Leitsatz (amtlich)
›Zum Umfang der Sorgaltspflicht des Rechtsanwalts bei handschriftlichen Änderungen des Eingangsstempels auf einem zugestellten Urteil.‹
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger fordert von der Beklagten noch 95.746,58 DM zuzüglich Zinsen für verschiedene Ingenieurleistungen, die er für die Beklagte erbracht hat. Seine auf Zahlung dieses Betrages gerichtete Klage hat das Landgericht mit Urteil vom 15. Juni 1983 als jedenfalls derzeit unbegründet zurückgewiesen.
Gegen dieses, am 22. August 1983 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem am 26. September 1983 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und dieses Rechtsmittel am 12. Oktober 1983 begründet. Nachdem ihm am 21. Oktober 1983 die verspätete Einreichung der Berufungsschrift mitgeteilt worden war, hat der Kläger am 24. Oktober 1983 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und das versäumte Rechtsmittel erneut eingelegt.
Der Kläger begründet diesen Antrag unter Glaubhaftmachung im wesentlichen wie folgt: Vom 16. August bis 9. September 1983 habe sein Prozeßbevollmächtigter Dr. D. sich im Urlaub befunden. Dieser sei von Rechtsanwalt Dr. B. vertreten worden. Sein Prozeßbevollmächtigter habe für den Fall, daß der Vertreter am Tage des Eingangs eines Schriftstücks in der Kanzlei nicht zur Verfügung stehe, ausdrückliche Anweisung gegeben, darauf zu achten, daß der auf den zugestellten Schriftstücken angebrachte Eingangsstempel mit dem Datum des Empfangsbekenntnisses übereinstimme. Obwohl Rechtsanwalt Dr. B. das Empfangsbekenntnis am 22. August 1983 unterzeichnet habe, sei der ursprünglich zutreffende Eingangsstempel von seiner ihm als zuverlässig und gewissenhaft bekannten langjährigen Mitarbeiterin nachträglich handschriftlich unter Beifügung eines Handzeichens auf den 24. August 1983 geändert und der Fristlauf entsprechend vermerkt worden. Warum das geschehen sei, könne er heute nicht mehr feststellen. Er könne es eigentlich nur damit erklären, daß die Mitarbeiterin das zugestellte Schriftstück mit einem anderen Vorgang verwechselt habe.
Nach Rückkehr aus dem Urlaub habe der Prozeßbevollmächtigte mit den inzwischen angefallenen Fristsachen auch die vorliegende Sache kontrolliert. Dabei habe er keinen Anlaß zu weiteren Zweifeln gefunden, weil der im Fristenkalender eingetragene Fristlauf (26. September 1983) mit dem handschriftlich geänderten Zustellungsdatum übereinstimmte. Handschriftliche Änderungen des Eingangsstempels kämen in der Kanzlei auch sonst gelegentlich vor, etwa wenn der Stempelabdruck nicht lesbar sei oder wenn das Datum des Stempels versehentlich noch nicht nachgestellt worden sei.
Das Oberlandesgericht hat dem Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt und die Berufung als unzulässig verworfen (sein Urteil ist veröffentlicht in ZIP 1984, 1285 und Betrieb 1984, 2193). Mit der Revision, die die Beklagte zurückzuweisen bittet, verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch weiter.
Entscheidungsgründe
1. Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Berufung des Klägers sei wegen Versäumung der Berufungsfrist unzulässig. Da sein Prozeßbevollmächtigter die Verspätung verschuldet habe, könne die beantragte Wiedereinsetzung nicht gewährt werden. Der Fehler beruhe u.a. auch auf einer mangelhaften Organisation des Kanzleibetriebs, für die der Prozeßbevollmächtigte einstehen müsse. Dieser habe durch strikte Weisung an das Personal verhindern müssen, daß vermerkte Eingangsdaten ohne Kontrollvergleich mit dem Empfangsbekenntnis nachträglich handschriftlich verändert würden. Es sei vorhersehbar und daher vom Prozeßbevollmächtigten zu vertreten, daß ohne solche Kontrollmaßnahmen früher oder später Fehler entstehen müßten.
