Verfahrensgang
OLG Köln (Entscheidung vom 03.03.2022; Aktenzeichen 15 U 18/21) |
LG Bonn (Entscheidung vom 18.12.2020; Aktenzeichen 15 O 345/19) |
Tenor
Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gegen das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 3. März 2022 gewährt.
Auf die Revision der Klägerin wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Die Klägerin nimmt die Beklagte (in zweiter Instanz: Beklagte zu 2) wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Die Klägerin erwarb im Februar 2018 einen von der Beklagten hergestellten, erstmals im Januar 2014 zugelassenen Gebrauchtwagen Audi Q7 3.0 TDI. Den Kaufpreis finanzierte sie durch ein Darlehen. Das Fahrzeug verfügt über eine temperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung. Für die Steuerung der Schaltpunkte des Automatikgetriebes verfügt es über zwei verschiedene Programme. Das Fahrzeug ist nicht von einem Rückruf des Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA) betroffen.
Rz. 3
Die Klägerin hat gestützt auf die Behauptung mehrerer unzulässiger Abschalteinrichtungen zuletzt Freistellung aus dem Kaufvertrag und dem Darlehensvertrag sowie Erstattung gezahlter Darlehensraten abzüglich einer Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Übergabe und Abtretung des Anwartschaftsrechts, die Feststellung des Annahmeverzugs und vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist ohne Erfolg geblieben. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision gegen die Beklagte verfolgt die Klägerin die in der Berufungsinstanz insoweit zuletzt gestellten Anträge weiter.
Entscheidungsgründe
A.
Rz. 4
Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision gegen das Berufungsurteil zu gewähren, weil sie die Einlegungsfrist unverschuldet versäumt hat.
Rz. 5
Bei Einlegung der Revision am 7. April 2022 war die Einlegungsfrist, die am 5. April 2022 (Dienstag) geendet hatte, allerdings verstrichen. Das Berufungsurteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 5. März 2022 wirksam zugestellt worden (vgl. BFH, Urteil vom 19. Oktober 2022 - X R 14/21, BFHE 277, 88 Rn. 28). Für den Fristlauf ist die erste - wirksame - Zustellung maßgeblich. Dass der Fristbeginn auf einen Sonnabend fiel, ist unerheblich, weil die Zivilprozessordnung gemäß § 222 Abs. 2 ZPO diesen Umstand lediglich für das Ende der Frist als bedeutsam erachtet (vgl. BFH, Beschluss vom 28. November 2007 - IX B 175/07, juris Rn. 3).
Rz. 6
Durch die zweite Zustellung am 9. März 2022 erweckte das Berufungsgericht indessen selbst den Eindruck, es sehe die erste Zustellung als unwirksam an, weil nur in diesem Fall Veranlassung bestand, das Urteil nochmals zuzustellen. Die Berechnung der Einlegungsfrist ab der zweiten Zustellung und die um zwei Tage verspätete Einlegung waren daher unverschuldet, § 233 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Oktober 1994 - IV ZB 12/94, VersR 1995, 680, 681; Beschluss vom 4. Mai 2005 - I ZB 38/04, NJW-RR 2005, 1658 f.; Beschluss vom 26. Februar 2013 - XI ZB 15/12, juris Rn. 14). Die Klägerin hat die versäumte Prozesshandlung rechtzeitig nachgeholt. Ihr ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits gemäß § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO von Amts wegen zu gewähren, ohne dass es auf die Beachtung der Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO ankommt (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Januar 2017 - IX ZB 34/16, NJW-RR 2017, 564 Rn. 15). Die Gründe für die unverschuldete Fristversäumung sind aktenkundig.
B.
Rz. 7
Die nach Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zu ihrer Einlegung zulässige Revision hat Erfolg.
I.
Rz. 8
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
Rz. 9
Ein Anspruch aus § 826 BGB scheide aus. Es fehle an einem sittenwidrigen Handeln der Beklagten. In Bezug auf das Thermofenster habe die Klägerin keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die für die Beklagte handelnden Personen in dem Bewusstsein gehandelt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hätten. Ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten folge auch nicht aus der Schaltpunktsteuerung des Automatikgetriebes, da die Grenzwerte auch bei Deaktivierung des für den Rollenprüfstand vorgesehenen Schaltprogramms eingehalten würden und ein Unwerturteil nicht gerechtfertigt sei.
Rz. 10
Ein Anspruch gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit den Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 bestehe nicht, denn das Interesse, nicht zur Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit veranlasst zu werden, liege nicht in deren Aufgabenbereich.
II.
Rz. 11
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
Rz. 12
1. Soweit das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus §§ 826, 31 BGB verneint, sind allerdings Rechtsfehler nicht ersichtlich (vgl. § 559 Abs. 2 ZPO). Entgegen der Auffassung der Revision gilt nichts anderes, soweit das Berufungsgericht in Bezug auf die von der Klägerin gerügte Getriebesteuerung darauf abstellt, die Grenzwerte würden auch bei Deaktivierung des für den Rollenprüfstand vorgesehenen Schaltprogramms eingehalten. Zwar hat der Senat nach Erlass des angefochtenen Urteils entschieden, dass Maßstab für die Frage der Zulässigkeit einer Funktionsveränderung in Abhängigkeit von bestimmten Parametern nach Art. 3 Nr. 10 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 nicht die Einhaltung des Grenzwerts, sondern die Wirksamkeit des unverändert funktionierenden Emissionskontrollsystems unter den Bedingungen des normalen Fahrbetriebs ist (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 51, zur Veröffentlichungbestimmt in BGHZ). Gegen diese Grundsätze verstößt die angefochtene Entscheidung aber nicht. Das Berufungsgericht hat nicht die Einordnung der Schaltpunktsteuerung als unzulässige Abschalteinrichtung abgelehnt, sondern im Streitfall keine hinreichenden Umstände festgestellt, die den Sittenwidrigkeitsvorwurf rechtfertigen. Die von der Revision erhobenen Rügen von Verfahrensmängeln hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 564 Satz 1 ZPO).
Rz. 13
2. Mit der gegebenen Begründung kann jedoch ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht verneint werden. Wie der Senat nach Erlass des Berufungsurteils entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 29 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 17).
Rz. 14
Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten "großen Schadensersatzes" verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 - VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20, ZIP 2023, 1903 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.). Das Berufungsgericht hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines Differenzschadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
Rz. 15
Das Berufungsurteil ist gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben, weil es sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 561 ZPO). Das Berufungsgericht hat bislang keine Feststellungen getroffen, die eine deliktische Haftung der Beklagten wegen eines zumindest fahrlässigen Verhaltens ausschlössen. Der Senat kann daher nicht in der Sache selbst entscheiden, § 563 Abs. 3 ZPO, sondern verweist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Rz. 16
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen möglichen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259) die erforderlichen Feststellungen zu den Voraussetzungen und gegebenenfalls dem Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
Menges |
|
Möhring |
|
Götz |
|
Rensen |
|
Vogt-Beheim |
|
Fundstellen
Dokument-Index HI15989255 |