Leitsatz (amtlich)
Wer bei gemeiner Gefahr Hilfe leistet, ordnet sich jedenfalls dann nicht in den Betrieb des die Gefahr verursachenden Unternehmens ein, wenn zur Zeit seiner Hilfeleistung Angehörige dieses Unternehmens noch nicht an der Gefahrenstelle mit der Gefahrbeseitigung beschäftigt sind.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 9a, Abs. 2, § 636
Verfahrensgang
OLG Hamm (Urteil vom 24.10.1977) |
LG Essen |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. Oktober 1977 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der bei der Klägerin beschäftigte Diplom-Ingenieur R. bemerkte in der Nacht vom 24. zum 25. Mai 1975 während des Heimwegs zu seiner Wohnung auf dem Bürgersteig eine Schadstelle an der der Beklagten gehörenden und von dieser betriebenen Fernheizung. Als er diese mit zwei von ihm herbeigerufenen Werkschutzleuten aus dem Betrieb seiner Arbeitgeberin, der Klägerin, absperren wollte, brach er in das bereits mit heißem Wasser durchtränkte Erdreich ein und zog sich Verbrennungen zu, die einen Krankenhausaufenthalt bis zum 18. Juli 1975 erforderlich machten und darüber hinaus eine Arbeitsunfähigkeit bis zum 12. Oktober 1975 zur Folge hatten.
Die Klägerin, die bis zum 4. Juli 1975 das Gehalt des Verletzten fortgezahlt hat, macht gegen die Beklagte aus abgetretenem Recht Verdienstausfall geltend. Diese bestreitet ihre Haftung. Hilfsweise beruft sie sich auf eine Haftungsfreistellung gemäß § 636 RVO und stützt sich dabei auf die Mitteilung ihrer Berufsgenossenschaft an die Klägerin, daß R. bei ihr Versicherungsschutz genieße. Die Berufsgenossenschaft hat dem Verletzten Heilbehandlung gewährt und ihm nach Einstellung der Gehaltsfortzahlung Übergangsgeld bis zum 12. Oktober 1975 gezahlt.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht bejaht das von der Beklagten in Anspruch genommene Haftungsprivileg des § 636 RVO. Es führt hierzu im wesentlichen aus:
Ob der Verletzte einen Arbeitsunfall im Betrieb der Beklagten erlitten habe, müsse im Streitfall vom Gericht geprüft und entschieden werden, weil eine Bindungswirkung entsprechend § 638 RVO mangels einer Entscheidung der Berufsgenossenschaft nicht ergangen sei und auch nicht mehr erwartet werden könne. Die Voraussetzungen für die Anwendung des § 636 RVO seien erfüllt; der Verletzte sei nämlich in das Unternehmen der Beklagten wie ein nach § 539 Abs. 1 RVO Versicherter eingegliedert gewesen (§ 539 Abs. 2 RVO). Ein Fall des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO habe nicht vorgelegen, so daß die Berufung auf den Haftungsausschluß nicht deshalb verwehrt sei. Der Verletzte habe eine Tätigkeit ausgeübt, die dazu bestimmt gewesen sei, die Zwecke des fremden Betriebes zu fördern und dessen Interessen zu dienen. Eingliederung müsse schon dann angenommen werden, wenn der Helfende in nach Lage des Falles zu unterstellendem Einverständnis des Unternehmers tätig werde. Dipl. Ing. R. habe berechtigterweise für die Beklagte als Geschäftsführer ohne Auftrag gehandelt, weil sich für ihn die Absperrung der Unfallstelle als ein objektiv fremdes Geschäft dargestellt habe.
II.
Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand,
1. Dem Berufungsgericht ist allerdings darin beizupflichten, daß im Streitfall keine die Bindungswirkung des § 638 Abs. 1 RVO auslösende Entscheidung in einem Verfahren nach der Reichs Versicherungsordnung oder dem Sozialgerichtsgesetz ergangen ist. Eine solche kann in den Schreiben der für den Betrieb der Beklagten zuständigen Berufsgenossenschaft vom 31. August, 6. September, 17. Dezember 1976 und 7. Oktober 1977 nicht gesehen werden; diese stellen weder einen förmlichen und rechtsmittelfähigen Bescheid des Versicherungsträgers (§ 77 SGG) noch eine Entscheidung nach § 141 SGG dar (Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 4 und 5 zu § 638 RVO). Mit Rücksicht darauf, daß eine förmliche Feststellung gemäß § 1569 a Abs. 1 RVO nicht zu ergehen hatte und mit einem Antrag eines Berechtigten (§ 1569 a Abs. 2 RVO) nicht mehr zu rechnen ist, bedarf es auch keiner Aussetzung des Verfahrens nach § 638 Abs. 2 RVO (BGHZ 52, 115, 119).
2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, daß der verletzte Dipl. Ing. R. schon deshalb keine Ersatzansprüche gegen die Beklagte habe, weil diese ihn auf Ansprüche gegen ihre Berufsgenossenschaft verweisen könne.
a) Dem Berufungsgericht kann schon nicht zugestimmt werden, wenn es die vom Verletzten entfaltete Tätigkeit zur Absperrung des als Gefahrenquelle erkannten Teiles des Bürgersteigs nicht in den von § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO umschriebenen Bereich eingeordnet hat. Zwar wird es sich im Streitfall nicht um eine Hilfeleistung bei einem „Unglücksfall” entsprechend der ersten Alternative der gesetzlichen Voraussetzungen gehandelt haben; dafür dürfte es an dem Merkmal des plötzlich eintretenden Ereignisses gefehlt haben (vgl. Lauterbach a.a.O.; Anm. 53 zu § 539 RVO). Es lag aber ein Fall „gemeiner Gefahr” i.S. der zweiten Alternative von § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO vor. Der Zustand, den Dipl. Ing. R. während der Nacht auf offener Straße antraf, war gefahrenträchtig; der Eintritt eines Schadens mußte ihm in hohem Maße als wahrscheinlich erscheinen (RGSt 61, 362; BGHSt 18, 271). Diese Gefahr aber war schon wegen der örtlichen Lage der Gefahrenquelle an einer der Allgemeinheit zugänglichen Stelle eine gemeine i.S. des Gesetzes; die Möglichkeit eines Körper Schadens bestand für eine unbestimmte Anzahl von Personen, so daß sich eine tatsächliche Bedrohung der Öffentlichkeit nicht verkennen läßt (Lauterbach a.a.O. Anm. 57 zu § 539 RVO).
b) Diese rechtliche Beurteilung des Tuns des Verletzten führt zur Unanwendbarkeit der §§ 636, 539 Abs. 2 RVO.
