Verfahrensgang
LG Frankfurt (Oder) (Entscheidung vom 10.05.2022; Aktenzeichen 22 KLs 7/21) |
Tenor
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 10. Mai 2022 aufgehoben, soweit von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist. Im Übrigen wird die Revision des Angeklagten verworfen.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil im Ausspruch über die Kompensation mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
3. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen, wegen Körperverletzung in zwei Fällen, wegen „Diebstahls geringwertiger Sachen“ und wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte unter Freispruch im Übrigen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Ferner hat es ausgesprochen, dass zur Entschädigung für die überlange Verfahrensdauer zehn Monate als vollstreckt gelten.
I.
Rz. 2
Die Revision des Angeklagten hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet.
Rz. 3
1. Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte seit vielen Jahren unter einer Alkoholabhängigkeit, einer Abhängigkeit von Stimulanzien und einem schädlichen Gebrauch von Cannabinoiden leidet. Eine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) hat das Tatgericht abgelehnt. Es hat bereits nicht festzustellen vermocht, dass die verfahrensgegenständlichen Taten im Rausch begangen wurden oder auf einen Hang des Angeklagten, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, zurückzuführen seien; ein symptomatischer Zusammenhang zwischen seiner Abhängigkeitserkrankung und den Taten habe nicht bestanden.
Rz. 4
2. Dies ist rechtfehlerhaft. Es fehlt insoweit eine Auseinandersetzung mit der Einlassung des Angeklagten, er habe die zwölf Pakete Kaffee am 24. März 2014 gestohlen und (ganz überwiegend) verkaufen wollen, weil er das Geld (auch) für Drogen gebraucht habe. Ist von einer solchen Beschaffungstat auszugehen - das Urteil verhält sich dazu nicht -, liegen ein Hang und der für § 64 StGB erforderliche symptomatische Zusammenhang zumindest nahe (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. Januar 2017 - 1 StR 613/16; vom 28. August 2013 - 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75), es hätte dann jedenfalls ausdrücklicher Erörterung der einzelnen Voraussetzungen des § 64 StGB im Urteil bedurft.
Rz. 5
Zudem hat das Landgericht festgestellt, dass der Angeklagte bei der Tat vom 12. Februar 2019 - einer Körperverletzung - alkoholisch beeinflusst war und einen Blutalkoholwert von 1,7 mg/g aufwies. Es verneint insoweit zwar rechtsfehlerfrei die §§ 20, 21 StGB, geht aber nicht näher auf die Voraussetzungen des § 64 StGB ein. Dazu hätte indes - gerade auch wegen der festgestellten jahrelangen Abhängigkeitserkrankung - Anlass bestanden. Denn für einen symptomatischen Zusammenhang genügt es, wenn der Hang zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. Hat er - wie hier - mehrere Taten begangen, reicht es aus, wenn ein Teil von ihnen auf den Hang zurückzuführen ist (vgl. BGH, Urteil vom 27. Juni 2019 - 3 StR 443/18, NStZ-RR 2019, 308; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl. Rn. 454 mwN).
Rz. 6
3. Das Urteil beruht auf diesem Rechtsfehler. Eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 Satz 3 StGB) kann auch unter Berücksichtigung der bei ihm diagnostizierten Schizophrenie nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Rz. 7
4. Die Frage der Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB bedarf daher unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2 StPO) neuer tatgerichtlicher Entscheidung. Einer etwaigen Nachholung der Unterbringungsanordnung steht nicht entgegen, dass - bezogen auf den Schuld- und Strafausspruch - nur der Angeklagte Revision eingelegt hat (§ 358 Abs. 2 Sätze 1 und 3 StPO). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Oktober 2022 - 5 StR 284/22; vom 30. März 2022 - 2 StR 11/22; vom 23. März 2022 - 6 StR 61/22).
Rz. 8
Der aufgezeigte Rechtsfehler lässt den Strafausspruch unberührt. Es ist auszuschließen, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf eine mildere Strafe erkannt hätte. Zwischen beiden Sanktionen besteht grundsätzlich keine Wechselwirkung; sie sind unabhängig voneinander festzusetzen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Februar 2020 - 3 StR 415/19, NStZ-RR 2020, 168; vom 6. September 2016 - 3 StR 283/16).
II.
Rz. 9
Das von der Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten auf die Kompensationsentscheidung beschränkte Rechtsmittel ist zulässig und begründet.
Rz. 10
Die Beschränkung ist wirksam. Denn Rechtsfehler bei dieser Entscheidung haben keine Auswirkungen auf den Schuld- und Strafausspruch (vgl. BGH, Beschluss vom 13. März 2019 - 1 StR 50/19; Urteil vom 27. August 2009 - 3 StR 250/09, BGHSt 54, 135; Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO Rn. 752, 1572b).
Rz. 11
Der Ausspruch über die Entschädigung hat keinen Bestand, weil die Strafkammer nicht mitgeteilt hat, wann der Angeklagte von dem gegen ihn geführten Strafverfahren Kenntnis erlangt hat (vgl. EGMR, Urteil vom 20. Juni 2019 - 497/17, NJW 2020, 1047, 1048; BGH, Beschlüsse vom 30. April 2019 - 4 StR 405/18; vom 23. Juli 2008 - 2 StR 252/08; Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO Rn. 754). Dies wäre aber notwendig gewesen, um prüfen zu können, ob diese Entscheidung rechtsfehlerfrei ergangen ist. Das Erfordernis, den Zeitpunkt der Kenntnisnahme festzustellen, folgt mittelbar aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK (i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Hiernach hat jede Person „ein Recht darauf, dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage … innerhalb angemessener Frist verhandelt wird“. Ziel der Regelung ist es zu verhindern, dass ein Beschuldigter nicht unnötig lange der Ungewissheit und den Belastungen ausgesetzt wird, die mit anhängigen Strafverfahren typischerweise verbunden sind (vgl. EGMR aaO; Gaede in MüKo-StPO, Art. 6 EMRK Rn. 362; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., Art. 6 EMRK Rn. 8). Für eine solche Ungewissheit ist jedoch erst dann Raum, wenn dem Betroffenen von offizieller Seite mitgeteilt oder sonst offenbart worden ist, dass er einer Straftat beschuldigt wird. Solcherlei Feststellungen sind den Urteilsgründen indes nicht zu entnehmen.
Rz. 12
Es kann daher offenbleiben, ob die gewährte Kompensation sich noch im Rahmen des dem Tatgericht zustehenden Beurteilungsspielraums bewegt oder - wie von der Beschwerdeführerin vorgetragen - rechtsfehlerhaft überhöht ist. Für die erneute Verhandlung weist der Senat vorsorglich auf den Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 17. Januar 2008 hin, wonach die Anrechnung häufig auf einen eher geringen Bruchteil der Strafe zu beschränken ist (GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 147).
Sander |
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Tiemann |
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Wenske |
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Fritsche |
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Arnoldi |
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Fundstellen
Haufe-Index 15568073 |
NStZ-RR 2023, 114 |
StV 2024, 250 |