Leitsatz (amtlich)
Der Schadensersatzanspruch von Unfallwaisen wegen Entziehung des Unterhalts (§§ 10 Abs. 2 StVG, 844 Abs. 2 BGB) wird nicht dadurch gemindert, daß die Unfallwaisen an Kindes Statt angenommen werden.
Normenkette
StVG § 10 Abs. 2; BGB § 844 Abs. 2
Verfahrensgang
OLG München (Urteil vom 20.09.1968) |
LG Memmingen |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 20. September 1968 wird zurückgewiesen.
Die kosten der Revision fallen den Beklagten zur Last.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Am 11. Juli 1965 verschuldete der Zweitbeklagte am Steuer eines Omnibusses der Erstbeklagten einen Verkehrsunfall, bei dein die Eheleute Wendelin und Maria J. getötet wurden. Sie hinterließen drei gemeinsame Kinder im Alter von 12, 9 und 4 Jahren. Diese wurden durch Vertrag vom 5. Oktober 1966 von den Eheleuten Franz und Johanna Sch. an Kindes Statt angenommen.
Die Klägerin zahlt den drei Kindern Waisenrenten gemäß § 1267 RVO und Beiträge zur Krankenversicherung. Der Haftpflichtversicherer der Beklagten verweigert ab November 1966 die Rückerstattung der von der Klägerin geleisteten Beträge. Er meint, die Kinder hätten durch die Annahme an Kindes Statt einen neuen Unterhaltsanspruch, und zwar nunmehr gegen die Adoptiveltern erworben. Da dieser dem Unterhaltsanspruch völlig gleichstehe, den die Kinder infolge der Tötung ihrer Eltern gegen diese verloren haben, stehe den Kindern seitdem gegen den Schädiger ein Schadensersatzanspruch aus § 844 Abs. 2 BGB nicht mehr zu. Das müsse sich auch der Sozialversicherungsträger als Rechtsnachfolger entgegenhalten lassen.
Die Klägerin ist der Ansicht, der nach § 1542 RVO auf sie übergegangene Schadensersatzanspruch werde durch die Annahme an Kindes Statt nicht berührt. Mit ihrer Klage hat sie Erstattung der vom 1. November 1966 bis 30. September 1967 geleisteten Zahlungen sowie die Feststellung der künftigen Rückerstattungsverpflichtung der Beklagten begehrt.
Land- und Oberlandesgericht haben der Klage mit verschiedener Begründung stattgegeben.
Mit der Revision erstreben die Beklagten weiterhin die Abweisung der Klage.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, wegen des bereits im Zeitpunkt ihrer Entstehung eingetretenen Übergangs der Schadensersatzansprüche der Unfallwaisen aus §§ 10 Abs. 2 StVG, 844 Abs. 2 BGB auf die Klägerin (§ 1542 RVO; BGHZ 48, 181, 188) habe die nachträgliche Adoption der Kinder einen Einfluß auf diese Ansprüche nicht mehr hoben können. Ebensowenig wie durch unmittelbare Verfügungen der bisherigen Gläubiger seien die übergegangenen Ansprüche durch irgendwelche Rechtsgeschäfte beeinträchtigt, welche diese mit Dritten nachträglich abschließen. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob der Schadensersatzanspruch durch die Annahme an Kindes Statt auch dann berührt worden wäre, wenn er nicht nach § 1542 RVO auf einen Sozialversicherungsträger übergegangen, sondern bei den Kindern verblieben wäre.
