Entscheidungsstichwort (Thema)
psychische Beeinträchtigungen infolge des Unfalltodes naher Angehöriger als Gesundheitsverletzung
Leitsatz (amtlich)
Bei der Beurteilung der Frage, ob psychische Beeinträchtigungen infolge des Unfalltodes naher Angehöriger eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen, kommt dem Umstand maßgebliche Bedeutung zu, ob die Beeinträchtigungen auf die direkte Beteiligung des "Schockgeschädigten" an dem Unfall oder das Miterleben des Unfalls zurückzuführen oder ob sie durch den Erhalt einer Unfallnachricht ausgelöst worden sind.
Normenkette
BGB § 253 Abs. 2, § 823 Abs. 1; StVG § 7 Abs. 1, § 11
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers zu 2) wird das Urteil des 9. Zivilsenats des OLG Hamm vom 23.11.2012 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die auf Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines angemessenen weiteren Schmerzensgeldes nebst Zinsen gerichtete Anschlussberufung des Klägers zu 2) gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des LG Arnsberg vom 13.10.2011 zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger zu 2) (nachfolgend: Kläger) nimmt den beklagten Haftpflichtversicherer, soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse, auf Ersatz immateriellen Schadens aus einem Verkehrsunfall in Anspruch.
Rz. 2
Am 29.4.2007 gegen 15.20 Uhr befuhr Herr W. mit dem bei der Beklagten versicherten Fahrzeug die V. Straße in A. Hierbei überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um mindestens 58 km/h. Er war darüber hinaus in erheblichem Maße alkoholisiert. Nach einer langgezogenen Linkskurve kam Herr W. von der Fahrbahn ab und geriet auf die Gegenfahrbahn, wo ihm der Kläger und - hinter diesem - dessen Ehefrau auf Motorrädern mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h entgegenkamen. Herr W. verfehlte den Kläger nur knapp und erfasste dessen Ehefrau, die bei der Kollision tödliche Verletzungen davontrug. Der Kläger begab sich infolge des Unfalls in ärztliche Behandlung bei seinem Hausarzt Dr. F. Dieser diagnostizierte eine akute Belastungsreaktion nach ICD F43.9 G. Im Februar 2008 zog der Kläger aus der vormaligen Familienwohnung aus. Seinen Beruf als Lkw-Fahrer gab er auf und wechselte in den Innendienst. Die Beklagte zahlte dem Kläger außergerichtlich ein Schmerzensgeld i.H.v. 4.000 EUR.
Rz. 3
Mit der Klage begehrt der Kläger u.a. ein weiteres Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 8.000 EUR. Er macht geltend, er habe bei dem Unfall einen schweren Schock erlitten, da er miterlebt habe, wie seine Frau bei einem brutalen Verkehrsunfall getötet und er selbst nur um Haaresbreite verfehlt worden sei. Das LG hat die Klage insoweit abgewiesen. Zwar habe der Kläger infolge des Unfalls eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB davongetragen. Eine gesteigerte, über das natürliche Maß an Trauerbewältigung hinausgehende Beeinträchtigung komme dadurch zum Ausdruck, dass der Kläger aufgrund der Erlebnisse in den Innendienst habe wechseln müssen. Der Schmerzensgeldanspruch des Klägers sei allerdings durch die Zahlung der Beklagten i.H.v. 4.000 EUR erfüllt. Das OLG hat die auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes gerichtete Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Antrag auf Zahlung eines Schmerzensgeldes weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Rz. 4
Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger schon dem Grunde nach gegen die Beklagte kein Schmerzensgeldanspruch wegen der unfallbedingten Tötung seiner Ehefrau zu. Ein Schmerzensgeldanspruch aus §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB, §§ 7 Abs. 1, 11 Satz 2 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG setze eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsbeschädigung voraus. Er komme deshalb nicht bereits als Ausgleich für seelische Schmerzen oder Trauer, sondern nur dann in Betracht, wenn die psychischen Beeinträchtigungen des Betroffenen infolge des Unfalltodes eines nahen Angehörigen nach Art und Schwere deutlich über das hinausgingen, was dem Getöteten nahestehende Personen erfahrungsgemäß an seelischem Schmerz erlitten. Dass die psychischen Beeinträchtigungen des Klägers diese Qualität hätten, lasse sich nicht feststellen. Nach seinen Bekundungen sei er vier Wochen krankgeschrieben, drei bis vier Mal in ärztlicher Behandlung gewesen und habe über ein bis zwei Monate Beruhigungsmittel eingenommen. Eine psychologische oder psychotherapeutische Behandlung zur Trauerbewältigung habe nicht stattgefunden. Angesichts dessen bewegten sich die Beeinträchtigungen des Klägers ungeachtet der hausärztlich attestierten Diagnose einer akuten Belastungsreaktion nach ICD F43.9 G auch unter Berücksichtigung des Arbeitsplatzwechsels und des Auszuges aus der ehelichen Wohnung, zu denen sich der Kläger infolge des Todesfalls veranlasst gesehen habe, noch im Rahmen dessen, was als sicher schmerzliche, gleichwohl übliche Trauerreaktion nach dem Unfalltod der Ehefrau zu erwarten sei.
