Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Berufung. rechtzeitige Berufungseinlegung. Zustellung des erstinstanzlichen Urteils beim Prozessbevollmächtigten. Zustellungszeitpunkt. Dokumentation der Zustellung auf Empfangsbekenntnis. Beweiswirkung. Führung des Gegenbeweises der Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis angegebenen Datums. Überzeugungskraft der eidesstattlichen Versicherung. Gebot der vollständigen Sachverhaltsaufklärung
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Empfangsbekenntnis erbringt grundsätzlich auch Beweis für den Zeitpunkt der Entgegennahme durch den Unterzeichner und damit für den Zeitpunkt der Zustellung. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis angegebenen Datums erfordert eine vollständige Entkräftung der Beweiswirkung des § 212 a ZPO a. F.
2. Für die Rechtzeitigkeit der Berufung ist der Vollbeweis zu erbringen. Das Vorbringen und Beweisanerbieten des Berufungsklägers ist in vollem Umfang von Amts wegen zu prüfen und die angebotenen Beweise sind lückenlos zu erheben.
Normenkette
ZPO § 516 a. F., § 212a a. F., §§ 286, 317 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
OLG Köln (Urteil vom 24.04.2001) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 24. April 2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Im vorliegenden Revisionsverfahren geht es nur um die verfahrensrechtliche Frage, ob der Kläger rechtzeitig Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Landgerichts eingelegt hat, und hier insbesondere darum, ob das Urteil dem erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten des Klägers (Rechtsanwalt K. W. M. in K.) an dem in seinem Empfangsbekenntnis angegebenen Datum oder erst später zugestellt worden ist.
Das von Rechtsanwalt M. unterzeichnete Empfangsbekenntnis trägt das von anderer Hand eingetragene Datum „15.06.00”. Das Empfangsbekenntnis ging am 28. Juni 2000 bei Gericht ein. Mit Schreiben vom 27. Juni 2000 übersandte Rechtsanwalt M. das Urteil dem erstinstanzlichen Verkehrsanwalt mit der Anmerkung: „Das Urteil wurde uns zugestellt am 15.06.2000.” Der Verkehrsanwalt, dem das Schreiben am 29. Juni 2000 zuging, leitete das Urteil mit eigenem Schreiben vom 10. Juli 2000 an den Berufungsanwalt des Klägers weiter und bat um Einlegung der Berufung „fristgerecht bis zum 29. Juli 2000”. Mit weiterem Schreiben vom 13. Juli 2000 übersandte der Verkehrsanwalt dem Berufungsanwalt auch seine Handakte. Bei deren Durchsicht fiel dem Berufungsanwalt die Mitteilung von Rechtsanwalt M. über die Zustellung des Urteils am 15. Juni 2000 auf. Er legte daraufhin noch am Freitag, dem 21. Juli 2000, Berufung ein.
Auf den Hinweis des Berufungsgerichts, die Berufung sei verspätet eingelegt worden, hat der Kläger vorgetragen, eine Verspätung liege nicht vor. Das im Empfangsbekenntnis angegebene Datum sei unrichtig. Die Kanzleiangestellte G. habe den Tag eingesetzt, an dem das Urteil in der Kanzlei eingegangen sei. Rechtsanwalt M. habe das Urteil aber frühestens am 23. Juni 2000 zur Kenntnis genommen. Zur näheren Darlegung und zum Beweis hat der Kläger je eine eidesstattliche Versicherung von Rechtsanwalt M. und der Kanzleiangestellten G. vorgelegt und sich auf deren Zeugnis berufen. Hilfsweise für den Fall etwaiger Versäumung der Berufungsfrist hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag wegen Verschuldens des Verkehrsanwalts als unbegründet zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, der zwar seinen Wiedereinsetzungsantrag nicht weiterverfolgt, sich aber dagegen wendet, daß das Berufungsgericht die Berufung als nicht innerhalb der Berufungsfrist eingegangen angesehen hat.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Die eidesstattliche Versicherung von Rechtsanwalt M., wonach er das Urteil nicht am 15. Juni 2000, sondern wahrscheinlich erst am 26. Juni 2000 zur Kenntnis genommen habe, könne nicht überzeugen. Sie sei nicht mit seinem Schreiben vom 27. Juni 2000 an den Verkehrsanwalt in Einklang zu bringen, in dem er nochmals und ausdrücklich die Zustellung des Urteils am 15. Juni 2000 mitgeteilt habe. Angesichts dieses Widerspruchs, den Rechtsanwalt M. mit keinem Wort erklärt habe, sei eine Zeugenvernehmung von Rechtsanwalt M. und der Kanzleiangestellten G. zum Beweis der Richtigkeit ihrer Angaben in den eidesstattlichen Versicherungen nicht erforderlich gewesen.
