Leitsatz (amtlich)
Eine Person, die zwar die einfachen Geschäfte des täglichen Lebens zu besorgen vermag, aber wegen eines angeborenen Schwachsinns leichten bis mittleren Grades nicht in der Lage ist, schwierige Rechtsgeschäfte, insbesondere einen schwierigen Ehescheidungsstreit zu führen, ist deswegen für die Vornahme dieser Rechtsgeschäfte und die Führung dieses Rechtsstreits noch nicht geschäfts- und prozeßunfähig.
Verfahrensgang
OLG Köln (Entscheidung vom 27.01.1969) |
LG Köln |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 27. Januar 1969 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Parteien sind Eheleute. Im Juli 1960 hat die Klägerin die auf § 43 EheG gestützte Scheidungsklage erhoben. Die Klageschrift und die Ladungen zu den auf den 14. Oktober 1966 und 16. Dezember 1966 anberaumten Terminen wurden dem Beklagten jeweils im Wege der Ersatzzustellung durch Niederlegung bei der Post zugestellt. In keinem Termin war der Beklagte persönlich anwesend oder vertreten. Durch Urteil vom 16. Dezember 1966 hat das Landgericht die Ehe der Parteien aus Verschulden des Beklagten geschieden. Das Urteil wurde dem Beklagten am 6. Januar 1967 wiederum durch Niederlegung bei der Post zugestellt.
Mit seinen am 19. April 1967 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsätzen legte der Beklagte Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist.
Er trägt vor: Von den Zustellungen der Klageschrift, der Terminsladung und des Scheidungsurteils habe er keine Kenntnis erhalten. Durch den ihm persönlich am 20. Februar 1967 zugestellten Kostenfestsetzungsbeschluß habe er erstmals erfahren, daß gegen ihn ein Scheidungsverfahren anhängig gewesen sei. Er habe umgehend die Zeugin N. beim Landgericht nachfragen lassen. Dieser sei im Beisein ihrer Mutter auf der zuständigen Geschäftsstelle erklärt worden, daß er rechtskräftig schuldig geschieden sei und daß in dieser Angelegenheit nichts mehr getan werden könne. Da er sich mit der Scheidung nicht habe abfinden können, habe er schließlich am 6. April 1967 einen Rechtsanwalt aufgesucht und dort erstmals von der Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfahren. Im übrigen bestreitet der Beklagte das Vorbringen der Klägerin und behauptet, die Klägerin habe sich selbst so schwere Eheverfehlungen zuschulden kommen lassen, daß ihr Scheidungsbegehren sittlich nicht gerechtfertigt sei.
Die Klägerin bittet um Zurückweisung des Rechtsmittels. Sie habe dem Beklagten nicht nur sämtliche Zustellungsbenachrichtigungen persönlich übergeben, sondern ihn darüberhinaus auch jedes Mal darauf aufmerksam gemacht, daß er zu den Terminen erscheinen müsse. Der Beklagte habe jedoch mehrfach geäußert, wenn er nicht zu den Terminen gehe, könne er auch nicht geschieden werden. Als sie ihm von dem Erlaß des Scheidungsurteils Mitteilung gemacht habe, habe er sie zum Verlassen der ehelichen Wohnung aufgefordert.
Auf Antrag der Parteien hat das Berufungsgericht ein Gutachten über den Geisteszustand des Beklagten eingeholt und das schriftliche Gutachten in der Verhandlung vom 13. Januar 1969 von dem Sachverständigen mündlich erläutern lassen. Auf Betreiben seines Prozeßbevollmächtigten ist dem Beklagten während des Berufungsverfahrens ein Pfleger bestellt worden, der die Prozeßführung der zweiten Instanz genehmigt hat.
Durch Urteil vom 27. Januar 1969 hat das Oberlandesgericht sodann die Klage wegen Prozeßunfähigkeit des Beklagten abgewiesene Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin.
Entscheidungsgründe
Das Berufungsgericht hat die Berufung für zulässig angesehen. Sie sei nicht verspätet eingelegt, da das Urteil des Landgerichts am 16. Dezember 1966 nicht wirksam zugestellt worden sei. Denn der Beklagte habe sich insoweit, als er den vorliegenden Ehescheidungsstreit geführt habe, in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit im Sinne des § 104 Nr. 2 BGB befunden.
