Verfahrensgang
OLG Hamm (Urteil vom 20.12.1972) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 20. Dezember 1972 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin verlangt von der Beklagten zu 1 und dem inzwischen aus dem Rechtsstreit ausgeschiedenen Beklagten zu 2 Ersatz eines Teiles ihrer Aufwendungen, die sie für die Ehefrau und die beiden Kinder des am 23. August 1970 verstorbenen Bernd We. in Le. erbracht hat und erbringen wird.
We. fuhr an seinem Todestage, einem Sonntag, als Beifahrer in einem Ford-PKW, dessen Halter Otto Wel. aus Lemgo war. Das Fahrzeug war bei der Beklagten zu 1 haftpflichtversichert. Fahrer war der Beklagte zu 2, der damals unter falschem Namen bei Wel. wohnte und einen auf den Namen Günter Be. ausgestellten Führerschein besaß, den er gestohlen hatte. Im hinteren Teil des Wagens saß der Geselle Reinhard S.. Die drei jungen Männer hatten sich gegen 14 Uhr getroffen und fuhren von Lemgo nach Herford zu einem Altwagenrennen. Dann kehrten sie nach Lemgo zurück. In Lemgo und Herford tranken sie geringe Mengen Alkohol. In Lemgo kam dann der Beklagte zu 2 infolge zu hoher Geschwindigkeit in einer Linkskurve von der Fahrbahn ab. Das Fahrzeug prallte gegen einen Pfeiler und dann gegen eine Hauswand. Dabei wurde We. getötet. Der Beklagte zu 2 wurde wegen fahrlässiger Tötung bestraft.
Die Beklagte zu 1 entzog am 22. März 1971 dem Halter und dem Fahrer, dem Beklagten zu 2, den Versicherungsschutz. Als Versagungsgrund gab sie an, daß der Technische Überwachungsverein am 30. Juli 1970 bei der Vorführung des Kraftfahrzeugs gemäß § 29 StVZO die Bremsen beanstandet habe. Gleichwohl sei der Kraftwagen weiterbenutzt worden, ohne daß die festgestellten Mängel beseitigt worden seien. Wegen dieser Gefahrerhöhung sei sie leistungsfrei geworden. Außerdem berief sich die Beklagte zu 1 in ihrem Schreiben an den Beklagten zu 2 noch darauf, daß er im Unfallzeitpunkt keine gültige Fahrerlaubnis besessen habe. Am Schluß des Schreibens wurden die Beteiligten darauf hingewiesen, daß sie ihren Anspruch auf Versicherungsschutz innerhalb von sechs Monaten gerichtlich geltend machen müßten. Weder der Halter noch der Beklagte zu 2 machten von ihrem Klagerecht Gebrauch.
Die Klägerin meldete am 2. Juli 1971 ihre Ersatzansprüche bei der Beklagten zu 1 an. Diese antwortete darauf am 9. Juli 1971, daß sie sowohl dem Halter als auch dem Fahrer, dem Beklagten zu 2, den Versicherungsschutz entzogen habe und sich deshalb mit den Ansprüchen der Klägerin nicht befassen könne. Die daraufhin erhobene Klage ging am 13. September 1971 beim Gericht ein und wurde der Beklagten zu 1 am 8. Oktober 1971 zugestellt. Die Klägerin begehrt darin die Zahlung von 6.769,58 DM für Rentenleistungen an die Witwe und die beiden Kinder des verstorbenen We. einschließlich der Beiträge für die Rentnerkrankenversicherung. Außerdem bittet sie, die Verpflichtung der Beklagten als Gesamtschuldner festzustellen, ihr auch die künftig gezahlten Aufwendungen an Waisenrenten und Beiträgen zur Krankenversicherung zu erstatten.
