Entscheidungsstichwort (Thema)

Strafsache

 

Tenor

Die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Rottweil vom 22. Juli 1983 wird verworfen.

Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Von Rechts wegen

 

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagte wegen zwei tatmehrheitlich begangener Vergehen der Beihilfe zum sexuellen Mißbrauch von Schutzbefohlenen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision der Angeklagten mit der Aufklärungsrüge und der Sachbeschwerde. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I. Verfahrensrüge:

Die Revision beanstandet, die Strafkammer habe ihre Aufklärungspflicht verletzt, indem sie die Zwangslage, die der Angeklagten bei einer erneuten Inhaftierung ihres Ehemannes durch Übergriffe ihrer Söhne Nikolaus V. und Günter G. drohte, nicht hinreichend erforscht habe.

Die Rüge ist unzulässig, da sie nicht in einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Weise ausgeführt ist. Die Revision trägt zwar vor, weitere Ermittlungen hätten zur Feststellung einer notstandsähnlichen Zwangslage der Angeklagten geführt, doch versäumt sie es anzugeben, auf welchem Wege das Gericht die vermißte Sachaufklärung hätte versuchen sollen, insbesondere, welche Beweismittel es zur weiteren Erforschung der Wahrheit hätte benutzen müssen (KK-Pikart § 344 Rdn. 51 m.w.N.).

Ebenso unterläßt sie es, Umstände mitzuteilen, die das Tatgericht zu weiterer Aufklärung drängten. Dessen hätte es umsomehr bedurft, als die Strafkammer den Feststellungen zu dem Verhalten der beiden Söhne (UA S. 7, 9) ersichtlich die Angaben der Angeklagten zugrunde gelegt hat.

Soweit die Revision ausführt, die Urteilsgründe gäben die Beziehungen zwischen der Angeklagten und den beiden Söhnen nur in abgeschwächter Form wieder, wendet sie sich in unzulässiger Weise gegen die tatrichterlichen Feststellungen.

II. Sachrüge:

Der Angeklagten wird angelastet, sie habe es unterlassen, ihren Ehemann bei Jugendamt oder Polizei anzuzeigen, als sie feststellte, daß dieser mit ihren beiden Töchtern aus erster Ehe fortgesetzt geschlechtlich verkehrte. Die Revision wendet dagegen ein, die Strafkammer sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß der Angeklagten eine solche Anzeige zuzumuten gewesen sei. Ihre Einwendungen sind im Ergebnis unbegründet.

1. In Rechtsprechung und Schrifttum besteht weitgehend Einigkeit, daß die Strafbarkeit der Begehung sogenannter unechter Unterlassungsdelikte unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit der unterlassenen Handlung steht (BGHST 39 203, 206; 49 20, 23; 69 46, 57; 11, 135, 138; BGH GA 1963, 16; BGH NJW 1964, 732; BGH bei Dallinger JR 1968, 6 ff.; BGH Urteil vom 13. April 1976 – 1 StR 45/76; OLG Bremen NJW 1957, 72; OLG Köln NJW 1973, 861; OLG Karlsruhe MDR 1975, 771; Stree in Schönke/Schröder, StGB 21. Aufl. vor § 13 Rdn. 155 f.; Dreher/Tröndle, StGB 41. Aufl. § 13 Rdn. 15 f.; Rudolphi in SK vor § 13 Rdn. 31 ff.; Lackner, StGB 15. Aufl. § 13 Anm. 4; a.A. Jeschek LK vor § 13 Rdn. 91). Dafür, ob ein bestimmtes, den strafrechtlich mißbilligten Erfolg abwendendes Verhalten zumutbar ist, lassen sich allerdings nur allgemeine Grundsätze aufstellen. Zwar ist ein strenger Maßstab anzulegen; im übrigen aber handelt es sich um eine vornehmlich dem Tatrichter vorbehaltene Wertung des Einzelfalles (BGHST 6, 46, 57). Durch diese Wertung sind die widerstreitenden Interessen einschließlich des Grades der ihnen drohenden Gefahren gegeneinander abzuwägen, und es ist zu entscheiden, ob die Pflichterfüllung unzumutbar ist, weil das Gewicht der Interessen, die der Täter preisgeben soll, dem Gewicht des drohenden Erfolges entspricht (BGH, Urteil vom 13. April 1976 – 1 StR 45/76; Stree in Schönke/Schröder aaO). Die Anforderungen an den Verpflichteten richten sich also nach der Schwere des drohenden Übels, das den Rechtsgütern droht, für die er eine Garantenpflicht hat (BGHST 4, 20, 23; BGH NJW 19649 732; Stree in Schönke/Schröder aaO; Dreher/Tröndle aaO Rdn. 16).

Allerdings ist anerkannt, daß im allgemeinen eine mit der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung verbundene Anzeige nächster Angehöriger bei staatlichen Stellen nicht zumutbar ist (BGHST 6, 46, 57; BGH NJW 1964, 732; OLG Bremen NJW 1957, 72, 73; OLG Köln NJW 1973, 861, 862). Doch gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt; es kommt vielmehr auf die Umstände des Einzelfalles an. Je schwerer die drohende Rechtsgutverletzung wiegt, um so eher ist die Zumutbarkeit einer Anzeige zu bejahen (vgl. BGH NJW 1964, 731, 732). Dem steht nicht entgegen, daß § 139 Abs. 3 StGB hinsichtlich der allgemeinen Anzeigepflicht eine Sonderregelung für Angehörige trifft; sie läßt die Fälle der Garantenstellung und einer sich daraus ergebenden Anzeigepflicht unberührt.