II. Das hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Zu Recht rügt die Revision als Verfahrensfehler, daß das Berufungsgericht die Zeugen nicht vernommen und dadurch dem Kläger den Beweis für die Rechtzeitigkeit seiner Berufung auf prozeßordnungswidrige Weise abgeschnitten hat.
1. Die Berufung ist rechtzeitig, wenn sie binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils eingelegt worden ist (§ 516 ZPO a.F.). Die Beweislast für die Rechtzeitigkeit der Berufung trägt der Berufungskläger (BGH, Urteil vom 30. Januar 1991 – VIII ZB 44/90 – VersR 1991, 896 unter 2 b). Im vorliegenden Fall, wo der Eingang der Berufungsschrift am 21. Juli 2000 unstreitig ist, muß der Kläger also beweisen, daß das Urteil Rechtsanwalt M. nicht vor dem 21. Juni 2000 zugestellt wurde. Für die Urteilszustellung ist nicht der Eingang des Urteils in der Kanzlei des Prozeßbevollmächtigten der maßgebliche Zeitpunkt. Zugestellt ist ein Urteil erst dann, wenn der Rechtsanwalt es entgegennimmt mit dem Willen, es als zugestellt gegen sich gelten zu lassen, und dies durch seine Unterschrift auf dem Empfangsbekenntnis mit Angabe des Zustellungszeitpunkts dokumentiert (std. Rspr. des BGH, vgl. nur Urteil vom 15. Juli 1998 – XII ZB 37/98 – NJW-RR 1998, 1442 unter 2 a). Hier spricht das auf den 15. Juni 2000 datierte Empfangsbekenntnis für eine Zustellung an diesem Tage. Denn ein Empfangsbekenntnis erbringt grundsätzlich Beweis nicht nur für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt, sondern auch für den Zeitpunkt der Entgegennahme durch den Unterzeichner und damit für den Zeitpunkt der Zustellung. Jedoch steht dem Berufungskläger der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis angegebenen Datums offen. Dieser setzt allerdings voraus, daß die Beweiswirkung des § 212a ZPO a.F. vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sein können; hingegen ist dieser Gegenbeweis nicht schon dann geführt, wenn lediglich die Möglichkeit der Unrichtigkeit besteht, die Richtigkeit der Angaben also nur erschüttert ist. Dabei gilt, wie allgemein für die Prüfung der Voraussetzungen der Zulässigkeit des Rechtsmittels, so auch hinsichtlich der Entkräftung des aus einem Empfangsbekenntnis ersichtlichen Zustellungsdatums, der sogenannte Freibeweis; in dessen Rahmen können neben den üblichen Beweismitteln, insbesondere dem Ergebnis von Zeugenvernehmungen, auch eidesstattliche Versicherungen berücksichtigt werden. Es bleibt jedoch bei den Anforderungen des § 286 ZPO an die richterliche Überzeugungsbildung, so daß voller Beweis zu erbringen ist (st. Rspr. des BGH, vgl. nur Urteil vom 24. April 2001 – VI ZR 258/00 – VersR 2001, 1262 unter II 1 bis 3 b).
Der Kläger muß also zum einen den Gegenbeweis führen, daß das Urteil Rechtsanwalt M. nicht schon am 15. Juni 2000 zugestellt wurde, und muß gegebenenfalls darüber hinaus beweisen, daß die Zustellung auch nicht vor dem 21. Juni 2000 erfolgte.