II.
Rz. 5
Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes kann auf der Grundlage des für die revisionsrechtliche Prüfung maßgeblichen Sachverhalts nicht verneint werden. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, §§ 7 Abs. 1, 11 Satz 1 StVG infolge des Unfalls nicht davongetragen.
Rz. 6
1. Das Berufungsgericht ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass durch ein Unfallgeschehen ausgelöste, traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen können (vgl. BGH, Urt. v. 22.5.2007 - VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 Rz. 12; v. 30.4.1996 - VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 344; v. 16.1.2001 - VI ZR 381/99, VersR 2001, 874, 875; v. 12.11.1985 - VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 24). Der Senat hat wiederholt ausgesprochen, dass die Schadensersatzpflicht für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung nicht voraussetzt, dass sie eine organische Ursache haben; es genügt vielmehr grundsätzlich die hinreichende Gewissheit, dass die psychisch bedingte Gesundheitsschädigung ohne die Verletzungshandlung nicht aufgetreten wäre (BGH vom 30.4.1996 - VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341, 343 f. Rz. 14 f.; v. 4.4.1989 - VI ZR 97/88, VersR 1989, 853, 854; v. 9.4.1991 - VI ZR 106/90, VersR 1991, 704, 705; v. 2.10.1990 - VI ZR 353/89, VersR 1991, 432, jeweils m.w.N.).
Rz. 7
2. Im Ausgangspunkt zu Recht hat das Berufungsgericht auch angenommen, dass dieser Grundsatz nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats im Bereich der sog. Schockschäden eine gewisse Einschränkung erfährt. Danach begründen seelische Erschütterungen wie Trauer und seelischer Schmerz, denen Hinterbliebene beim (Unfall)Tod eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, auch dann nicht ohne Weiteres eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet werden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sind. Der Senat hat dies damit begründet, dass die Anerkennung solcher Beeinträchtigungen als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB der Absicht des Gesetzgebers widerspräche, die Deliktshaftung gerade in § 823 Abs. 1 BGB sowohl nach den Schutzgütern als auch den durch sie gesetzten Verhaltenspflichten auf klar umrissene Tatbestände zu beschränken und Beeinträchtigungen, die auf die Rechtsgutverletzung eines anderen bei Dritten zurückzuführen sind, soweit diese nicht selbst in ihren eigenen Schutzgütern betroffen sind, mit Ausnahme der §§ 844, 845 BGB ersatzlos zu lassen (vgl. BGH, Urt. v. 11.5.1971 - VI ZR 78/70, BGHZ 56, 163, 164 ff.; v. 31.1.1984 - VI ZR 56/82, VersR 1984, 439; v. 4.4.1989 - VI ZR 97/88, VersR 1989, 853, 854). Psychische Beeinträchtigungen infolge des Todes naher Angehöriger, mögen sie auch für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sein, können vielmehr nur dann als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom tödlichen Unfall eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind (vgl. BGH, Urt. v. 13.1.1976 - VI ZR 58/74, VersR 1976, 539, 540; v. 31.1.1984 - VI ZR 56/82, VersR 1984, 439; v. 4.4.1989 - VI ZR 97/88, VersR 1989, 853, 854; v. 6.2.2007 - VI ZR 55/06, VersR 2007, 803 Rz. 6, 10; v. 20.3.2012 - VI ZR 114/11, VersR 2012, 634 Rz. 8; ablehnend: Staudinger/Schiemann, BGB, Neubearb. 2005, § 249 Rz. 46; Oetker in MünchKomm/BGB, 6. Aufl., § 249 Rz. 148, 151; Wagner in MünchKomm/BGB, 6. Aufl., § 823 Rz. 144, jeweils m.w.N.).
Rz. 8
3. Die Revision rügt aber mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Anforderungen an die Annahme einer Gesundheitsverletzung in diesem Sinne überspannt und nicht berücksichtigt hat, dass der Kläger den Unfalltod seiner Ehefrau unmittelbar miterlebt hat und durch das grob verkehrswidrige Verhalten des W. selbst gefährdet war.
