Leitsatz (amtlich)
Auch beim Eigengrenzüberbau beantwortet sich die Frage, welches der beiden Grundstücke als Stammgrundstück im Sinne von § 912 BGB anzusehen ist, soweit möglich, nach den Absichten des Erbauers (Ergänzung zu BGHZ 64, 333). Indizien für diese Absichten können bestimmte objektive Gegebenheiten sein, z.B. die wirtschaftliche Interessenlage, die Zweckbeziehung des übergebauten Gebäudes und die räumliche Erschließung durch einen Zugang.
Normenkette
BGB § 912 ff
Verfahrensgang
OLG Celle (Urteil vom 19.08.1988) |
LG Hildesheim (Urteil vom 02.04.1987) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 19. August 1988 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Hildesheim vom 2. April 1987 wird zurückgewiesen.
Die Beklagten tragen auch die weiteren Kosten des Rechtsstreites.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Parteien sind jede für sich zu gleichen Bruchteilen Eigentümer benachbarter Grundstücke, die ursprünglich beide den Klägern gehörten. Auf dem Grundstück Nr. 12 unterhielt der Kläger zu 2 gewerblich genutzte Räume mit einem Anbau, der bis zur Grenze des Grundstücks Nr. 10 heranreichte. 1976/78 erweiterte er den Anbau zu einer Halle, die nunmehr etwa je zur Hälfte diese ist und jenseits der Grundstücksgrenze steht. Das Grundstück Nr. 10 veräußerten die Kläger 1986 an die Beklagten. Diese nahmen in der Folgezeit an dem Teil der Halle, der auf ihrem Grundstück steht, bauliche Veränderungen vor und benutzten ihn als Garage.
Die Kläger, die das Eigentum an der Halle weiterhin allein für sich in Anspruch nehmen, verlangen mit ihrer Klage Beseitigung der baulichen Veränderungen, Entfernung des eingebrachten Pkw und die Unterlassung weiterer Nutzung durch die Beklagten.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Oberlandesgericht hat sie abgewiesen. Mit der – zugelassenen – Revision erstreben die Kläger die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Die Beklagten beantragen die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht verneint den Unterlassungsanspruch der Kläger, weil die Lage der Halle nicht erlaube, eines der Nachbargrundstücke als Stammgrundstück im Sinne von § 912 BGB anzusehen. Der Gesichtspunkt einer wirtschaftlichen Zuordnung der Halle zum Grundstück der Kläger trete nach den Umständen des Falles zurück. Da die Halle an der Grenze baulich geteilt und jede der so geschaffenen zwei Hallen selbständig genutzt werden könne, drohe bei lotrechter Eigentumsteilung über der Grundstücksgrenze auch keine Wertzerschlagung, so daß der Zweckgedanke des § 912 BGB hier der Anwendung des Akzessionsprinzips nicht entgegenstehe. Die Kläger könnten auch Beseitigung der baulichen Veränderungen von den Beklagten nicht verlangen; denn die Beklagten seien alleinige Miteigentümer desjenigen Teils der Halle, der sich auf dem von ihnen erworbenen Grundstücksteil befinde. Die vertikale Eigentumsteilung der Halle an der Grenze verdiene auch deshalb den Vorzug vor einer Miteigentumslösung mit Bezug auf das Gesamtgebäude, weil bei Miteigentum an der gesamten Halle weiterer Streit der Parteien geradezu programmiert erscheine.
Hiergegen wendet sich die Revision mit Erfolg.
II.
Die Kläger sind alleinige Eigentümer der von den Beklagten veränderten und mitgenutzten Halle. Ihre Klage ist daher nach § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB gerechtfertigt, soweit sie auf Beseitigung gerichtet ist, bzw. nach § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB, soweit Unterlassung weiterer Benutzung durch die Beklagten begehrt wird.
