Leitsatz (amtlich)
›Im Arzthaftungsprozeß beginnt die Verjährung deliktischer Ansprüche nicht zu laufen, bevor nicht der Patient als medizinischer Laie Kenntnis von Tatsachen hat, aus denen sich ein Abweichen des Arztes vom ärztlichen Standard ergibt.‹
Tatbestand
Die Klägerin wurde am 9. August 1981 in der 32. Schwangerschaftswoche in den Städtischen Kliniken D., deren Träger die Zweitbeklagte ist, als zweiter Zwilling aus einer Beckenendlage geboren. Die Zwillingsschwangerschaft war erst während der Geburt des ersten Zwillings erkannt worden. Der Lebensfrischeindex der Klägerin war schwer asphyktisch (Apgar-Werte 4/6/8). Sie wurde nach Reanimation noch am Tage der Geburt in die Kinderklinik verlegt. Dort stellte man ein Membransyndrom dritten bis vierten Grades fest. An ihrem 11. Lebenstag erlitt die Klägerin eine Hirnblutung.
Die Klägerin ist schwer hirngeschädigt; sie wird lebenslang auf die Hilfe und Pflege Dritter angewiesen sein. Sie führt ihre Hirnschädigung auf einen während der Geburt erlittenen akuten Sauerstoffmangel zurück, für den sie den erstbeklagten Gynäkologen, der ihre Mutter während der Schwangerschaft ärztlich betreut hat, und die Klinikärzte verantwortlich macht. Die Klinikärzte, für deren Fehlverhalten die Zweitbeklagte einstehen müsse, seien neben weiteren Fehlleistungen dafür verantwortlich, daß bei der Einlieferung ihrer Mutter in das Krankenhaus eine Ultraschalluntersuchung versäumt worden sei; eine solche Untersuchung sei aber dringend angezeigt gewesen, da es sich um eine durch einen vorzeitigen Blasensprung zusätzlich komplizierte Risikoschwangerschaft gehandelt habe.
Die Klägerin verlangt mit ihrer am 19. Oktober 1987 bei Gericht eingereichten und am 26. bzw. 27. November 1987 zugestellten Klage von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 100.000 DM; ferner begehrt sie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten als Gesamtschuldner zur Erstattung ihres auf den ärztlichen Versäumnissen beruhenden Schadens.
Der Erstbeklagte hat einen Behandlungsfehler bestritten; die Zweitbeklagte hat geltend gemacht, daß das Nichterkennen der Mehrlingsschwangerschaft für die cerebrale Schädigung der Klägerin nicht ursächlich sei. Beide Beklagten haben die Einrede der Verjährung erhoben.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat unter Abweisung der Klage im übrigen festgestellt, daß die Zweitbeklagte verpflichtet ist, der Klägerin (vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf einen öffentlichen Versicherungsträger) allen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die anläßlich ihrer Geburt erlittenen körperlichen Schädigungen entstanden ist oder noch entstehen wird. Gegen dieses Urteil haben die Klägerin und die Zweitbeklagte Revision eingelegt. Der Senat hat durch Beschluß vom 22. Januar 1991 die Revision der Klägerin angenommen, soweit die Klage gegen die Zweitbeklagte abgewiesen worden ist; die weitergehende Revision der Klägerin sowie die Revision der Zweitbeklagten hat er nicht angenommen.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht ist - sachverständig beraten - zu der Überzeugung gelangt, daß den behandelnden Klinikärzten ein grober Behandlungsfehler unterlaufen sei, weil sie es versäumt hätten, nach der Einlieferung der Mutter der Klägerin in das Krankenhaus eine Ultraschalluntersuchung durchzuführen. Eine solche Untersuchung hätte zu der Erkenntnis geführt, daß es sich um eine Zwillingsschwangerschaft gehandelt und der eine Zwilling - die Klägerin - sich in einer Steißgeburtslage befunden habe. Danach wäre