Ob diese Ansicht des Berufungsgerichts rechtlich zutreffend ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof (RGZ 121, 63; BGH LM ZPO § 52 Nr. 3) haben entschieden, daß die Rechtsmittelfrist auch durch die Zustellung an einen Prozeßunfähigen in Lauf gesetzt wird (ebenso Pohle in Stein/Jonas ZPO 19. Aufl. § 50 I 2; a.A. Rosenberg, FamRZ 1958, 95).
Das Urteil muß jedenfalls aus einem anderen Grunde aufgehoben werden.
Aufgrund des Sachverständigengutachtens hat das Berufungsgericht festgestellt, daß der Beklagte an angeborenem Schwacheinn leidet. Deswegen hat das Berufungsgericht angenommen, daß bei ihm eine auf besonders schwierige Geschäfte beschränkte partielle Geschäftsunfähigkeit bestehe, die sich auf die Führung des Ehescheidungsstreits erstrecke. Das Berufungsgericht ist damit von der NJW 1953, 1342 veröffentlichten Entscheidung des Bundesgerichtshofs abgewichen, nach der es keine auf besonders schwierige Geschäfte beschränkte partielle Geschäftsunfähigkeit gibt.
Diese vom Berufungsgericht vertretene Rechtsansicht greift die Revision mit Recht an. Eine sonst bestehende Geschäfts- und Prozeßfähigkeit kann allerdings für einen gegenständlich beschränkten Kreis von Angelegenheiten ausgeschlossen sein. Das ist der Fall, wenn es der betreffenden Person infolge einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit nicht möglich ist, in diesem Lebensbereich ihren Willen frei und unbeeinflußt von der vorliegenden Störung zu bilden oder nach einer zutreffend gewonnenen Einsicht zu handeln, während das für andere Lebensbereiche nicht zutrifft (RGZ 162, 223, 229; BGHZ 18, 184, 186; 30, 112). Darum handelt es sich hier nicht. Das Berufungsgericht nimmt vielmehr eine allgemeine Geschäftsunfähigkeit für schwierige Rechtsgeschäfte an.
Die Frage, ob eine Person allgemein für alle schwierigen Rechtsgeschäfte geschäftsunfähig, für alle anderen einfacheren Rechtsgeschäfte dagegen geschäftsfähig sein kann, ist eine rechtliche. Sie geht dahin, ob es nach dem Gesetz auch eine partielle Geschäftsfähigkeit gibt, die nicht nach bestimmten gegenständlichen Bereichen, sondern nach dem Schwierigkeitsgrad der in Frage stehenden Rechtsgeschäfte abgegrenzt wird. Das hat der Bundesgerichtshof bisher verneint (BGH NJW 1953, 1342 und 1961, 261; vgl. auch BGHZ 30, 112, 117 und Anmerkungen LM ZPO § 52 Nr. 4 und BGB § 104 Nr. 2).
An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Nach § 104 Ziff. 2 BGB sind für die Beurteilung der Geschäftsfähigkeit nicht so sehr die Fähigkeiten des Verstandes ausschlaggebend als die Freiheit des Willensentschlusses. Es kommt darauf an, ob eine freie Entscheidung auf Grund einer Abwägung des Für und Wider eine sachliche Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil der Betroffene fremden Willenseinflüssen unterliegt oder die Willensbildung durch unkontrollierte Triebe und Vorstellungen ähnlich einer mechanischen Verknüpfung von Ursache und Wirkung ausgelöst wird (RGZ 103, 399; 130, 69). Ein solcher Ausschluß der freien Willensbestimmung wird seiner Natur nach regelmäßig die ganze Persönlichkeit ergreifen und abgesehen von Sonderfällen nicht auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt bleiben. Eine allgemein auf besonders schwierige Rechtsgeschäfte beschränkte Geschäftsunfähigkeit kann daher grundsätzlich nicht anerkannt werden. Eine Person, die in der Lage ist, ihren Willen frei zu bestimmen, deren intellektuelle Fähigkeiten aber nicht ausreichen, um bestimmte schwierige rechtliche Beziehungen verstandesmäßig zu erfassen, ist deswegen noch nicht geschäftsunfähig. Es muß ihr vielmehr überlassen bleiben, auf welche Weise sie mit besonderen Lagen fertig werden will. Wenn sie sich dem Rat einer dritten Person fügt, so ist dies aufgrund einer vernünftigen freien Willensentschließung geschehen, sie steht dann auch insoweit nicht unter einem ihre eigene Willensfreiheit ausschließenden Einfluß eines anderen.
