Verfahrensgang
LG Berlin (Urteil vom 30.01.2002) |
Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 30. Januar 2002 aufgehoben, soweit der Angeklagte wegen Mordes und versuchten Mordes verurteilt worden ist. Damit entfällt die lebenslange Gesamtfreiheitsstrafe.
Der Angeklagte wird vom Vorwurf des Mordes und des versuchten Mordes freigesprochen.
Im Umfang des Freispruchs fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last.
Die Entscheidung über die Entschädigung des Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Tatbestand
Das Landgericht hat den Angeklagten zunächst wegen Mordes und versuchten Mordes zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Dieses Erkenntnis hat der Senat durch Urteil vom 21. Januar 1998 (BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 30) aufgehoben. Daraufhin hat das Landgericht den Angeklagten am 8. Februar 1999 freigesprochen (und ihn wegen – anderweitiger – vorsätzlicher Körperverletzung und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt). Den Freispruch hat der Senat durch Urteil vom 5. Juli 2000 (NStZ-RR 2000, 334) aufgehoben. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten wegen Mordes, versuchten Mordes (und einer inzwischen begangenen vorsätzlichen Körperverletzung, deretwegen eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten verhängt worden ist) zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Die allein gegen die Verurteilung wegen Mordes und versuchten Mordes gerichtete Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg, so daß es auf die Verfahrensrügen nicht ankommt.
I.
Das Landgericht hat zum Vorwurf des Mordes und des versuchten Mordes im wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte und die Nebenklägerin waren einander intim verbunden und seit dem Sommer 1993 verlobt. Im Sommer 1995 war das Verhältnis jedoch weitgehend zerrüttet, zumal da der Angeklagte jedes sexuelle Interesse an der Nebenklägerin verloren hatte und Beziehungen zu anderen Frauen unterhielt. Der Angeklagte zeigte sich andererseits übertrieben eifersüchtig und wurde mehrfach handgreiflich. Die Nebenklägerin trug sich deshalb im Sommer 1995 intensiv mit dem Gedanken einer Trennung von dem Angeklagten. Am Nachmittag des 24. August 1995 beobachtete die Nebenklägerin den Angeklagten dabei, wie er sich von einer unbekannt gebliebenen Frau mit einem Kuß verabschiedete. Diese Beobachtung veranlaßte die Nebenklägerin endgültig, den Angeklagten aus der gemeinsamen Wohnung zu weisen und die Verlobung zu lösen. Sie packte seine Habseligkeiten in Plastiksäcke und stellte sie an die Tür. Als der Angeklagte sich abends, nachts oder in den ersten Morgenstunden des 25. August 1995 einfand, eröffnete die Nebenklägerin ihm, daß sie sich unwiderruflich von ihm trenne, und verwies ihn der Wohnung. Der Angeklagte wollte eine Trennung zwar nicht akzeptieren, verließ aber nach einem lauten Streit unter Mitnahme seiner Kleidung die Wohnung.