eine Schnittentbindung ohne die Gefahr einer Sauerstoffunterversorgung für die Klägerin möglich gewesen. Der Klägerin stünden deshalb aus dem zwischen ihrer Mutter und der Zweitbeklagten geschlossenen Behandlungsvertrag, in dessen Schutzwirkungen sie einbezogen sei, gegen die Zweitbeklagte Schadensersatzansprüche zu. Weitergehende Ansprüche seien indes zu verneinen. Deliktischen Ansprüchen der Klägerin gegen die Zweitbeklagte stehe deren Verjährungseinrede entgegen. Die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 BGB habe spätestens Ende 1981 zu laufen begonnen, so daß sie sowohl vor der Einreichung der Klage als auch vor der Abgabe der Erklärung des Haftpflichtversicherers der Zweitbeklagten vom 25. Juni 1985 über einen Verzicht auf die Geltendmachung der Verjährungseinrede abgelaufen gewesen sei. Spätestens 1981, mit der Entlassung der Klägerin aus der Klinik, seien deren Eltern Tatsachen bekannt gewesen, die den Schluß auf ein schuldhaftes Fehlverhalten der Klinikärzte und die Ursächlichkeit dieses Verhaltens für die Schäden der Klägerin als naheliegend hätten erscheinen lassen. Die Eltern, deren Kenntnis die Klägerin sich zurechnen lassen müsse, hätten gewußt, daß eine weitere Ultraschalluntersuchung nicht durchgeführt worden sei und die Ärzte weder die Zwillingsschwangerschaft noch die Beckenendlage der Klägerin gekannt hätten; weiter sei den Eltern bekannt gewesen, daß die Klägerin als Risikoschwangerschaft aus dieser Position praktisch ohne ärztliche oder hebammliche Hilfe geboren worden sei. Die Eltern hätten außerdem gewußt, daß es sich bei dieser Geburt um einen Komplikationsfall gehandelt habe, daß die Klägerin eilends in die Kinderklinik habe verlegt werden müssen und daß sie erst nach drei Monaten - in der motorischen Entwicklung deutlich zurückliegend - nach Hause entlassen worden sei. Ferner sei den Eltern bekannt gewesen, daß es während der Behandlungszeit zu einer schweren Gehirnblutung gekommen sei und im Computertomogramm Veränderungen im Gehirn festgestellt worden seien. Bei diesem Kenntnisstand sei für sie die Erhebung einer Feststellungsklage möglich und zumutbar gewesen.
II. Nach dem Senatsbeschluß vom 22. Januar 1991 sind nur noch die Ansprüche der Klägerin gegen die Zweitbeklagte auf Ersatz immaterieller Nachteile im Streit. Ohne Rechtsverstoß hat das Berufungsgericht in dem Unterlassen einer Ultraschalldiagnostik bei der Aufnahme der Mutter der Klägerin in die Klinik am 9. August 1981 einen groben Behandlungsfehler der für die Leitung der Geburt verantwortlichen Ärzte gesehen und diesem im Wege der Beweislastumkehr die Gesundheitsschäden der Klägerin zugeordnet. Indes halten die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht gegenüber einer deliktischen Einstandspflicht der Zweitbeklagten für diese Schäden ihre Verjährungseinrede aus § 852 Abs. 1 BGB durchgreifen läßt, den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Das Berufungsgericht stellt für die Kenntnis, die nach § 852 Abs. 1 BGB den Lauf der Verjährung deliktischer Ansprüche auslöst, mit Recht auf den Kenntnisstand der Eltern der Klägerin ab. Es ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt, daß für die Verjährung nach § 852 Abs. 1 BGB der Wissensstand des gesetzlichen Vertreters entscheidend ist, wenn - wie damals die Klägerin - der Geschädigte geschäftsunfähig ist (vgl. Senatsurteil vom 16. Mai 1989 - VI ZR 251/88 - VersR 1989, 914 m.w.N.).
2. Das Berufungsgericht hat jedoch an die Kenntnis eines schuldhaften Fehlverhaltens der Klinikärzte zu geringe Anforderungen gestellt.
