Leitsatz (amtlich)
Ergibt sich im Laufe einer Hauptverhandlung die dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten, ist das Verfahren einzustellen. Ein Übergang entsprechend § 416 StPO in ein Sicherungsverfahren mit dem Ziel der Anordnung einer Maßregel nach § 71 StGB ist nicht zulässig.
Normenkette
StPO § 416; StGB §§ 71, 63; StPO § 413
Verfahrensgang
Tenor
1. Auf die Revision der Beschuldigten wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 6. September 2000 mit den Feststellungen aufgehoben.
Das Verfahren wird eingestellt.
2. Die Kosten des Verfahrens und die der Beschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Von Rechts wegen
Gründe
Die Staatsanwaltschaft hatte der Beschuldigten im Strafverfahren vorgeworfen, vier Straftaten im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit begangen zu haben, nämlich Sachbeschädigung, versuchte schwere Brandstiftung in zwei Fällen sowie versuchte gefährliche Körperverletzung. Am ersten Tag der Hauptverhandlung ergab sich auf Grund einer Sachverständigenbegutachtung die (dauernde) Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten. Die Strafkammer leitete das Strafverfahren in ein Sicherungsverfahren nach §§ 413 ff. StPO über und ordnete in diesem Verfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beschuldigte mit ihrer Revision. Das Rechtsmittel führt zur Einstellung des Verfahrens wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten; die Überleitung in ein Sicherungsverfahren war rechtlich nicht zulässig.
1. Der Fortführung desStrafverfahrens stand, wie dem Sachzusammenhang des Beschlusses der Strafkammer vom 4. September 2000 entnommen werden kann, die durch die Sachverständige diagnostiziertedauernde Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten, ein Verfahrenshindernis, das regelmäßig (vgl. aber § 231 a StPO) zur Einstellung des Verfahrens (§§ 206 a, 260 Abs. 3 StPO) führt, entgegen. Diesem Grundsatz wird die in der Literatur vertretene Meinung nicht gerecht, aus prozeßökonomischen Gründen sei trotz dieses Verfahrenshindernisses eine Fortführung desStrafverfahrens mit dem Ziel der Anordnung einer Maßregel im Rahmen von § 71 StGB zulässig (so Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. Rdn. 1; Gössel in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. Rdn. 7 jeweils zu § 416 StPO, anders 25. Aufl.).
2. Gegen einen dauernd Verhandlungsunfähigen ist nur ein Sicherungsverfahren nach §§ 413 ff. StPO mit dem Ziel der selbständigen Anordnung der in § 71 StGB genannten Maßregeln der Besserung und Sicherung möglich. Der Übergang vom Strafverfahren in ein solches Verfahren ist aber entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht zulässig. Dafür fehlt es an einer Rechtsgrundlage und Folgeregelungen für das Verfahren.
a) Die Zulässigkeit der Überleitung des Strafverfahrens in ein Sicherungsverfahren ist in § 416 StPO nicht geregelt (vgl. BGHR StPO § 396 Anschlußbefugnis 1). Diese Vorschrift betrifft nur den Wechsel vom Sicherungsverfahren in ein Strafverfahren, wenn sich nach Eröffnung des Hauptverfahrens dieSchuldfähigkeit des Beschuldigten ergibt.
Für den Übergang vom Strafverfahren in ein Sicherungsverfahren besteht grundsätzlich auch kein prozessuales Bedürfnis. Wenn in der Hauptverhandlung die Schuldunfähigkeit des Angeklagten im Zeitpunkt der Tat festgestellt wird oder nicht auszuschließen ist, ist dieser freizusprechen und gegebenenfalls über eine Maßregel zu entscheiden. Nur in Fällen, in denen sich während der Hauptverhandlung die dauernde Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten ergibt, wäre die Fortführung des Strafverfahrens wegen eines Prozeßhindernisses nicht mehr möglich.
Ob der Gesetzgeber bei der Erweiterung des Sicherungsverfahren durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch vom 2. März 1974 (EGStGB 1974 BGBl. I 469) auf Fälle der Verhandlungsunfähigkeit als weitere selbständige Gruppe, bei der Maßregeln ohne gleichzeitige Verurteilung zu Strafe angeordnet werden können, die Möglichkeit einer sich nach Eröffnung der Hauptverhandlung ergebenden Verhandlungsunfähigkeit übersehen oder absichtlich nicht geregelt hat, ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien nicht (vgl. Neufassung des § 416 Abs. 3 StPO; BTDrucks. 7/550 S. 306, 307; vgl. auch Sonderausschuß für die Strafrechtsreform, 4. Wahlperiode, Protokoll der 56. Sitzung S. 988: Min.Dir. Dr. Schafheutle).
b) Die Überleitungsvorschrift des § 416 StPO aus prozeßökonomischen Gründen für den Fall einer sich in der Hauptverhandlung ergebenden dauernden Verhandlungsunfähigkeit des Täters entsprechend anzuwenden (vgl. Peters, Strafprozeß 4. Aufl. § 64 II 5 S. 572), ist nach Ansicht des Senats nicht möglich (so auch KG OLGSt StPO § 416 Nr. 1; Paulus in KMR Rdn. 13 vor § 413; Fischer in KK 4. Aufl. Rdn. 9; Kurth in HK-StPO Rdn. 4; Keller in AK-StPO Rdn. 12; jetzt auch Gössel aaO 25. Aufl. Rdn. 7 jeweils zu § 416 StPO; Eberhard Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz Rdn. 7 zu § 429 a StPO).
aa) Das Sicherungsverfahren ist eine Art objektives Verfahren (Gössel aaO Rdn. 4 vor § 413; Fischer aaO Rdn. 3 zu § 413 StPO; BGHSt 22, 185, 186), das dazu dient, die Allgemeinheit vor gefährlichen, aber schuldunfähigen oder verhandlungsunfähigen Straftätern zu schützen (BGHSt 22, 1, 2 ff.). Es unterscheidet sich von seiner Ausgestaltung her wesentlich vom Strafverfahren. § 416 StPO läßt zwar einen Übergang von Sicherungsverfahren in ein Strafverfahren zu, weil in diesem Fall wesentliche Rechte des Angeklagten gewahrt sind und bleiben. Im umgekehrten Fall ist dies jedoch nicht in gleicher Weise sichergestellt.