Der entgegengesetzte, vom Berufungsgericht vertretene Rechtsstandpunkt, der insoweit eine partiell beschränkte Geschäftsunfähigkeit annimmt, würde zu einer für den Rechtsverkehr schwer erträglichen Rechtsunsicherheit führen. Es läßt sich dann keine klare Grenze zwischen Geschäftsfähigkeit und Geschäftsunfähigkeit ziehen. Schon die geistigen Fähigkeiten einer Person werden von verschiedenen Beurteilern je nach den Anforderungen, die sie stellen, unterschiedlich beurteilt. Außerdem ist der Schwierigkeitsgrad einzelner Rechtsgeschäfte unbeschadet ihrer typischen rechtlichen Merkmale durchweg sehr unterschiedlich. Das trifft insbesondere auch für Ehestreitigkeiten zu. Der einzelne Prozeß kann schwierig zu führen sein, der andere wiederum leicht. Gerade in Ehesachen wäre es aber nicht tragbar, wenn gegen ein Ehescheidungsurteil noch nach Jahren eine Nichtigkeitsklage mit der Behauptung erhoben werden könnte, die Partei sei seinerzeit infolge ihrer mangelnden geistigen Fähigkeiten nicht in der Lage gewesen, den Rechtsstreit richtig zu führen.
Es ist allerdings richtig, daß im Rechtsverkehr auf Personen, die in ihrer geistigen Entwicklung zurückgeblieben sind, Rücksicht genommen werden muß. Das kann aber auf andere Weise geschehen. Ihnen kann für die Besorgung der betreffenden Angelegenheiten ein Pfleger bestellt werden. So ist auch in dem hier zu entscheidenen Rechtsstreit dem Beklagten im zweiten Rechtszug ein Pfleger bestellt worden. Hat die an leichtem oder mittlerem Schwachsinn leidende Person eine Frist versäumt, dann kann ihr die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt werden, wenn sie die Frist deswegen versäumt hat, weil sie infolge ihrer geringen geistigen Fähigkeiten nicht erkannte, daß es hier notwendig war, zur Wahrung ihrer Rechte fremden Rat und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das könnte bei dem Beklagten der Fall gewesen sein. Er hat zwar schon Ende Februar 1967 erfahren, daß ein Ehescheidungsurteil gegen ihn ergangen war. Es war ihm dabei aber mitgeteilt worden, das Urteil sei längst rechtskräftig und er könne dagegen nichts mehr unternehmen. Durch diese Kenntnis braucht deswegen die Frist des § 234 ZPO noch nicht zu laufen begonnen haben. Sie wäre nicht in Gang gesetzt, wenn der Beklagte durch die Nachricht in den irrigen Glauben versetzt worden ist, es sei zwecklos, sich an einen Rechtsanwalt zu wenden, da ohnehin gegen das Urteil nichts mehr unternommen werden könne. Die Frist hätte dann erst zu laufen begonnen, nachdem er bei seinem Besuch bei einem Rechtsanwalt von diesem erfahren hatte, daß er gegen die Versäumung der Berufungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen könne. Dann aber wäre der am 19. April 1967 gestellte Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtzeitig gestellt.
Der Antrag des Beklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand läßt noch nicht genügend klar erkennen, aus welchen Gründen er die Berufungsfrist versäumt hat. Die Unklarheit, die an sich zu Lasten des Antragstellers geht, kann in dem hier zu entscheidenden Fall ihren Grund aber gleichfalls in der geistigen Beschaffenheit des Beklagten haben. Deswegen ist es hier geboten, daß das Gericht von dem ihm nach § 139 ZPO zustehenden Fragerecht Gebrauch macht und den Sachverhalt weiter aufklärt. Es muß festgestellt werden, ob der Beklagte die Frist versäumt hat, weil er infolge seiner mangelnden Geisteskräfte nicht erkennen konnte, daß es für ihn geboten war, hier fremden Rat und Hilfe in Anspruch zu nehmen, oder ob er nur aus Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit von der Einlegung eines Rechtsmittels abgesehen hat. Damit das Berufungsgericht den Sachverhalt in dieser Richtung aufklären kann, war es geboten, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 3018658 |
DB 1970, 1730-1731 (Volltext mit amtl. LS) |
NJW 1970, 1680-1681 (Volltext mit amtl. LS) |
DNotZ 1970, 656-658 |
JZ 1970, 614-615 (Volltext mit amtl. LS) |
MDR 1970, 915 (Volltext mit amtl. LS) |