2. Die Angeklagte war nach den §§ 1626 Abs. 1, 1627, 1631 Abs. 1 BGB berechtigt und verpflichtet, die elterliche Personensorge, die den Schutz ungestörter sexueller Entwicklung der Kinder umfaßt, zum Wohl ihrer Töchter auszuüben. Sie mußte daher alles ihr Mögliche und Zumutbare tun, die sexuellen Handlungen des Angeklagten mit ihren 15 und 17 Jahre alten Töchtern zu unterbinden.

a) Dabei kann allerdings in solchen Fällen nicht von vornherein verlangt werden, daß die Polizei eingeschaltet wird. Grundsätzlich muß dem Verpflichteten die Möglichkeit offenbleiben, zunächst mit milderen Mitteln den Versuch einer Abhilfe zu unternehmen, wenn sie Erfolg verspricht (vgl. BGHST 6, 46, 57; BGH NJW 1964, 731, 732). Scheitert ein solcher Versuch, kann dem Verpflichteten in aller Regel kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß er nicht sofort zu einem weniger schonenden Mittel griff. Doch braucht die Frage nicht vertieft zu werden. Das Landgericht stellt fest, der Angeklagten sei bewußt gewesen, daß sie ihren Mann nur von seinem Tun abhalten konnte, indem sie den Sachverhalt dem Jugendamt oder der Polizei anzeigen würde (UA S. 6). Andere Versuche der Abhilfe hat sie auch nicht unternommen.

b) Unter den gegebenen Umständen war jedoch der Angeklagten auch eine Anzeige ihres Ehemannes bei Jugendamt oder Polizei zuzumuten. Dabei bedarf hier keiner weiteren Erörterung, ob sie sich zunächst auf die Einschaltung des Jugendamtes hätte beschränken dürfen. Auch wenn das Jugendamt nicht verpflichtet war, sogleich die Polizei mit der Sache zu befassen (vgl. R. Müller in KK § 158 Rdn. 26), sondern versuchen durfte, mit den ihm eröffneten Möglichkeiten für Abhilfe zu sorgen, so ging doch die Angeklagte ersichtlich davon aus, daß auch die Inanspruchnahme des Jugendamtes letztlich zu einer Bestrafung ihres Ehemannes führen würde.

Diese Folge mußte die Angeklagte jedoch bei der gegebenen Sachlage hinnehmen. Die von ihrem Ehemann in ständiger Wiederholung für einen unabsehbaren Zeitraum zu erwartenden Straftaten an ihren Töchtern wogen schwer. Bei den betroffenen Mädchen waren nicht nur vorübergehende psychische Reaktionen (Furcht vor dem Täter, Schuldgefühle gegenüber der Mutter), sondern auch Störungen der Persönlichkeitsentwicklung in Form neurotischer Symptombildung und anderer psychopathologischer Auffälligkeiten zu befürchten (Maisch, Inzest S. 121 ff., 164 f.; Gerchow, Beiträge zur Sexualforschung Bd. 33 (1965) S. 38, 48).

Demgegenüber kann das grundsätzlich billigenswerte Anliegen der Angeklagten, den Ehemann vor neuer Haft zu bewahren, weiter mit ihm zusammenleben zu können und zugleich den Rückgang des Familieneinkommens auf die Leistungen der staatlichen Sozialhilfe zu verhindern, nicht entscheidend ins Gewicht fallen. Für diese Abwägung ist von besonderer Bedeutung, daß ein Ende des massiven Mißbrauchs der Mädchen nicht abzusehen war, daß Monika als körperlich und geistig behindertes Kind besonders schutzbedürftig war und daß ein weiteres Dulden der Taten durch die Mutter zum völligen Auseinanderbrechen der Familie führen konnte (vgl. zu letzterem Maisch aaO S. 160 und Beiträge zur Sexualforschung Bd. 33 (1965) S. 51, 56).

Schließlich stellt das Interesse der Angeklagten, sich den Schutz ihres Ehemannes gegenüber ihren – nicht im Haushalt lebenden – Söhnen zu erhalten, die Zumutbarkeit der Anzeige nicht in Frage. Die Angeklagte hätte unter den gegebenen Umständen auch insoweit notfalls polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen können.

Insgesamt kann daher die tatrichterliche Gesamtwürdigung des „Konflikts” (UA S. 9, 12), die Belange ihrer Töchter hätten die sonstigen Interessen der Angeklagten deutlich überwogen, nicht beanstandet werden. Die Herabsetzung der Widerstandskraft der Angeklagten durch körperlich-seelischen Verschleiß (UA S. 12) hat das Landgericht nicht übersehen.

3. Auf die Möglichkeit eines Gebotsirrtums der Angeklagten über die Zumutbarkeit einer Anzeigenerstattung gegen ihren Ehemann geht das Landgericht nicht ausdrücklich ein (vgl. dazu Stree in Schönke/Schröder aaO Rdn. 155). Aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich jedoch, faß die Angeklagte nicht annahm, sie dürfe den entstandenen Konflikt in der Weise lösen, daß sie den sexuellen Mißbrauch ihrer Töchter dulde.

4. Auch die Strafzumessung läßt Rechtsfehler nicht erkennen. Dem Einwand der Revision, die wegen der Beihilfe zum Mißbrauch der Tochter Susanne festgesetzte Einzelstrafe sei überhöht, weil dieses Mädchen weniger schutzwürdig sei als ihre körperlich und psychisch in der Entwicklung zurückgebliebene Schwester, kann nicht gefolgt werden. Insoweit übersieht die Revision, daß der Angeklagte wegen des Mißbrauchs der Stieftochter Susanne bereits im Jahre 1980 bestraft worden war; alsbald nach seiner Entlassung aus der Strafhaft hatte er mit Susanne erneut geschlechtliche Beziehungen aufgenommen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 609918

StV 1984, 460

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