Zwar trifft es - wie das Berufungsgericht ausführt - zu, daß § 852 Abs. 1 BGB für den Beginn der Verjährungsfrist nur auf die Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen, nicht auf deren zutreffende rechtliche Würdigung abstellt; auf Seiten des geschädigten Patienten kommt es nur auf die Kenntnis des tatsächlichen Verlaufs, nicht auf dessen exakte medizinische oder rechtliche Einordnung an (vgl. Senatsurteil vom 20. September 1983 - VI ZR 35/82 - VersR 1983, 1158, 1159 f.). Das Berufungsgericht hat jedoch das Erfordernis der Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht richtig gesehen. Für diese Kenntnis reicht es regelmäßig nicht aus, daß dem Patienten (oder seinem Wissensvertreter) der negative Ausgang einer ärztlichen Behandlung bekannt ist. Das Ausbleiben des Erfolges ärztlicher Maßnahmen kann in der Eigenart der Erkrankung oder in der Unzulänglichkeit ärztlicher Bemühungen seinen Grund haben. Deshalb gehört zur Kenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen das Wissen, daß sich in dem Mißlingen der ärztlichen Tätigkeit das Behandlungs- und nicht das Krankheitsrisiko verwirklicht hat. Dies setzt zwar nicht medizinisches Fachwissen voraus. Es ist aber zu verlangen, daß der Patient aus seiner Sicht als medizinischer Laie erkennt, daß der aufgetretene Schaden auf einem fehlerhaften Verhalten auf der Behandlungsseite beruht. Hierzu genügt es nicht schon, daß der Patient Einzelheiten des ärztlichen Tuns oder Unterlassens kennt, wie hier das unterlassen einer Ultraschalluntersuchung der Mutter der Klägerin bei der Einlieferung in das Krankenhaus. Vielmehr muß ihm aus seiner Laiensicht der Stellenwert des ärztlichen Vorgehens für den Behandlungserfolg bewußt sein. Deshalb beginnt die Verjährungsfrist nicht zu laufen, bevor nicht der Patient als medizinischer Laie Kenntnis von Tatsachen erlangt hat, aus denen sich ergibt, daß der Arzt von dem üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen ist oder Maßnahmen nicht getroffen hat, die nach ärztlichem Standard zur Vermeidung oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich waren (vgl. Senatsurteile vom 23. April 1985 - VI ZR 207/83 - VersR 1985, 740, 741 und vom 23. Februar 1988 - VI ZR 56/87 - NJW 1988, 1516, 1517).
Danach kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Eltern der Klägerin bereits vor dem 19. Oktober 1984 (§§ 209 BGB, 270 Abs. 3 ZPO) eine den Lauf der Verjährung auslösende Kenntnis von den Versäumnissen der Klinikärzte erlangt haben. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts reicht es hierfür nicht aus, daß die Eltern wußten, daß bei oder nach der Einlieferung der Mutter der Klägerin in das Krankenhaus eine Ultraschalluntersuchung nicht durchgeführt worden ist. Vielmehr hätten - sollte die Verjährung in Lauf gesetzt werden - die Eltern in dem hier interessierenden Zeitraum darüber hinaus wissen müssen, daß die Klinikärzte mit diesem Versäumnis von dem üblichen ärztlichen Vorgehen abgewichen sind und damit eine Maßnahme unterlassen haben, die zur Vermeidung und Beherrschung von Komplikationen der Geburt, wie sie hier eingetreten sind, erforderlich war. Eine solche Kenntnis ist nicht festgestellt. Vielmehr ergibt sich aus einem zu den Akten gereichten Schreiben der Eltern der Klägerin, daß sich noch im Januar 1985 ihr Verdacht darauf richtete, daß den Ärzten der Kinderklinik Fehler unterlaufen seien. Erst im April 1985 wurde gegenüber den Ärzten des Geburtskrankenhauses der Verdacht eines Behandlungsfehlers geäußert, der sich jedoch ohne die nicht vor Mitte 1985 erfolgte Einsicht in die Krankenhausunterlagen nicht konkretisieren ließ. Nach dem Prozeßstoff hat erst das Gutachten des Prof. R. vom 20. Januar 1986 den Eltern der Klägerin darüber Klarheit erbracht, daß den Klinikärzten ein schuldhaftes Fehlverhalten unterlaufen ist, weil sie es versäumt haben, nach der Einlieferung der Mutter der Klägerin in das Krankenhaus die dringend gebotene Ultraschallunterschung durchzuführen.
Dies bedeutet, daß unabhängig von dem Verjährungsverzicht bei Einreichung der demnächst zugestellten Klage bei Gericht am 19. Oktober 1987 die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 BGB noch nicht abgelaufen war.
III. Das Berufungsurteil war daher insoweit, als das Berufungsgericht deliktische Ansprüche der Klägerin gegen die Zweitbeklagte verneint hat, aufzuheben und die Sache war an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um ihm Gelegenheit zu geben, über die Höhe dieser Ansprüche zu befinden. Dem Berufungsgericht war auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens, soweit diese nicht schon jetzt getroffen werden kann, einschließlich der Kosten der von dem Senat nicht angenommenen Revision der Zweitbeklagten, zu übertragen.
Fundstellen
Haufe-Index 2993081 |
NJW 1991, 2350 |
BGHR BGB § 852 Abs. 1 Kenntnis 11 |
VersR 1991, 815 |
DfS Nr. 1994/372 |