Die Nebenklägerin war Schülerin einer Krankengymnastik-Schule und arbeitete abends und am Wochenende für den später Getöteten … M.. Dieser 69jährige, wohlhabende und an mehreren Krankheiten leidende Mann ließ sich in seiner zweietagigen Wohnung „rund um die Uhr” durch eine organisierte Gruppe von Pflegekräften betreuen, zu der die Nebenklägerin gehörte. Am 26. August 1995 trat die Nebenklägerin ihren Tagesdienst in der Wohnung M s frühmorgens an. Alsbald danach erschien dort der Angeklagte. „Überrumpelt” durch das unerwartete Auftauchen des Angeklagten, ließ die Nebenklägerin ihn ein. Der Angeklagte, der die Erklärung der Nebenklägerin, sich von ihm zu trennen, nicht akzeptieren wollte, verlangte zunächst Geld von ihr und sprach ihr das Recht ab, die Beziehung einseitig zu beenden. Die Nebenklägerin erwiderte dem erregt brüllenden Angeklagten, es sei „Schluß”, er solle zu seinen anderen Frauen gehen. Der im Erdgeschoß geführte Disput war so laut, daß der im Obergeschoß im Bett liegende M ihn vernahm und nach der Nebenklägerin rief. Diese versuchte, den Angeklagten zum Verlassen der Wohnung zu bewegen, und wandte sich kurz ab, um M nach oben zuzurufen, sie werde sogleich kommen. In dieser Situation schlug der Angeklagte mit einem „länglichrunden und festen Tatwerkzeug” vier- bis fünfmal heftig auf den Kopf der Nebenklägerin ein. Dabei nahm der Angeklagte ihren Tod billigend in Kauf. Er handelte in verletztem Selbstwertgefühl aus Rache für die Entscheidung der Nebenklägerin, die Beziehung zu ihm zu lösen. Von seinem Opfer ließ er erst ab, als sie blutüberströmt regungslos liegenblieb. Er ging nun davon aus, daß sie an den zugefügten Verletzungen entweder bereits gestorben war oder binnen kurzem sterben werde. Angesichts dessen, daß M. auf den Streit und somit die Anwesenheit einer fremden Person, die noch dazu offensichtlich mit der Nebenklägerin bekannt war, aufmerksam geworden war, entschloß sich der Angeklagte, ihn als unliebsamen Zeugen auszuschalten. Er begab sich in das obere Geschoß und schlug mit dem genannten Gegenstand mehrfach so kräftig auf den Kopf M s ein, daß dieser zu keiner Abwehr mehr fähig war und mehrfache Schädelfrakturen erlitt, an denen er, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, einige Wochen später verstarb.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beweiswürdigung hält sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.
Der Angeklagte hat zum Tatvorwurf in der Hauptverhandlung geschwiegen und in einem früheren Verfahrensstadium seine Täterschaft bestritten. Zentrales Beweismittel zur Überführung des Angeklagten, das nur durch weniger gewichtige andere Beweismittel ergänzt wird, ist die Aussage der Nebenklägerin, die den Angeklagten als den Täter bezeichnet hat. Das Landgericht hat zur Entwicklung der Angaben der Nebenklägerin folgendes festgestellt: Die Nebenklägerin erlitt eine schwere Schädelfraktur und infolge von Kontusions- und hinzutretenden diffusen Hirndruckschäden eine noch heute vorliegende schwere Hirnschädigung. Sie lag lange im künstlichen Koma und konnte auch nach dessen Beendigung wegen eines künstlichen Luftröhrenausgangs zunächst nicht sprechen. In der ersten Dezemberwoche 1995 sagte die Nebenklägerin zu einer Zimmergenossin im Krankenhaus, ihr Vater meine, „T „ sei es gewesen, sie selbst könne sich aber nicht daran erinnern. Etwa zu dieser Zeit, in der sich ihr Zustand deutlich verbesserte, berichtete die Nebenklägerin gegenüber dem sie behandelnden Arzt Dr. R, sie erinnere sich allmählich an den Vorfall. Sie erzählte davon, es sei bei M gewesen. „Er” sei gekommen. „Er” habe oben mit M. gestritten, sie sei dazwischengegangen und sei dann selbst von „ihm” mit einer Art Schlagstock geschlagen worden. Sie beschrieb den Täter als kräftigen jungen Mann. Diese Darstellung wiederholte sie mehrfach, bis sie schließlich kurz vor dem 13. Dezember 1995 zu Dr. R sagte, der, der sie geliebt habe, sei der Täter gewesen. Er habe Geld von M. gewollt. Diese Angaben wiederholte sie sinngemäß in Gegenwart des Kriminalbeamten L. Erst nach der Verhaftung des Angeklagten am 13. Dezember 1995 sprach sie auch ihren Eltern gegenüber davon, daß dieser sie überfallen habe. In der Hauptverhandlung hat die Nebenklägerin die gegen sie begangene Tat so geschildert, wie das Schwurgericht diese festgestellt hat.