2. Hiergegen wendet sich die Revision des Klägers im Ergebnis ohne Erfolg. Die Versäumung der Berufungsfrist beruht auf einem Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt Dr. D., das sich der Kläger gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muß.
a) Zu Unrecht allerdings nimmt das Berufungsgericht an, trotz Neufassung des § 233 ZPO seien die Anforderungen an die der Partei gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts unverändert geblieben. Das ist nicht der Fall. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verlangt nach der Neuregelung in Übereinstimmung mit dem Wortlaut und dem Zweck der geänderten Vorschrift grundsätzlich nur noch die übliche Sorgfalt eines ordentlichen Rechtsanwalts (BGH Beschlüsse vom 17. Februar 1982 - IV a ZB 19/81 = LM ZPO § 233 (Fa) Nr. 9 = VersR 1982, 495 und vom 18. Januar 1983 - VI ZB 18/82 = VersR 1983, 374, 375) , nicht aber die "äußerste, nach den Umständen mögliche Sorgfalt" (BGH Urteil vom 26. Juni 1979 - VI ZR 218/78 = VersR 1979, 960, 961). Dabei dürfen die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht des Anwalts nicht überspannt werden (BGH NJW 1982, 2670 Nr. 11). Infolgedessen genügt es für die Annahme eines Verschuldens nicht, eine lediglich objektiv mögliche Sorgfalt zu beschreiben, durch die der Fehler hätte verhindert werden können. Vielmehr muß die Beachtung dieser Sorgfalt im Einzelfall auch zumutbar sein (Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 43. Aufl., Anm. 3 A zu § 233), sie muß also den nach der konkreten Sachlage zu stellenden Erwartungen entsprechen (Zöller, ZPO, 14. Aufl. Rdn. 12 zu § 233). Bei den praktischen Ergebnissen werden die Unterschiede allerdings oft nicht allzugewichtig sein. Das rechtfertigt aber nicht die Annahme des Berufungsgerichts, es habe sich gegenüber der bisherigen Rechtslage überhaupt nichts geändert.
b) Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob nicht die Anweisung des Rechtsanwalts an sein Kanzleipersonal auf die Übereinstimmung der Daten von Empfangsbekenntnis und Eingangsstempel auf dem Urteil "zu achten" den vom Berufungsgericht vermißten organisatorischen Regelungen entspricht, oder ob diese Anweisung hätte näher verdeutlicht werden müssen. Es wäre ferner daran zu denken, daß verlangt wird, den Grund für eine handschriftliche Änderung des Eingangsstempels jeweils zu vermerken.
c) Hier hat jedenfalls Rechtsanwalt Dr. D. selbst die gebotene und ihm auch zumutbare Sorgfalt verletzt, als er bei Vorlage des Vorgangs nach Rückkehr aus dem Urlaub den Gründen für die ihm aufgefallene Änderung des Eingangsstempels nicht nachgegangen ist und sich nicht vergewissert hat, ob die Sache in Ordnung geht. Hierzu hatte er nach Sachlage besonderen Anlaß. Die von ihm beispielhaft als Gründe für handschriftliche Berichtigungen angegebenen Fälle konnten nämlich kaum vorliegen. Eine Berichtigung wegen undeutlichen Stempelabdrucks kam nicht in Frage. Ebenso schied der Fall eines irrtümlich nicht nachgestellten Eingangsstempels praktisch aus, denn der Unterschied von zwei Tagen innerhalb der Woche (Montag und Mittwoch) war auf diese Weise nicht zu erklären. Deshalb mußte die Änderung als ungewöhnlich und schwer erklärlich auffallen. Wäre sie wirklich auf einen versehentlich nicht nachgestellten Eingangsstempel oder etwa auf Umstände im Zusammenhang mit der Urlaubsvertretung zurückzuführen gewesen, hätte Anlaß zu weiteren organisatorischen Maßnahmen bestanden. Denn der Rechtsanwalt hätte Nachlässigkeiten und organisatorische Unzulänglichkeiten dieses Ausmaßes nicht auf sich beruhen lassen dürfen. Es gab somit hinreichende Gründe, der Sache nachzugehen und in diesem Zusammenhang auch die Richtigkeit der Änderung zu überprüfen. Das hat der Rechtsanwalt Dr. D. unterlassen und damit seine eigenen Überwachungspflichten verletzt. Er hatte eine Fehlerquelle aufgedeckt und durfte deshalb nicht mehr auf die Einhaltung der allgemein gegebenen Anweisung vertrauen, sondern mußte vielmehr der Sicherung der Nachfrist seine besondere eigene Aufmerksamkeit widmen (vgl. auch Senatsbeschluß vom 19. Januar 1984 - VII ZB 18/83 = VersR 1984, 286). Hätte er die Angelegenheit im gebotenen Umfang überprüft - notfalls durch Nachfrage bei Gericht über das Datum auf dem Empfangsbekenntnis -, so hätte ihm die Abweichung von seinen allgemein erteilten Anweisungen nicht verborgen bleiben können. Dann wäre es zur Versäumung der Frist nicht gekommen.
Das Oberlandesgericht hat somit im Ergebnis zu Recht die beantragte Wiedereinsetzung versagt und die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist als unzulässig verworfen.
3. Die Revision des Klägers ist nach alledem mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 2992756 |
NJW 1985, 1710 |