehmbar erschienen sein mag.
Der Senat verkennt dabei nicht, daß der früher als Verkaufsleiter bei der Klägerin und derzeit beim Beklagten beschäftigte Zeuge K. mit Nachdruck bekundet hat, daß seinerzeit (der Zeuge konnte eine genaue zeitliche Einordnung nicht mehr vornehmen) eine Zwischenlösung geliefert worden sei. Der Zeuge vermochte technische Einzelheiten hierzu nicht mehr anzugeben, insbesondere nicht, welchen Öffnungswinkel die angebliche Zwischenlösung ermöglicht haben soll. Er sprach insoweit einmal von 170°, später aber von einer minimalen Einbuße bei der Öffnung, obwohl von seiten H. ein Winkel von 180° gefordert worden sei. Beides verträgt sich nicht miteinander. Die Bekundungen des Zeugen sind damit schon in sich nicht stimmig. Hinzu kommt, daß der Zeuge, der sich nach eigenem Bekunden 1984 von der Klägerin getrennt hat, weil er „gewisse Schwierigkeiten” vorausgesehen haben will, nunmehr bei einem Unternehmen des Beklagten beschäftigt ist und damit jedenfalls mittelbar ein Interesse am Ausgang des Rechtsstreits haben kann.
Der Aussage des Zeugen W., die die Darstellung der Klägerin stützt, hat der Senat kein entscheidendes Gewicht beigemessen; der Zeuge ist ein naher Angehöriger eines der Geschäftsführer der Komplementärin der Klägerin. Schon das Bundespatentgericht hat sich nicht in der Lage gesehen, seine Entscheidung auf die Aussage dieses Zeugen zu stützen. Andererseits gibt diese Aussage für die Darstellung des Beklagten erst recht nichts her.
3. Aus einer Herstellung patentgemäßer Scharniere durch ein – zumal mit den damals noch zusammenarbeitenden Parteien wirtschaftlich verbundenes – Drittunternehmen ergibt sich ohne Hinzutreten besonderer Umstände, für die hier nichts ersichtlich ist, eine öffentliche Zugänglichkeit der Benutzung nicht (Sen.Urt. v. 10. November 1998 - X ZR 137/94 - Herzklappenprothese, zur Veröffentlichung bestimmt). Davon gehen auch die Parteien aus.
4. a) Dagegen begründet die ohne Geheimhaltungsvorkehrungen vorgenommene Lieferung der Scharniere mit den ohne weiteres erkennbaren Merkmalen des Streitpatents auch nur an H. allein schon deshalb öffentliche Zugänglichkeit der in ihnen verkörperten technischen Lehre, weil sie zur Weiterverarbeitung in der für Dritte bestimmten Produktion bestimmt war. Schon mit dieser Lieferung ist der Gegenstand der Erfindung aus dem von Erfinder und Patentinhaber kontrollierten geschützten Bereich herausgekommen. Von diesem Zeitpunkt an mußte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß eine weitere Verbreitung erfolgte. Damit konnten Fachleute in einer Weise von der Erfindung Kenntnis nehmen, die ihnen die Ausführung erlaubte. Unter solchen Umständen ist dem gesetzlichen Erfordernis, daß die Kenntnisse durch Benutzung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind, Genüge getan. Das entspricht den Grundsätzen, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum PatG 1968 entwickelt worden und insoweit auch zum geltenden § 3 Abs. 1 PatG anerkannt sind; sie stehen in Übereinstimmung mit maßgeblichen ausländischen und internationalen Gerichts- und Amtsentscheidungen zur inhaltsgleichen Bestimmung des Art. 54 Abs. 2 EPÜ (vgl. EPA T 482/89 ABl. EPA 1992, 646 - Stromversorgung; Schweizer Bundesgericht GRUR Int. 1992, 293 - Stapelvorrichtung; österreichisches Patentamt öPBl. 1994, 163; schwedisches Patentbeschwerdegericht GRUR Int. 1998, 251 Modul/Cale; vgl. Benkard, Patentgesetz und Gebrauchsmustergesetz 9. Aufl. Rdn. 64 zu § 3 PatG; Busse, Patentgesetz 5. Aufl. 1999, Rdn. 88 zu § 3 PatG).
II. Die Kostenentscheidung beruht auf dem nach der Übergangsregelung in Art. 29 Abs. 2 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Patentgesetzes und anderer Gesetze (2.PatGÄndG) übergangsweise weiterhin anwendbaren § 110 Abs. 3 Satz 1, 2 PatG in der Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1989 in Verbindung mit § 91 ZPO.
Unterschriften
Rogge, Jestaedt, Melullis, Scharen, Keukenschrijver
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 19.05.1999 durch Schanz Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 539441 |
DB 1999, 1901 |
NJW-RR 1999, 1717 |
GRUR 1999, 976 |
Nachschlagewerk BGH |
Mitt. 1999, 369 |