Das Landgericht hat sich zunächst – was fern jeder Beanstandung ist – von der „Aufrichtigkeit” der Nebenklägerin überzeugt. Es hat sodann geprüft, ob die Nebenklägerin etwa – bedingt durch ihre schwere Hirnverletzung – lediglich subjektiv davon überzeugt ist, daß ihre (letzte) Tatschilderung auf selbst Erlebtem beruht, objektiv aber irrt. Es hat hierzu vier Sachverständige aus den Bereichen Psychiatrie, Neurologie, Neurobiologie und Neuropsychologie gehört, darunter Spezialisten für Gedächtnisforschung und Hirnschäden. Es ist in der Würdigung der Gesamtheit der Angaben dieser Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, daß die Nebenklägerin aufgrund realer Erinnerung den Angeklagten als Täter bezeichnet habe. Dabei hat das Landgericht auch umfangreich erwogen, daß sich die Angaben, die die Nebenklägerin in der Hauptverhandlung gemacht hat, erheblich von der ersten Version ihrer Tatschilderung unterscheiden. Nach der ersten Version hat der Täter „oben”, also im Obergeschoß, wo M im Bett lag, mit diesem gestritten; die Nebenklägerin sei „dazwischengegangen” – das kann nur heißen: im Obergeschoß – und dann selbst von dem Täter mit einer Art Schlagstock geschlagen worden. Indes ergibt das Bild der massiven Blutspuren, daß der Angriff auf die Nebenklägerin im Erdgeschoß erfolgte. Daraus ergeben sich zwei Probleme, die vom Landgericht – trotz aller Umsicht im übrigen – nicht hinreichend erörtert werden:
Das Phänomen, daß die Nebenklägerin zunächst wesentlich andere Angaben zum Tatgeschehen gemacht hat als die spätere Tatschilderung, auf der die Feststellungen fußen, hat das Landgericht zwar erörtert. Es hat zur Erklärung dieser „Diskontinuität im Aussageinhalt zur Tat” auf äußere Umstände abgestellt, die beiden von der Nebenklägerin geschilderten Versionen eigen sind, jedoch schwerlich ergeben, daß die Aussagen im „Kern doch konstant” seien. An dieser Stelle ist vielmehr die Erörterung zu vermissen, ob und mit welchem Ergebnis die Sachverständigen sich zu der – nach alledem zentralen – Frage geäußert haben, ob es wenigstens möglich, etwa plausibel erklärbar oder gar naheliegend ist, daß die Nebenklägerin im Zuge der Entwicklung ihrer Aussagen zunächst eine objektiv unwahre und später eine wahre Schilderung des Tatgeschehens abgegeben hat.
Es kommt hinzu, daß es ausgeschlossen erscheint, die Nebenklägerin hätte, als sie nach den erlittenen Schlägen blutüberströmt regungslos liegenblieb, den anschließenden Angriff des Täters auf M im Obergeschoß wahrgenommen. Deshalb kann – auf der Basis der Feststellungen – die erste von der Nebenklägerin gegebene Schilderung nicht zutreffen. Es bestehen hierfür nur die Erklärungsmöglichkeiten, daß diese erste Tatschilderung der Nebenklägerin auf einer Suggestion durch Dritte, auf einer von der Nebenklägerin – etwa aufgrund von Andeutungen Dritter – selbst vorgenommenen Schlußfolgerung oder sonst auf einer „Konfabulation” beruht. Danach bleibt die – im angefochtenen Urteil unerörterte – Frage offen, ob etwa – oder warum nicht auch – die letzte von der Nebenklägerin abgegebene Tatschilderung gleichermaßen auf Suggestion, Schlußfolgerung oder Konfabulation beruhen kann. Auch in diesem Punkt ist die Mitteilung zu vermissen, ob und gegebenenfalls wie die Sachverständigen sich hierzu geäußert haben. Dies gilt namentlich angesichts dessen, daß die Bekundungen der Zeugin W, einer Mitpatientin der Nebenklägerin, eine Diskussion der Frage nahelegten, ob etwa eine Suggestion – auch durch insoweit ungezielt handelnde Dritte – stattgefunden hat.
III.
Der Senat sieht sich daher genötigt, auch das dritte in dieser Sache ergangene Urteil des Landgerichts aufzuheben. Eine Zurückverweisung der Sache zu erneuter tatgerichtlicher Prüfung ist nicht erforderlich. Vielmehr kann der Senat durch Freispruch in der Sache selbst entscheiden (§ 354 Abs. 1 StPO; vgl. BGHSt 36, 316, 319; BGH NJW 1999, 1562, 1564). Der Senat schließt aus, daß im Falle einer Zurückverweisung der Sache in einer erneuten (vierten) Hauptverhandlung die Schuld des Angeklagten festgestellt werden könnte. Dies ergibt sich aus der bestehenden Beweislage.