2. Den Gegenbeweis, daß die Zustellung nicht schon am 15. Juni 2000 erfolgte, hat das Berufungsgericht zu Unrecht allein an der ungenügenden Überzeugungskraft der vom Kläger vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen von Rechtsanwalt M. und seiner Kanzleiangestellten scheitern lassen.
a) Allerdings hält auch der erkennende Senat diese eidesstattlichen Versicherungen für nicht ausreichend. Da es hier um die fristgerechte Einlegung der Berufung und damit um eine Zulässigkeitsvoraussetzung geht, ist das Revisionsgericht nicht auf eine lediglich rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts beschränkt. Vielmehr hat das Revisionsgericht den für die Zulässigkeit des Rechtsmittels maßgebenden Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht selbständig zu würdigen; es hat demgemäß auf der Grundlage des Beweisergebnisses eigenständig und unabhängig von der Beurteilung des Oberlandesgerichts die für die Rechtzeitigkeit der Berufungseinlegung maßgeblichen tatsächlichen Feststellungen zu treffen (st.Rspr. des BGH; vgl. nur Urteil vom 24. April 2001, aaO unter II 3 a). Der Senat teilt indessen die Bedenken des Berufungsgerichts gegen die Überzeugungskraft der eidesstattlichen Versicherungen, die sich darauf stützen, daß Rechtsanwalt M. in seiner eidesstattlichen Versicherung keine Erklärung dafür gegeben hat, weshalb er in seinem nach dem Vortrag des Klägers „normalerweise am Vortag diktiert(en)” Schreiben vom 27. Juni 2000 an den Verkehrsanwalt noch einmal ausdrücklich den 15. Juni 2000 als Datum der Urteilszustellung nannte.
b) Wenn das Berufungsgericht wegen dieser unerklärten Widersprüche von der Vernehmung der Zeugen M. und G. abgesehen hat, so stellt das jedoch einen Verfahrensfehler dar.
aa) Das Berufungsgericht hat damit gegen die grundsätzliche Pflicht des Gerichts zur Erhebung der angetretenen Beweise verstoßen, die sich aus dem Gebot zur möglichst vollständigen Aufklärung des Sachverhalts (§ 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO) und dem Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht (Art. 103 Abs. 1 GG) ergibt (BGH, Urteil vom 29. Januar 1992 – VIII ZR 202/90 – NJW 1992, 1768 unter 2 a aa; Zöller/Greger, ZPO 23. Aufl. vor § 284 Rdn. 8 a). Der Umstand, daß für die Rechtzeitigkeit der Berufung der Vollbeweis zu erbringen ist, beschwert zwar einerseits den Berufungskläger hinsichtlich des Beweismaßes, bewirkt aber andererseits zu seinen Gunsten, daß sein Vorbringen und Beweisanerbieten in vollem Umfang von Amts wegen zu prüfen und die angebotenen Beweise lückenlos zu erheben sind. Demgemäß konnte das Berufungsgericht die streitige Frage des Datums der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils nicht allein unter Würdigung der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen abschließend klären, wenn es diese für nicht hinreichend aussagekräftig erachtete. Vielmehr kann eine abschließende prozeßordnungsmäßige Klärung des Zustellungsdatum nur nach einer die volle Überzeugungsbildung ermöglichenden Vernehmung des Rechtsanwalts und der Anwaltsgehilfin als Zeugen erfolgen (vgl. BGH, Urteil vom 7. Dezember 1999 – VI ZB 30/99 – NJW 2000, 814 unter II 3).
bb) Es liegt auch kein Fall vor, in dem ein entscheidungserheblicher Beweisantritt ausnahmsweise einmal unbeachtet gelassen werden darf. Die vom Kläger angebotenen Zeugenaussagen sind insbesondere keine ungeeigneten Beweismittel. Es erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, daß sie sachdienliche Erkenntnisse erbringen werden (vgl. Zöller/Greger, aaO Rdn. 10 a).