Dieser Begründung kann nicht beigetreten werden. Durch den Vertrag über die Annahme an Kindes Statt verfügten die Unfallwaisen nicht unmittelbar über den Schadensersatzanspruch der Klägerin, Die Annahme an Kindes Statt führte lediglich eine neue familienrechtliche Lage herbei, die kraft Gesetzes bestimmte unterhaltsrechtliche Folgen nach sich zog. Diese Folgen sind jedoch nicht schon allein deshalb der Klägerin gegenüber außer Betracht zu lassen, weil die Schadenersatzansprüche der Unfallwaisen vorher nach § 1542 RVO auf sie übergegangen waren. Der Schadensersatzanspruch wegen Entziehung des Unterhalts hängt in seiner Eigenschaft als Schadensersatzanspruch (§§ 249, 844 Abs. 2 S 1 BGB) auch sonst davon ab, wie sich der Unterhaltsanspruch gegen die getöteten Eltern ohne das schädigende Ereignis entwickelt haben würde. Der Schuldner des Schadensersatzanspruchs ist deshalb nicht grundsätzlich gehindert, sich auf den nachträglichen Eintritt von Umständen zu berufen, durch die der entzogene Unterhaltsanspruch verändert worden wäre. Die Beklagten können vielmehr nach §§ 412, 404 BGB auch gegenüber der Klägerin als Zessionarin solche Umstände geltend machen, die, ohne in ausschließlicher Beziehung zum Wechsel des Gläubigers zu stehen, nach Wesen und Inhalt des Schuldverhältnisses den Schuldner zum Einwand berechtigen (RGZ 124, 111, 113; BGHZ 25, 27, 29). Es kommt deshalb darauf an, ob die Annahme an Kindes Statt bei Beachtung von Wesen und Inhalt des Schadensersatzverhältnisses zum Vorteil des Schädigers ausschlagen muß. Auch die Würdigung der Annahme an Kindes Statt als einer „mittelbaren” Verfügung über den Schadensersatzanspruch vermag hieran nichts zu ändern.
II. Das Berufungsurteil ist aber im Ergebnis richtig.
1. Zwar kann der Wegfall des Unterhaltsschadens der Unfallwaisen im Falle der Annahme an Kindes Statt nicht schon deshalb verneint werden, weil Unfallwaisen, die eine öffentlich-rechtliche oder privat-rechtliche Schadensrente beziehen, insoweit einen neuen Unterhaltsanspruch gegen die Adoptiveltern überhaupt nicht erwerben. Richtig ist allerdings, daß das Kind nach §§ 1757 Abs. 1, 1601 ff BGB Unterhalt von den Adoptiveltern bei fehlender Bedürftigkeit nicht fordern kann (§ 1602 Abs. 1 BGB). Jedoch kann mit dieser Abhängigkeit des Unterhaltsanspruchs des Kindes von seiner Bedürftigkeit nicht die Frage gelöst werden, ob der Schädiger sich gegenüber dem Kinde darauf berufen kann, daß es durch die Annahme an Kindes Statt einen neuen Unterhaltsanspruch erworben habe. Diese Frage darf nur aus dem Schadensersatzverhältnis beantwortet werden.
2. Die Entscheidung der Frage nach dem Einfluß der Annahme an Kindes Statt auf den Unterhaltsschaden kann auch nicht aus § 1766 BGB hergeleitet werden, wonach der Unterhaltsanspruch des Kindes gegen seine leiblichen Eltern durch die Annahme an Kindes Statt nicht untergeht, sondern dem Unterhaltsanspruch gegen die Adoptiveltern lediglich nachgeordnet wird. Denn wenn daraus auch gefolgert werden könnte, daß dem Kinde das Recht auf den Unterhalt nach wie vor im Sinne der §§ 10 Abs. 2 StVG, 844 Abs. 2 BGB „entzogen” sei, bliebe doch offen, ob nicht auch der Schadensersatzanspruch so lange zurücktreten müßte, wie die Adoptiveltern zur Gewährung des Unterhalts verpflichtet sind.
3. Die Frage nach der Berücksichtigung der Annahme an Kindes Statt im Rahmen der Schadensersatzpflicht wegen entzogenen Unterhalts kann vielmehr nur aus allgemeinen schadensrechtlichen Gesichtspunkten beantwortet werden.
Die Annahme an Kindes Statt steht mit dem schädigenden Ereignis in adäquaten ursächlichen Zusammenhang, denn ohne den Tod der Eltern wäre es, wie im vorliegenden Falle anzunehmen ist, nicht zur Annahme an Kindes Statt gekommen. Ein solcher Verlauf liegt auch nicht außerhalb der Erfahrung. Somit läßt sich zwar zugunsten des Schädigers sagen, daß das schädigende Ereignis, wenn auch erst nach Hinzutreten eines weiteren Umstandes, neben dem Schaden auch den Vorteil ausgelöst hat, daß die Unfallwaisen nunmehr von ihren Adoptiveltern Unterhalt beanspruchen können.