1. Das Berufungsgericht geht zutreffend von den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesgerichtgshofes über das Eigentum beim Eigengrenzüberbau aus.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (Urt. v. 26. April 1961, V ZR 203/59, WM 1961, 761; BGHZ 64, 333, 337; 102, 311, 314; 105, 202, 203) finden die Überbauregeln der §§ 912 ff BGB sinngemäß auf den Fall Anwendung, daß ein Eigentümer zweier Grundstücke mit dem Bau auf einem derselben die Grenze des anderen überschreitet und in der Folge die Grundstücke in das Eigentum verschiedener Personen gelangen. Daran ist festzuhalten.
b) Ein Grenzüberbau kann auch dort vorliegen, wo – wie hier – ohne vollständigen Neubau unter Verwendung bereits vorhandener Wände eine Gebäudeerweiterung über die Grenze hinaus stattgefunden hat (Senatsurt. v. 26. April 1961, a.a.O.).
c) Wer Eigentümer des über die Grenze gebauten Gebäudeteils ist, regelt § 912 BGB zwar nicht unmittelbar (BGHZ 64, 333, 336). Dies ergibt sich nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch als mittelbare Folge der Vorschrift (vgl. Mot. BGB III, S. 287 unter Ziff. VII). Soweit das Recht des Eigentümers zur Duldung seines Überbaus durch den Nachbarn besteht, unterliegt der hinübergebaute Gebäudeteil nicht der Grundregel der § 94 Abs. 1, § 946 BGB, sondern es tritt entsprechend § 95 Abs. 1 Satz 2 BGB die Wirkung ein, daß er als Scheinbestandteil des überbauten Grundstücks gemäß §§ 93, 94 Abs. 2 BGB wesentlicher Bestandteil des Grundstücks bleibt, von dem aus übergebaut wurde (BGHZ 62, 141, 145 f; Senatsurt. v. 22. Mai 1981, V ZR 102/80, WM 1981, 908 = NJW 1982, 756). Das gilt auch beim Eigengrenzüberbau (BGHZ 64, 333, 336 f; 102, 311, 314).
d) Daraus ergibt sich, daß die §§ 93, 94 Abs. 2, § 95 Abs. 1 Satz 2 BGB für das Eigentum am Überbau nur eingreifen, wenn ein einheitliches Gebäude über die Grundstücksgrenze gebaut ist (Senatsurt. v. 22. Mai 1981, a.a.O., und 4. Dezember 1987, V ZR 189/86, NJW-RR 1988, 458; vgl. auch BGHZ 102, 311, 313 ff). Denn der Bestandteilszugriff beider Grundstücke auf ein Gebäude, welches ihre Grenze überspannt, ohne eine tatsächliche und rechtliche Einheit gemäß §§ 93, 94 Abs. 2 BGB zu bilden, würde nach § 94 Abs. 1, § 946 BGB stärker sein als der unter dieser Voraussetzung nur lockere Zusammenhang innerhalb des Gebäudes.
Das Berufungsgericht hat ersichtlich die Halle aufgrund der in Bezug genommenen, von den Klägern als Schriftsatzanlage überreichten Bauzeichnungen als einheitliches Gebäude gewürdigt. Hiergegen erhebt die Revisionserwiderung keine Einwendungen. Die Annahme der Einheitlichkeit begegnet aufgrund der baulichen Beschaffenheit der Halle und der Verkehrsauffassung keinen Bedenken, selbst wenn der neue und alte Teil der Bodenplatte keine statische Verbindung haben sollten, wozu Feststellungen vom Berufungsgericht nicht getroffen worden sind. Für die Einheitlichkeit der Halle spricht ihre einheitliche Konstruktion und Gestaltung, der auch eine entsprechende Planung zugrunde lag, sowie in besonderem Maße ihre funktionale Einheit als Lagerhalle für den Gewerbebetrieb des Klägers zu 2 (Senatsurt. v. 4. Dezember 1987, V ZR 189/86, NJW-RR 1988, 458 und v. 2. Juni 1989, V ZR 167/88, WM 1989, 1541). Die Erwägung des Berufungsgerichts, daß es möglich sei, die Halle an der Grundstücksgrenze ohne Zerschlagung von Werten durch eine Zwischenwand zu teilen, ändert an der Einheitlichkeit des Gebäudes nichts.