Der Beklagte zu 2 hat sich vor dem Landgericht nicht vertreten lassen. Das gegen ihn ergangene Versäumnisurteil ist rechtskräftig geworden. Gegen die Beklagte zu 1 hat das Landgericht die Klage abgewiesen, weil diese sowohl dem Halter als auch dem Fahrer den Versicherungsschutz wirksam entzogen habe. Da keiner der Beteiligten hiergegen Klage erhoben habe, könne sich die Beklagte zu 1 auf ihren Versagungsbescheid auch gegenüber der Klägerin berufen. Hierbei sei nicht mehr zu prüfen, ob die Versagung des Versicherungsschutzes zu Recht erfolgt sei. Das Oberlandesgericht hat die klagabweisende Entscheidung des Landgerichts bestätigt, weil die Entziehung des Versicherungsschutzes sachlich gerechtfertigt sei. Mit der Revision erstrebt die Klägerin weiterhin die Verurteilung der Beklagten zu 1.
Entscheidungsgründe
I. Die Klägerin macht als Rechtsnachfolgerin der ersatzberechtigten Hinterbliebenen des Getöteten We. die auf sie nach § 1542 RVO übergegangenen Schadensersatzansprüche gegen den Fahrer, den Beklagten zu 2, geltend. Insoweit ist der Rechtsstreit durch die rechtskräftige Verurteilung des Beklagten zu 2 (Versäumnisurteil) erledigt. Daneben nimmt die Klägerin wegen ihrer Ersatzansprüche auf Grund des § 3 PflVG auch den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer, die Beklagte zu 1, in Anspruch.
Die Beklagte zu 1 hatte durch Schreiben vom 22. März 1971 sowohl dem Halter als auch dem Fahrer des Unfallfahrzeugs den Versicherungsschutz entzogen. Da keiner der beiden dagegen Klage erhoben hatte, hält sich die Beklagte zu 1 auf Grund des § 12 Abs. 3 VVG auch gegenüber der Klägerin ohne weitere Nachprüfung der Versagungsgründe für leistungsfrei. Das Berufungsgericht ist dieser Auffassung nicht gefolgt. Es hält die Beklagte zu 1 nicht für berechtigt, sich auf Grund ihres Versagungsbescheides auf ihre Leistungsfreiheit zu berufen. Denn die Klägerin habe rechtzeitig Klage erhoben. Ihre Klageschrift sei am 13. September 1971 bei Gericht eingegangen. Die Zustellung am 8. Oktober 1971 sei gemäß § 261 b Abs. 3 ZPO noch als „demnächst” erfolgt anzusehen, so daß die Klagefrist von sechs Monaten nach dem Ablehnungsbescheid vom 22. März 1971 noch gewahrt sei.
Die Klägerin kann als Sozialversicherungsträgerin unbeschadet der Regelung des § 12 Abs. 3 VVG gegen den Haftpflichtversicherer auf Ersatz ihres Schadens klagen.
Selbst eine Klagefrist, die wirksam dem Versicherungsnehmer oder einem Versicherten gesetzt und von ihm nicht genutzt worden ist, hindert den Sozialversicherungsträger nicht daran, vom Gericht eine Nachprüfung der Versagungsgründe auf ihre sachliche Berechtigung zu verlangen. Zur Begründung wird auf die Ausführungen des Senats in der Sache IV ZR 208/72 – Urteil vom 4. Dezember 1974 –, das in der Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofes veröffentlicht wird, Bezug genommen.
II. Im allgemeinen kann der Haftpflichtversicherer seine Leistungsfreiheit dem ersatzberechtigten Dritten nicht entgegenhalten (§ 3 Nr. 4 und 5 PflVG). Ausnahmsweise haftet der Haftpflichtversicherer bei einem „kranken” Versicherungsverhältnis nach § 3 Nr. 6 PflVG in Verbindung mit § 158 c Abs. 4 VVG aber nicht, wenn und soweit der Dritte in der Lage ist, Ersatz seines Schadens von einem Sozialversicherungsträger zu erlangen. Die Entscheidung der Klage hängt deshalb davon ab, ob die Beklagte zu 1 aus irgendeinem Grunde leistungsfrei geworden ist oder nicht.