Dies allein genügt aber nicht, um diesen Vorteil auf den Unterhaltsschaden anzurechnen; die Vorteilsanrechnung müßte auch dem Zweck des Schadensersatzes entsprechen und sie darf nicht zu einer unbilligen Entlastung des Schädigers führen; die Entscheidung darüber, was hiernach im Einzelfall anzurechnen ist, hat der Gesetzgeber, der Rechtsprechung überlassen (BGHZ 8, 325, 328, 329; 10, 107, 108; 30, 29, 31; 49, 56, 62).
Nach Ansicht der Revision muß diese Entscheidung im Falle der Adoption von Unfallwaisen ebenso ausfallen wie im Falle der Wiederverheiratung des Witwers, nämlich im Sinne des Wegfalls des Unterhaltsschadens (so BGH, Urt. v. 16. Februar 1970 – III ZR 183/68 – VersR 1970, 522, 524). Dem kann nicht beigetreten werden. Beide Fälle liegen unter Billigkeitsgesichtspunkten, die den Zweck des Schadensersatzes berücksichtigen, verschieden.
a) Der Ehegatte hat nach § 1360 BGB einen von seiner eigenen Bedürftigkeit unabhängigen Unterhaltsanspruch. Diese gesetzliche Regelung würde bei Nichtanrechnung des von der zweiten Ehefrau geleisteten Unterhalts auf den Schaden dazu führen, daß der wiederverheiratete Ehegatte die Schadensersatzleistung wegen Entziehung des Unterhalts der ersten Ehefrau neben der Unterhaltsleistung der zweiten bezöge. Das erscheint gerade unter Billigkeitsgesichtspunkten allerdings ungerechtfertigt.
Eine derartige Häufung der Leistungen ist im Falle der Annahme an Kindes Statt nicht gegeben.
Nach §§ 1757 Abs. 1, 1602 Abs. 1 BGB kann ein Kind von den Adoptiveltern nur insoweit Unterhalt verlangen, als es bedürftig ist. Seine Bedürftigkeit ist ausgeschlossen, soweit es eine Schadensersatzrente nach § 844 Abs. 2 BGB oder eine Rente aus der Sozialversicherung erhält (RG, WarnRspr 1908 Nr. 221; Staudinger/Gotthardt, BGB 10./11. Aufl. § 1602 Rdz 6; BGB RGRK § 1602 Anm. 19). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 1602 Abs. 2 BGB, der minderjährigen unverheirateten Kindern einen gesteigerten Unterhaltsanspruch gewährt. Nach § 1602 Abs. 2 BGB entfällt die Unterhaltsbedürftigkeit minderjähriger Kinder nicht deshalb, weil sie Vermögen haben. Zum Vermögen i.S. des § 1602 Abs. 2 BGB rechnet aber bei Renten nur das Rentenstammrecht und nicht der Anspruch auf die laufenden Rentenbeträge. Dieser Anspruch auf wiederkehrende Leistungen ist vielmehr ebenso zu behandeln wie Einkünfte aus Vermögen, die die Bedürftigkeit auch dieser Kinder ausschließen (Soergel/Lange, BGB 9. Aufl. § 1602 Rdz 10; Schrade, FamRZ 1957, 342, 344, 346).
Die von Wussow (WJ 1958, 165, 167 und Unfallhaftpflichtrecht 10. Aufl. Rdz 1123) geäußerten Bedenken, die Schadensersatzrente dürfe im Falle der Adoption nicht zu einer Verdoppelung der Unterhaltsansprüche führen, sind demnach unbegründet. Da das Kind wegen § 1757 Abs. 1, 1602 BGB niemals doppelt entschädigt wird, besteht anders als bei der Wiederheirat einer Witwe oder eines Witwers hier kein Bedürfnis, den Schadenersatzanspruch aus § 844 Abs. 2 BGB einzuschränken.