2. Das Berufungsgericht hat nach allem die entscheidende Frage richtig dahin gestellt, ob die Halle vom Grundstück der Kläger – Nr. 12 – seinerzeit auf das später von den Beklagten erworbene Grundstück – Nr. 10 – übergebaut worden ist. Insoweit ist jedoch seine Auslegung der §§ 93, 94 Abs. 2, § 912 BGB nicht rechtsirrtumsfrei.
a) Die Bestandteilszuordnung eines Grenzgebäudes im Regelungszusammenhang der §§ 93, 94, 95 Abs. 1 Satz 2, § 912 BGB an nur eines der bebauten Nachbargrundstücke setzt voraus, daß eines derselben als Stammgrundstück angesehen werden kann, von dem aus der Überbau vorgenommen worden ist (BGHZ 62, 141, 145 f; 64, 333, 337). Für die Frage, woraus sich die Bestimmung des Stammgrundstücks ableiten läßt, hat die Rechtsprechung bislang im wesentlichen drei Fallgruppen unterschieden.
aa) Für den Normalfall, daß sich das Gebäude auf Grundstücken verschiedener Eigentümer befindet, kommt es darauf an, wer nach der Verkehrsanschauung „Geschäftsherr” des Bauvorhabens ist, das heißt, in wessen Namen und wirtschaftlichem Interesse gebaut wurde (Senatsurt. v. 16. März 1960, V ZR 17/59, LM BGB § 912 Nr. 7 und vom 25. Februar 1983, V ZR 299/81, NJW 1983, 2022). Diesen Grundsatz hat der Senat für die Beantwortung der Frage, von welchem Grundstück aus über eine fremde Grenze gebaut wurde, dahin fortentwickelt, daß es allein darauf ankomme, welche Absichten und wirtschaftlichen Interessen den Erbauer geleitet hätten, ohne daß daneben der handwerkliche Bauablauf und die Größe oder die Wichtigkeit des übergebauten Gebäudeteils im Verhältnis zu dem auf dem Grundstück des Erbauers liegenden „Stammteil” eine Rolle spielen (BGHZ 62, 141, 146; ebenso Urt. v. 12. Juli 1984, IX ZR 124/83, LM BGB Nr. 20 § 95 Bl. 3 R = WM 1984, 1283 = NJW 1985, 789). Indizien für die maßgeblichen Absichten des Erbauers können bestimmte objektive Gegebenheiten sein, z.B. die wirtschaftliche Interessenlage, die Zweckbeziehung des überbauten Gebäudes und die räumliche Erschließung durch einen Zugang (vgl. BGH Urt. v. 26. April 1961, V ZR 203/59, LM BGB § 912 Nr. 9 = WM 1961, 716; vgl. auch schon RGZ 169, 172, 179).
bb) Wird das Gebäude auf einem einheitlichen Grundstück errichtet und dieses erst später geteilt, so ist eine unmittelbare Anknüpfung an die Absichten des Erbauers allerdings praktisch nicht möglich (BGHZ 64, 333, 337 f). In diesem Sonderfall kann die Zuordnung des Eigentums deshalb nur an objektive Kriterien anknüpfen. Bei natürlicher Betrachtungsweise erscheint es dann sachgerecht, als Stammgrundstück das Grundstück anzusehen, auf dem sich nach Umfang, Lage und wirtschaftlicher Bedeutung der eindeutig maßgebende Gebäudeteil befindet (BGHZ a.a.O.; ebenso seither BGHZ 102, 311, 314; 105, 202, 204).
cc) Auch für den – hier gegebenen – Fall des Eigengrenzüberbaus mag eine unmittelbare Anknüpfung an die Absichten des Erbauers nicht immer möglich sein (vgl. BGHZ 64, 333, 337). Doch können sich diese Absichten hier aus den objektiven Gegebenheiten eher erschließen. Wenn sich der Erbauer nicht anders geäußert hat, kann vermutet werden, daß die objektiven Gegebenheiten seinen Absichten entsprechen.