Die vom Berufungsgericht gegebene Begründung, die eidesstattliche Versicherung von Rechtsanwalt M. stehe in einem nicht erklärten Widerspruch zu seinem Schreiben vom 27. Juni 2000, rechtfertigt keine ausnahmsweise Ablehnung der Zeugenvernehmung. Dies wäre nur dann anders zu beurteilen, wenn der vom Berufungsgericht beanstandete Widerspruch ein logischer wäre, den infolgedessen die Zeugen durch keine denkbare Aussage ausräumen könnten. Nur dann wären die Zeugenaussagen ungeeignete Beweismittel. Es liegt aber keine logische Unvereinbarkeit vor. Im Revisionsverfahren hat der Kläger die Erklärung nachgeliefert, das Schreiben vom 27. Juni 2000 sei als kanzleiüblicher „Kurzbrief” von der Kanzleiangestellten G. geschrieben, in dieses Schreiben sei der Eingangsvermerk des Büros übernommen und es sei von Rechtsanwalt M. ohne weitere Beachtung des darin vermerkten Datums am 27. Juni 2000 unterschrieben worden. Ein solcher Hergang ist nicht undenkbar. Wie die Revision zutreffend ausführt, stellt deshalb das Schreiben vom 27. Juni 2000 nur ein Indiz für eine tatsächlich am 15. Mai 2000 erfolgte Zustellung dar, das im Rahmen der noch ausstehenden Gesamtwürdigung des Beweisergebnisses einschließlich der Zeugenaussagen zu bewerten sein wird.
Ebenso wenig kann der Ansicht der Beklagten gefolgt werden, die Zeugenaussagen seien deshalb von vornherein nicht geeignet, den Gegenbeweis der Unrichtigkeit des angegebenen Zustellungsdatums zu erbringen, weil die eidesstattlichen Versicherungen nicht besagen würden, daß Rechtsanwalt M. am 15. Juni 2000 auch nach seiner Rückkehr von seinem auswärtigen Termin in F. seine Kanzlei nicht mehr aufgesucht habe; deshalb sei nicht jede Möglichkeit einer Kenntnisnahme am angegebenen Zustellungsdatum ausgeschlossen. Zwar mögen die eidesstattlichen Versicherungen in diesem Punkt objektiv unvollständig sein. Sie erlauben aber gleichwohl das Verständnis, daß die Erklärenden konkludent zum Ausdruck bringen wollten, Rechtsanwalt M. habe an jenem Tage seine Kanzlei überhaupt nicht betreten. Wegen dieser möglichen Bedeutung der eidesstattlichen Versicherungen hätte das Berufungsgericht, falls es sie für unvollständig hielt, entweder die Zeugen sogleich zu diesem Punkt vernehmen oder aber dem Kläger einen Hinweis geben müssen (§ 139 Abs. 1 Satz 1 ZPO a.F.). Der Kläger hätte dann, wie jetzt im Revisionsverfahren geschehen, seinen Vortrag und seinen Zeugenbeweisantritt dahin ergänzt, daß Rechtsanwalt M. am 15. Juni 2000 seine Kanzlei überhaupt nicht aufgesucht habe.
3. Das Berufungsurteil erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig (§ 563 ZPO a.F.). Aufgrund des bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme kann der erkennende Senat nicht etwa die weitere Voraussetzung für die Rechtzeitigkeit der Berufung, daß nämlich Rechtsanwalt M. auch nicht vor dem 21. Juni 2000 von dem erstinstanzlichen Urteil Kenntnis genommen hat, als nicht erfüllt ansehen. Der Senat kann offenlassen, ob die eidesstattlichen Versicherungen hinsichtlich der darin enthaltenen Schlußfolgerung, Rechtsanwalt M. habe frühestens am 23. Juni 2000 Kenntnis genommen, hinreichend überzeugend sind oder nicht. Sie sind jedenfalls auch zu diesem Punkt nicht von vornherein unschlüssig, so daß auch insoweit das Berufungsgericht, sollte es sie für zu wenig überzeugungskräftig halten, um eine Zeugenvernehmung nicht umhinkommen wird.
III. Der Senat sieht davon ab, die erforderliche Zeugenvernehmung zur Klärung des Zustellungsdatums im Revisionsverfahren durchzuführen. Vielmehr erscheint es angebracht, die Sache zur weiteren Beweiserhebung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Unterschriften
Terno, Seiffert, Ambrosius, Wendt, Dr. Kessal-Wulf
Fundstellen
Haufe-Index 767898 |
Mitt. 2002, 558 |
NJOZ 2002, 2019 |