b) Es wäre aber auch unbillig, den Schädiger deshalb zu entlasten, weil Dritte es übernehmen, den durch sein Verhalten hilfsbedürftig gewordenen Unfallwaisen Unterhalt zu gewähren. Nach § 844 Abs. 2 in Verbindung mit § 843 Abs. 4 BGB wird der Schadensersatzanspruch nicht dadurch ausgeschlossen, daß ein anderer dem Geschädigten Unterhalt zu gewähren hat, was dahin zu verstehen ist, daß auch der tatsächlich gewährte Unterhalt den Ersatzanspruch nicht ausschließt. Auch wenn man annimmt, daß diese Vorschrift sich nur auf die in einem „unmittelbaren” ursächlichen Zusammenhang mit dem Schadensereignis stehenden Unterhaltsleistungen bezieht (vgl. BGH VersR 1970, 522, 524), kann ihr jedenfalls nicht entnommen werden, daß eine Vorteilsanrechnung in allen Fällen stattzufinden habe, in denen das Schadensereignis die Unterhaltsleistung eines Dritten „mittelbar” auslöst. Ein derartiger Umkehrschluß wäre schon deshalb nicht angängig, weil, wenn der Gesetzgeber die Vorteilsanrechnung für den Fall der unmittelbaren Auslösung des Unterhaltsanspruchs gegen einen Dritten nicht ausgeschlossen hätte, die Vorteilsanrechnung nach der damaligen Rechtsauffassung in diesen Fällen näher liegen würde als in den Fällen nur mittelbarer Auslösung von Unterhaltsansprüchen. Dementsprechend ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß in § 843 Abs. 4 BGB ein allgemeiner Rechtsgedanke zum Ausdruck kommt (BGHZ 13, 360, 364; 21, 112, 116; 22, 72, 74). So ist z.B. anerkannt, daß freiwillige Unterstützungen, die aus Anlaß eines Unfallereignisses von Dritten geleistet werden, grundsätzlich nicht auf den Unterhaltsschaden angerechnet werden dürfen (BGHZ 13, 360, 363; BGB RGRK § 843 Anm. 9). Das gilt vor allem auch für freiwillige Unterhaltsleistungen, etwa wenn das nach § 844 Abs. 2 BGB anspruchsberechtigte Kind von einem Dritten als Pflegekind angenommen und unterhalten wird (RGZ 92, 57, 59; Erman/Drees, BGB 4. Aufl. § 843 Anm. 8; Soergel/Zeuner BGB 10. Aufl. § 843 Rdz 22). Derartige Pflegekindverhältnisse sind in ihren praktischen Auswirkungen oft einer Annahme an Kindes Statt ähnlich und gehen dieser in vielen Fällen voraus. Schadensrechtlich steht die Annahme an Kindes Statt diesen Fällen näher als dem der Wiederverheiratung eines durch Unfall verwitweten Ehegatten.
Es erscheint deshalb angebracht, den Unterhaltsanspruch, den das Kind gegen die Adoptiveltern erwirbt, ebenso wie die Leistungen der Pflegeeltern nicht auf den Unterhaltsschaden anzurechnen, so daß der Schadensersatzanspruch aus § 844 Abs. 2 BGB auch nach der Adoption bestehen bleibt. Nicht anders als bei den Zuwendungen der Pflegeeltern wäre es unbillig, dem Schädiger zugutekommen zu lassen, daß die Adoptiveltern die mit der Adoption verbundene gesetzliche Unterhaltspflicht auf sich nehmen. Gegen eine Anrechnung dieses Unterhaltsanspruchs auf den Schadensersatzanspruch aus §§ 10 Abs. 2 StVG, 844 Abs. 2 BGB spricht auch, daß dann die Adoption von Pflegekindern durch ihre Pflegeeltern in vielen Fällen erschwert und damit die rechtliche Festigung der Pflegekindverhältnisse verhindert werden würde.
c) Soweit es sich, wie im vorliegenden Falle, um die Geltendmachung eines auf einen Sozialversicherungsträger übergegangenen Unterhaltsschadensanspruchs handelt, ist im Rahmen der Billigkeit einer Vorteilsanrechnung schließlich zu berücksichtigen, daß die Versorgungsleistungen an Unfallwaisen, soweit sie – wie hier unstreitig ist – trotz der Annahme an Kindes Statt weiter zu gewähren sind, ihren Grund in Beitragsleistungen Dritter haben, die den Schädiger nach dem Zweck des Schadensersatzrechts nicht zugute kommen sollen.
III. Die Revision der Beklagten war hiernach gemäß § 563 ZPO zurückzuweisen.
Unterschriften
Pehle, Dr. Weber, Nüßgens, Dunz, Scheffen
Fundstellen
Haufe-Index 1502225 |
BGHZ |
BGHZ, 269 |
NJW 1971, 1137 |
Nachschlagewerk BGH |