Rz. 9
a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte Dr. F. beim Kläger eine akute Belastungsreaktion nach ICD F43.9 G festgestellt. Bei der ICD handelt es sich um die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems). Sie wird von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben (vgl. http://apps.who.int/classifications/icd/en/, abgerufen am 13.1.2015). Im Kapitel V (F00-F99) der ICD werden psychische und Verhaltensstörungen beschrieben. Die Untergruppe F40-F48 befasst sich dabei mit neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen. Gegenstand des Unterabschnitts F43 sind Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen, die als direkte Folge einer akuten schweren Belastung oder eines kontinuierlichen Traumas entstehen, erfolgreiche Bewältigungsstrategien behindern und aus diesem Grunde zu Problemen der sozialen Funktionsfähigkeit führen (vgl. https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/index.htm, abgerufen am 13.1.2015). Wie das Berufungsgericht weiter festgestellt hat, sah sich der Kläger infolge der Eindrücke aus dem Unfallgeschehen veranlasst, aus der in seinem Eigentum stehenden ehelichen Wohnung auszuziehen und seinen Beruf als Lkw-Fahrer aufzugeben. Nach dem mangels gegenteiliger Feststellungen revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Sachvortrag des Klägers hatte ihm sein Arzt zu dem Wohnungswechsel geraten, um die Bedingungen der psychischen Verarbeitung des Unfallereignisses zu verbessern. Der Kläger musste seinen Beruf aufgeben, weil er unter fortdauernden Angstzuständen, Schweißausbrüchen und Zittern im Straßenverkehr leidet und deshalb nicht mehr in der Lage ist, ein Fahrzeug zu führen. Auch auf das Motorradfahren muss der Kläger verzichten. Diese Beeinträchtigungen gehen aber deutlich über die gesundheitlichen Auswirkungen hinaus, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom Unfalltod eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind.
Rz. 10
b) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht auch nicht berücksichtigt, dass der Senat stets dem Umstand maßgebliche Bedeutung beigemessen hat, ob die von dem "Schockgeschädigten" geltend gemachten psychischen Beeinträchtigungen auf seine direkte Beteiligung an einem Unfall oder das Miterleben eines Unfalls zurückzuführen oder ob sie durch den Erhalt einer Unfallnachricht ausgelöst worden sind (vgl. BGH vom 11.5.1971 - VI ZR 78/70, BGHZ 56, 163, 166 f.; v. 22.5.2007 - VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 Rz. 13 f.; v. 12.11.1985 - VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 241 f.; v. 16.1.2001 - VI ZR 381/99, VersR 2001, 874, 875 f.). So hat der Senat die Haftung des Schädigers für psychisch vermittelte Gesundheitsstörungen in den Fällen für zweifelsfrei gegeben erachtet, in denen der Geschädigte am Unfall direkt beteiligt war und dieser das Unfallgeschehen psychisch nicht verkraften konnte (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.1985 - VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 241; v. 22.5.2007 - VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 Rz. 14).
Rz. 11
Die Revision macht zu Recht geltend, dass der Kläger nach den getroffenen Feststellungen nicht lediglich vom Tod seiner Ehefrau benachrichtigt wurde und deshalb einen tief empfundenen Trauerfall bewältigen musste, sondern den tödlichen Unfall seiner Ehefrau unmittelbar miterlebt hat; darüber hinaus war er selbst dem Unfallgeschehen ausgesetzt und durch das grob verkehrswidrige Verhalten des W. gefährdet. Nach dem mangels gegenteiliger Feststellungen revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Vortrag des Klägers hatte dieser, nachdem ihn das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug um Haaresbreite verfehlt hatte, in den Rückspiegel geblickt und mit angesehen, wie seine Ehefrau mit voller Wucht von dem Fahrzeug erfasst wurde. Legt man dies zugrunde, so hat der Kläger zum einen selbst unmittelbare Lebensgefahr für sich wahrgenommen und zum anderen akustisch und optisch miterlebt, wie seine Ehefrau bei einer sehr hohen Kollisionsgeschwindigkeit als Motorradfahrerin nahezu ungeschützt von einem Auto erfasst und getötet wurde. Ein solches Erlebnis ist hinsichtlich der Intensität der von ihm ausgehenden seelischen Erschütterungen mit dem Erhalt einer Unfallnachricht nicht zu vergleichen.
III.
Rz. 12
Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung über den Schmerzensgeldanspruch des Klägers an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 7620287 |
NJW 2015, 1451 |
NJW 2015, 6 |
EBE/BGH 2015, 74 |
FamRZ 2015, 651 |
ZAP 2015, 350 |
DAR 2015, 200 |
DAR 2015, 302 |
JZ 2015, 187 |
JuS 2015, 747 |
MDR 2015, 391 |
NJ 2015, 249 |
NZV 2015, 227 |
NZV 2015, 4 |
VRS 2015, 233 |
VersR 2015, 501 |
ZfS 2015, 382 |
ErbR 2015, 225 |
FF 2015, 172 |
GV/RP 2015, 596 |
NJW-Spezial 2015, 169 |
RÜ 2015, 216 |
RdW 2015, 238 |
VRA 2015, 60 |
VRR 2015, 9 |
r+s 2015, 151 |
FuBW 2015, 632 |
FuHe 2015, 501 |
FuNds 2015, 553 |
LL 2015, 325 |