Das zentrale Beweismittel zur etwaigen Überführung des Angeklagten ist die Aussage der Nebenklägerin. Dieses Beweismittel ist mit erheblichen Unsicherheiten behaftet. Namentlich zur Bedeutung dessen im Rahmen der vom Senat an dieser Stelle zu treffenden Entscheidung hat der Senat den Sachverständigen Professor Dr. von C angehört. Danach ist insbesondere von folgendem auszugehen: Zwar können nach dem Abklingen einer posttraumatischen Amnesie und der mit ihr verbundenen Konfabulationsneigung (nebst „Fehlvorstellungen”) und nach Schrumpfung der prätraumatischen Amnesie auf die letztlich verlorene („vergessene”) Zeitspanne vor der Hirnschädigung sichere Erinnerungen grundsätzlich wiedergewonnen werden. Über deren Qualität lassen sich aber angesichts der sehr eingeschränkten Möglichkeiten, sie objektiv zu überprüfen, nur Vermutungen anstellen. Allerdings werden in der spezialmedizinischen Literatur auch Einzelfälle einer „Erinnerung an alles” bis zum Zeitpunkt der dauerhaften Amnesie berichtet. Dennoch muß berücksichtigt werden, daß – im Vergleich zu Hirngesunden – bei Personen mit einer anterograden Amnesie wie der Nebenklägerin eine höhere Wahrscheinlichkeit für Gedächtnisfehler, -entstellungen und -illusionen besteht. Eine Schrumpfung der prätraumatischen Amnesie auf weniger als eine Minute ist nach den Ausführungen des Sachverständigen prinzipiell wohl möglich, jedoch sehr unwahrscheinlich. Hier lagen die von der Nebenklägerin bekundeten Tatrahmengeschehnisse im Bereich weniger Minuten, die gegen sie gerichtete Gewalthandlung im Bereich von Sekunden vor ihrer Gehirnverletzung. Hinzu kommt folgendes: Diejenige Tatversion der Nebenklägerin, welche – im Einklang mit dem Spurenbild am Tatort – der Verurteilung entspricht, wurde erstmals in einer Phase näher ausgeführt, in der nach den überzeugenden Bekundungen des vom Senat gehörten Sachverständigen noch eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine verletzungsbedingte Konfabulationsneigung der Zeugin bestand. Nach den Gegebenheiten des Falles sind zudem Möglichkeiten für die Entstehung eines stabilisierten Scheinerinnerungsbildes nicht von der Hand zu weisen.
Eine tragfähige Stützung der Angaben des Opfers existiert nicht. Die zweifellos teils in hohem Grade parallelen Gewalttaten des Angeklagten gegen andere Partnerinnen in der Trennungssituation und gar das Verhalten des Angeklagten am Abend des Tattages im Krankenhaus stellen nur relativ schwache Indizien dar. Eine Verbesserung der Beweislage ist nicht in Aussicht. Eine weitere Vernehmung oder sachverständige Begutachtung der Nebenklägerin über die zahlreichen erfolgten Bemühungen dieser Art hinaus verspricht, wie der Sachverständige Professor Dr. von C ausgeführt hat, einen weiteren Aufklärungsgewinn nicht. Bisher ungenutzte Beweismittel stehen ersichtlich nicht zur Verfügung.
IV.
Die Entscheidung über eine Entschädigung des Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen muß dem Landgericht überlassen bleiben. Die Prüfung, in welchem Umfang eine Entschädigung zu gewähren ist, hat sich auf den gesamten Sachverhalt zu erstrecken, der die Strafverfolgungsmaßnahmen ausgelöst hat. Dazu gehören auch diejenigen Verfahrensabschnitte, die nicht Gegenstand des erneuten Revisionsverfahrens waren (vgl. BGH NJW 1999, 1562, 1564).
Unterschriften
Harms, Häger, Basdorf, Gerhardt, Raum
Fundstellen
Haufe-Index 2558430 |
NStZ-RR 2004, 270 |
NPA 2005, 0 |