Das Sicherungsverfahren ist ein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO). Das Legalitätsprinzip gilt nicht (Kleinknecht/Meyer-Goßner aaO Rdn. 10; Fischer aaO Rdn. 14 jeweils zu § 413 StPO). Ein Übergang in das Sicherungsverfahren kann den gesetzlichen Richter berühren, wenn hierfür nach der Geschäftsverteilung ein anderer Spruchkörper zuständig ist. Bei einem Sicherungsverfahren soll ein Sachverständiger bereits im Vorverfahren eingeschaltet werden, seine Vernehmung in der Hauptverhandlung ist zwingend (§ 415 Abs. 5 StPO). Eine Nebenklage ist nicht zulässig (BGHR StPO § 395 Anschlußbefugnis 4).
bb) Die Zulassung des Übergangs in ein Sicherungsverfahren bei dauernder Verhandlungsunfähigkeit führt auch kaum zu einer Verfahrenserleichterung.
Findet das Strafverfahren vor dem Amtsgericht statt, ergibt sich häufig erst durch den Übergang in das Sicherungsverfahren die Notwendigkeit einer Verteidigerbestellung. Einer sachgerechten Verteidigung können die bisherigen Geschehnisse in der Hauptverhandlung entgegenstehen, häufig müßten Verfahrensteile wiederholt werden. Im übrigen müßte bei einer beim Amtsgericht beginnenden Hauptverhandlung in den Fällen des § 74 Abs. 1 GVG entsprechend § 270 StPO die Sache an das Landgericht verwiesen werden.
Die Verhandlungsunfähigkeit kann auch Auswirkungen auf die Geschäftsfähigkeit im Sinne des bürgerlichen Rechts haben (vgl. BGH NStZ 1983, 280, 281). Der Wahlverteidiger bedarf zur Wirksamkeit seiner Vollmacht möglicherweise auch der Bevollmächtigung durch den Betreuer des Beschuldigten (vgl. BGHR StPO § 414 Sicherungsverfahren 1), der erforderlichenfalls erst noch bestellt werden muß.
Bei einem Übergang während eines laufenden Strafverfahrens in das Sicherungsverfahren müßte die Entscheidung der Staatsanwaltschaft über die Einleitung eines solchen Verfahrens unter zeitlichen Druck erfolgen. Es können sich erhebliche Verzögerungen ergeben, wenn für die Ermessensentscheidung noch Nachforschungen über das Sicherungsbedürfnis erfolgen müßten.
In manchen Fällen wird sich das Erfordernis der Zuziehung eines Sachverständigen unter Umständen erst während der laufenden Hauptverhandlung ergeben, weil eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen einer Schuldunfähigkeit oder einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit zunächst nicht in Betracht kam (vgl. § 246 a StPO).
Die – vorausgehende zeitweise – Beteiligung eines Nebenklägers und die Ausübung ihm zustehender Rechte (z. B. Frage- und Beweisantragsrecht) führt möglicherweise zu prozessualen Nachteilen für den Beschuldigten.
3. Es kann deshalb offenbleiben, ob die Durchführung eines Sicherungsverfahrens hier auch schon daran scheitert, daß der nach § 413 StPO notwendige Antrag der Staatsanwaltschaft (vgl. RGSt 72, 143 ff.) fehlt. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft hat nämlich zunächst nur erklärt, sie sei einverstanden mit der Fortführung desStrafverfahrens mit dem Ziel der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Einer Überleitung des Strafverfahrens in ein Sicherungsverfahren stimmte sie nicht zu, weil dies im Gesetz nicht vorgesehen sei. Unter Bezugnahme auf eine Kommentarmeinung hat sie dann erklärt, sie sei mit der Fortführung desVerfahrens auch für den Fall der Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten mit dem Ziel der Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus einverstanden. Einen ausdrücklichen Antrag auf Überleitung in das Sicherungsverfahren oder einen Antrag auf dessen Durchführung hat sie nicht gestellt.
4. Auf die Revision der Beschuldigten ist deshalb das Urteil des Landgerichts mit den Feststellungen aufzuheben, weil der Übergang in ein Sicherungsverfahren unzulässig war; das Verfahren ist wegen dauernder Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten einzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO. Der Senat hielt es nicht für angemessen, gemäß § 467 Abs. 3 Nr. 2 StPO davon abzusehen, die Auslagen der Beschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen.
Unterschriften
Jähnke, Detter, Bode, Rothfuß, Fischer
Fundstellen
Haufe-Index 599834 |
BGHSt |
BGHSt, 345 |
NJW 2001, 3277 |
JR 2001, 520 |
Nachschlagewerk BGH |
ZAP 2001, 799 |
wistra 2001, 353 |
StV 2001, 388 |
StraFo 2001, 342 |