1. Nach Meinung des Berufungsgerichts ist die Beklagte zu 1 gegenüber ihrem Versicherungsnehmer, dem Halter Wel. dadurch leistungsfrei geworden, daß dieser seine Aufklärungspflicht verletzt habe. Denn er habe der Beklagten zu 1 weder den Versicherungsfall angezeigt noch habe er ihr von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen den Beklagten zu 2 Mitteilung gemacht. Da Wel. seine Aufklärungspflicht vorsätzlich verletzt habe, komme es nicht darauf an, ob sein Verhalten die Feststellung des Versicherungsfalles oder die Feststellung oder den Umfang der Leistungen des Versicherers beeinflußt habe.
Die Revision weist demgegenüber mit Recht darauf hin, daß die vermeintliche Verletzung der Aufklärungspflicht des Versicherungsnehmers sich nicht zum Nachteil des mitversicherten Fahrers auswirkt (BGHZ 49, 130 = VersR 1968, 185). – Im übrigen wäre die Nichtanzeige des Versicherungsfalles nach § 33 Abs. 2 VVG unschädlich, weil die Beklagte zu 1 von dem Versicherungsfall durch die Anzeige der Innungskrankenkasse bereits am 9. September 1970 Kenntnis erlangt hat.
Es bleibt danach allein das Schweigen des Halters Wel. auf das Schreiben der Beklagten zu 1 vom 17. September 1970 übrig. Das Berufungsgericht denkt dabei vornehmlich an die Nichtanzeige des gegen den Fahrer eingeleiteten Ermittlungsverfahrens. Es steht aber keineswegs fest, daß der Halter Wel. als er die Antrage der Beklagten zu 1 erhielt, von dem Ermittlungs- oder Strafverfahren Kenntnis hatte. Es fehlt auch ein Anhalt dafür, daß er später von dem Verfahren gegen den Fahrer, an dem er völlig unbeteiligt war, nähere Einzelheiten erfahren hat. Weiter ist nicht ersichtlich, warum die Beklagte zu 1 sich erst im Februar 1971 um die Strafakten gekümmert hat. Denn sie war dazu nach dem Empfang des Schreibens der Innungskrankenkasse vom 8. September 1970 durchaus in der Lage. Unter diesen Umständen war die Beklagte zu 1 bei ihrem Bestreben, den Strafprozeß laufend zu verfolgen, nicht entscheidend auf die Mithilfe des Halters Welk angewiesen. Der Halter Wel. hätte zwar, vorausgesetzt er hätte überhaupt von dem Strafverfahren Kenntnis gehabt, durch seine Anzeige die Abwicklung des Versicherungsfalles erleichtern können, er hat aber durch seine Unterlassung keine an die Grundlagen des Versicherungsverhältnisses rührenden Belange des Versicherers in ernsthafter Weise gefährdet. In einem solchen Fall kann sich der Versicherer selbst bei einer vorsätzlichen Verletzung der Aufklärungspflicht auf seine Leistungsfreiheit nicht berufen (BGHZ 53, 160 = VersR 1970, 241; BGH LM Nr. 29 zu § 6 VVG = VersR 1970, 337). Die Beklagte hat in ihrem Schreiben vom 22. März 1971, mit der sie dem Halter Wel. den Versicherungsschutz entzogen hat, die Verletzung der Aufklärungspflicht auch nicht erwähnt.
2. Der von der Beklagten zu 1 angegebene Versagungsgrund, der Fahrer habe zur Zeit des Unfalls keine gültige Fahrerlaubnis besessen, hat sich nicht aufklären lassen. In der angeblich fehlenden Fahrerlaubnis hat das Berufungsgericht deshalb keinen Grund gesehen, die Leistung zu verweigern. Dem ist zuzustimmen.
3. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist die Beklagte zu 1 dagegen sowohl dem Halter als auch dem Fahrer gegenüber von der Leistung frei geworden, weil die Voraussetzungen der §§ 23, 25 VVG gegeben seien. Etwa drei Wochen vor dem Unfall, am 30. Juli 1970, sei der Kraftwagen dem Verein zur Überwachung von Kraftfahrzeugen in Sylbach zur Überprüfung (§ 29 StVZO) vorgeführt worden. Der Sachverständige habe dabei folgende Mängel festgestellt: „Bremsleitungen sind verrostet, Betriebsbremse zieht vorn einseitig, Wagen zieht nach einer Seite”. Infolge dieser Mängel habe sich das Fahrzeug in einem nicht uneingeschränkt verkehrssicheren Zustand befunden. Die Prüfplakette sei deshalb nicht ausgehändigt worden. Von diesen „gefahrerhöhenden Umständen” hätten sowohl der Fahrer, der den Wagen vorgeführt habe, als auch der Halter selbst die erforderliche Kenntnis gehabt. Denn der Fahrer, dessen Kenntnis sich der Halter nach § 79 Abs. 1 VVG anrechnen lassen müsse, habe das Fahrzeug damals ständig gefahren, weil dem Halter Wel. die Fahrerlaubnis entzogen worden sei.
Selbst wenn man mit dem Berufungsgericht in den festgestellten Mängeln erhebliche Fehler, welche die Verkehrssicherheit des Fahrzeugs wesentlich beeinträchtigen, sieht, muß die vorgenommene Gefahrerhöhung noch auf einem Verschulden des Versicherungsnehmers beruhen; andernfalls bleibt die Leistungspflicht des Versicherers bestehen (§ 25 Abs. 2 Satz 1 VVG). Die Beteiligten hatten zwar die gefahrändernden Umstände gekannt; von ihrer Bedeutung als „gefahrerhöhende Umstände” hatten sie jedoch keine zutreffende Vorstellung. Denn der Technische Überwachungsverein hatte wegen der festgestellten Mängel weder die weitere Benutzung des Kraftfahrzeuges untersagt noch für die Beseitigung der Mängel eine Frist gesetzt. Unter diesen Umständen ist in der weiteren kurzfristigen Benutzung des Fahrzeugs keine schuldhafte Verletzung der Gefahrstandspflicht zu sehen. Hiermit entfällt für die Beklagte zu 1 der Grund dafür, den Versicherungsschutz zu versagen.
III. Gegenüber der Klageforderung beruft sich die Beklagte auf ein Mitverschulden des Getöteten Westerheide, das zu einer erheblichen Kürzung des geltend gemachten Anspruches führen müsse. Denn Westerheide hätte als Mitfahrer begründete Zweifel an der Fahrtüchtigkeit des Fahrers haben müssen, da dieser wiederholt die erlaubte Höchstgeschwindigkeit innerhalb und außerhalb der geschlossenen Ortschaften überschritten habe. Für ihr Vorbringen hatte sich die Beklagte auf das Zeugnis des Mitfahrers Schroeder und auf den Bericht des Polizeiobermeisters Hermann Sc. berufen.
Das Berufungsgericht hat die Klage abgewiesen und ist deshalb auf ein Mitverschulden des Getöteten We. nicht eingegangen. Bei dem Blutalkoholgehalt von 1,6 %o, den der Fahrer zur Unfallzeit gehabt hat, erscheint es indes nicht ausgeschlossen, daß der Getötete Westerheide die Fahruntüchtigkeit des Fahrers, des Beklagten zu 2, erkannt hat oder bei gebotener Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen. – Alsdann wird das Berufungsgericht auch zu prüfen haben, ob sich die erbrachten Rentenleistungen der Klägerin innerhalb des erstattungspflichtigen Unterhaltsschadens (§ 844 Abs. 2 BGB) halten.
Um die insoweit noch erforderlichen Feststellungen treffen zu können, ist der Rechtsstreit unter Aufhebung des Berufungsurteils an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Unterschriften
Dr. Hauß, Johannsen, Dr. Pfretzschner, Dr. Bukow, Rottmüller
Fundstellen