b) Das Berufungsurteil kann hiernach nicht bei Bestand bleiben, da es die Existenz eines Stammgrundstücks ohne ausreichende Berücksichtigung aller rechtlich dafür maßgeblichen Gesichtspunkte verneint hat, indem es nur Umfang, Lage und wirtschaftliche Bedeutung der Hallenteile beiderseits der Grundstücksgrenze herangezogen hat. Eine solche Beschränkung wird auch durch das vom Berufungsgericht angeführte sachenrechtliche Offenkundigkeitsprinzip nicht getragen. Ausdruck dieses in BGHZ 64, 333, 338 im Blick auf Motive BGB III, Seite 43, eher beiläufig erwähnten Gedankens ist hauptsächlich die Publizität von Grundbuch und Fahrnisbesitz nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften über den gutgläubigen Erwerb. Bei einer Grenzlage des Gebäudes hat gerade die Tatsache, ob mehr auf das eine oder andere Grundstück gebaut worden ist, keine Publizitätswirkung für das Gebäudeeigentum, wenn schon bei Innengrenzlage des Gebäudes der durch Augenschein und § 94 Abs. 1, § 946 BGB vermittelte Rechtsschein nicht geschützt ist, weil er von § 95 BGB durchbrochen wird. Sonst könnte auch vom Grundstück des Eigentümers nicht über eine fremde Grenze gebaut werden, wenn das Gebäude mehr als zur Hälfte jenseits der Grenze zu stehen käme.
III.
Da weitere tatsächliche Feststellungen nicht zu treffen sind, entscheidet der Senat gemäß § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO in der Sache selbst.
Das Grundstück der Kläger ist Stammgrundstück geworden. Die Absicht des Eigentümers, die Halle bei ihrer Errichtung insgesamt als Bestandteil zum Grundstück Nr. 12 gehören zu lassen, geht daraus hervor, daß sie für Zwecke seines auf dem Grundstück Nr. 12 geführten damaligen Gewerbebetriebs genutzt werden sollte. Die betriebliche Anbindung der Halle an das Stammgrundstück und die rechtliche Sicherung dieses Bandes im Interesse des Betriebes waren hier auch bestimmend für die wirtschaftliche Interessenlage des Eigentümers beim Überbau schlechthin. Die nach ihrer wirtschaftlichen Zweckbeziehung gegebene Zugehörigkeit der Halle zum Grundstück Nr. 12 wird zusätzlich dadurch unterstrichen, daß im Gebäudeinneren ein Zugang zu der Halle nur vom Hause Nr. 12 aus vorhanden ist. Aus diesen Umständen hat bereits das Landgericht im Ergebnis zutreffend entnommen, daß das Grundstück der Kläger Stammgrundstück des Eigengrenzüberbaues gewesen sei.
Einen schuldrechtlichen Anspruch auf Vornahme von Veränderungen an dem auf ihrem Grundstück befindlichen Hallenteil und auf seine Nutzung haben die Beklagten nicht dargetan. Eine entsprechende tatrichterliche Überzeugung hinsichtlich einer aus Anlaß der Grundstücksveräußerung zwischen den Parteien getroffenen Vereinbarung bringt das Berufungsgericht nicht zum Ausdruck. Die Mitveräußerung des 15 qm großen Flurstücks 21/22, einer Hälfte der Torzufahrt zur Halle von der Straße, an die Beklagten hat entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keine Bedeutung, weil dieses Flurstück zum Grundstück Nr. 10 gehörte.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 97 Abs. 1 ZPO.
Unterschriften
Hagen, Linden, Räfle, Lambert-Lang, Tropf
Fundstellen
Haufe-Index 1622225 |
BGHZ |
BGHZ, 298 |
NJW 1990, 1791 |
BGHR |
Nachschlagewerk BGH |
DNotZ 1991, 595 |