Es mag zweifelhaft sein, ob im Zuge einer Nothilfehandlung bei gemeiner Gefahr überhaupt eine Einordnung des Nothelfers in den Betrieb des die Gefahr verursachenden Unternehmens rechtlich möglich ist. Dagegen könnte sprechen, daß es der Gesetzgeber durch Schaffung des § 539 Abs. 1 Nr. 9 a RVO für notwendig gehalten hat, in solchen Fällen die Ansprüche des Nothelfers im Falle einer Verletzung in gewissen Grenzen sicherzustellen, wobei er die Aufgaben der Unfallversicherung den Ländern (§ 655 Abs. 2 Nr. 3 RVO) bzw. Gemeinden oder (wie im Streitfall) einem Gemeindeunfallversicherungsverband (§ 656 RVO) übertragen hat. Diese Frage braucht indessen im Streitfall nicht entschieden zu werden. Der Verletzte hat sich nämlich nach dem festgestellten Sachverhalt nicht in den Betrieb der Beklagten eingeordnet. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 7. Juni 1977 (VI ZR 99/76 = VersR 1977, 959) unter Bezugnahme auf frühere zum gleichen Fragenkreis ergangene Entscheidungen zu den Voraussetzungen Stellung genommen, die erfüllt sein müssen, um eine Einordnung in einen fremden Betrieb gemäß § 539 Abs. 2 RVO bejahen zu können. Danach muß der sich Einordnende den Willen haben, durch seine auf eigenem Entschluß beruhende Mithilfe einen Teil der den Beschäftigten des fremden Betriebes obliegenden Aufgaben zu übernehmen. Dieser Wille läßt sich aber im Streitfall nicht annehmen. Dipl. Ing. R. wurde tätig, um eine Gefahr kenntlich zu machen und ihre Verwirklichung zu verhindern; wenn er dabei mit der Errichtung einer Absperrung objektiv eine Tätigkeit entfaltete, die (auch) der Beklagten zugute kam und daher in deren Interesse lag, so mag dies geeignet sein, Ansprüche des Verletzten aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 677 ff BGB) zu begründen. Keinesfalls kann aber daraus schon sein Wille zur Einordnung in den Betrieb der Beklagten abgeleitet werden, so daß er sich wie deren Arbeiter mit den Ansprüchen aus der für diese eintretenden Berufsgenossenschaft begnügen müßte und etwa ihm erwachsene weitergehende Ansprüche gegen die Beklagte verlöre, im Endergebnis also für seine freiwillige Hilfeleistung zugunsten der Allgemeinheit nicht nur nicht belohnt würde, sondern Nachteile hinnehmen müßte. Im Verhältnis zur Beklagten war er nicht „ihr Arbeiter”, sondern ein Außenstehender, ein „Externer” (BGHZ 52, 115, 120; Senatsurteil vom 6. Dezember 1977 – VI ZR 79/76 – VersR 1978, 150). Die echten Nothilfefälle, bei denen der gemäß den §§ 636, 637 RVO eintretende Verlust der Geschäftsführervergütung für den Helfer eine unangemessene Auswirkung des Eingreifens sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften wäre, werden vor allem durch die Verschiedenheit der Ausgangssituation gekennzeichnet. Während sich nämlich bei den üblichen Fällen der vorübergehenden Eingliederung in einen Betrieb erst gelegentlich oder nach dieser ein Unfall ereignet hat, bildet hier gerade ein unfallartiges Ereignis für einen bisher Außenstehenden den Anlaß zum helfenden Eingreifen, wobei dieser dann selbst von den Auswirkungen des Unfallgeschehens betroffen wird. Dann kann es aber nicht entscheidend sein, daß sich das Eingreifen mindestens auch im Interesse eines der gesetzlichen Unfallversicherung unterliegenden Betriebs auswirkt oder doch auswirken soll. Ob das Ergebnis trotzdem anders sein könnte, wenn Dipl. Ing. R. Arbeitern der Beklagten, die schon mit der Beseitigung der an jener Unglücksstelle entstandenen Gefahr befaßt waren, geholfen hatte, braucht hier nicht entschieden zu werden.
III.
Die vorstehenden Ausführungen führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, weil das Berufungsgericht zu Unrecht die Klage unter Heranziehung des § 636 RVO abgewiesen hat. Dieses wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung die Frage nach dem Rechtsgrund des geltend gemachten Anspruchs zu prüfen, dabei freilich im Rahmen der Beurteilung der Höhe des Zahlungsbegehrens auch etwaige Leistungen zu berücksichtigen haben, die dem Verletzten bereits von Seiten eines Sozialversicherungsträgers zugeflossen sind (vgl. hierzu insbesondere BGHZ 33, 251 ff).
Unterschriften
Dr. Weber, Dunz, Dr. Kullmann, Dr. Ankermann, Dr. Deinhardt
Fundstellen
Haufe-Index 1372864 |
Nachschlagewerk BGH |