Entscheidungsstichwort (Thema)
Wegfall der Geschäftsgrundlage. Ergänzende Vertragsauslegung
Leitsatz (redaktionell)
1. Geschäftsgrundlage eines Vertrags sind regelmäßig nur die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsabschluss aber zu Tage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien sich aufbaut.
2. Bei einer ergänzenden Vertragsauslegung ist unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu untersuchen, wie die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner den offen gebliebenen Punkt geregelt hätten.
Normenkette
BGB §§ 313, 242
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 23. Zivilsenats des OLG Dresden v. 22.8.2000 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des LG Leipzig v. 18.2.2000 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Parteien streiten über den Umfang der Nutzungsbefugnis aus einem Mietvertrag.
Die Klägerin schloss am 11./22.11.1994 mit der Beklagten einen schriftlichen Mietvertrag über eine bebaute Grundstücksteilfläche (Speicher C) auf die Dauer von 30 Jahren mit 25-jähriger Verlängerungsoption. Der Mietgegenstand ist in § 1 des Mietvertrages wie folgt beschrieben:
"a) im Eigentum des Mieters: Gebäude
b) im Eigentum der DB AG: Grund und Boden"
Die Mietsache sollte gem. § 2 des Mietvertrages "zur Nutzung mit den bestehenden Gebäuden als Wirtschaftsgebäude" verwendet werden. § 2 lautet weiter wie folgt:
"Das uneingeschränkte Eigentum und Nutzungsrecht am Gebäude wird auf jeden Fall gewährleistet, auch bei Wahrnehmung der Verlängerungsoption gem. § 18 (4). Diese Regelung hat Vorrang vor allen sonstigen folgenden Vertragsbedingungen."
Die Parteien gingen davon aus, dass an dem Gebäude ein von Grund und Boden gesondertes Eigentum der Beklagten bestand, wie es nach dem Recht der DDR möglich war. Sie einigten sich dahin, dass die Klägerin das Gebäude erwerben sollte. Mit privatschriftlichem Kaufvertrag v. 22.11.1994 kaufte die Klägerin das Gebäude von der Immobilienfirma R., an die die Beklagte das Gebäude zuvor veräußert hatte. Weder die Immobilienfirma R. noch die Klägerin ist Eigentümerin des Gebäudes geworden, weil kein getrenntes Gebäudeeigentum, welches gesondert hätte übertragen werden können, bestand. In der Folge zahlte die Klägerin die vereinbarte Miete und setzte das Gebäude in Stand.
Mit Schreiben v. 14.9.1999 kündigte die Beklagte fristlos mit der Begründung, die Klägerin könne mangels Eigentums an dem Gebäude die Mietsache nicht vertragsgemäß nutzen.
Mit der Klage verlangt die Klägerin festzustellen, dass sie berechtigt ist, die gemieteten Teilflächen und das darauf stehende Gebäude auf Grund des Mietvertrages v. 11./22.11.1994 uneingeschränkt zu nutzen. Die Beklagte hat für den Fall, dass der Klage stattgegeben wird, Hilfswiderklage auf Zahlung einer erhöhten Miete für die Nutzung des Gebäudes rückwirkend ab Mietvertragsbeginn und für die Zukunft erhoben.
Das LG hat durch den Einzelrichter der Klage stattgegeben und die Widerklage abgewiesen, obwohl der Rechtsstreit nicht dem Einzelrichter übertragen worden war. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil des LG abgeändert und die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die vom Senat angenommene Revision der Klägerin, mit der sie die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils begehrt.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten.
1. Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt: Die Feststellungsklage sei unbegründet; die Klägerin könne aus dem Mietvertrag v. 11./22.11.1994 kein Nutzungsrecht für das Gebäude "Speicher C" herleiten. Der Mietvertrag lasse eine Auslegung dahin, dass die Beklagte nicht nur das Grundstück, sondern auch das Gebäude der Klägerin zur Nutzung überlassen habe, nicht zu. Aus der Beschreibung des Mietgegenstandes in § 1 des Mietvertrages ergebe sich, dass nur der Grund und Boden, nicht aber das Gebäude vermietet worden sei. Demgemäß sei § 2 des Mietvertrages dahin zu verstehen, dass die Beklagte nur das vermeintliche Eigentum der Klägerin am Gebäude und das hieraus resultierende Nutzungsrecht am Gebäude habe gewährleisten wollen.
Ein Anspruch der Klägerin auf Nutzung des Gebäudes lasse sich auch nicht aus den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage herleiten. Zwar sei die gemeinsame Vorstellung der Parteien, die Klägerin könne an dem Gebäude "Speicher C" selbständiges Gebäudeeigentum erwerben, Grundlage des Mietvertrages geworden. Die bei Wegfall der Geschäftsgrundlage grundsätzlich eintretende Rechtsfolge der Vertragsanpassung komme hier jedoch nicht in Betracht, weil die Fortsetzung des Vertrages für die Beklagte im Hinblick auf die Dauer des Mietvertrages unzumutbar sei. Im vorliegenden Fall führe die Interessenabwägung deshalb zur Vertragsaufhebung.
Das Berufungsgericht hat gem. § 540 ZPO a. F. in der Sache selbst entschieden, obwohl der Rechtsstreit an einem wesentlichen Verfahrensmangel litt, weil er in erster Instanz durch den Einzelrichter entschieden worden ist, ohne auf ihn übertragen worden zu sein. Es hat eine Zurückverweisung an die erste Instanz für nicht sachdienlich gehalten, weil der Rechtsstreit ohne weitere Sachaufklärung und Beweiserhebung zur Entscheidung reif sei.
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten nicht in allen Punkten einer revisionsrechtlichen Überprüfung stand.
2. Ohne Erfolg rügt die Revision allerdings, das Berufungsgericht habe die Parteien nicht ausdrücklich dazu angehört, dass es beabsichtige, den Rechtsstreit nicht gem. § 539 ZPO a. F. an das LG zurückzuverweisen, sondern nach § 540 ZPO a. F. selbst zu entscheiden. Diese Rüge hat der Senat geprüft und für nicht durchgreifend erachtet (§ 565a ZPO a. F.).
3. Mit Recht und von der Revision als ihr günstig nicht angegriffen hat das Berufungsgericht das Vorliegen eines Kündigungsgrundes wegen einer Pflichtverletzung der Klägerin nach § 15 Abs. 2a des Mietvertrages verneint. Die Klägerin hat dadurch, dass sie kein Eigentum an dem Gebäude erworben hat und deshalb daraus kein Recht zur Nutzung des Gebäudes ableiten kann, nicht gegen vertragliche Pflichten verstoßen.
4. Zu Recht rügt die Revision jedoch, das Berufungsgericht habe bei der Auslegung des Mietvertrages dahin, dass er nur die Nutzung von Grund und Boden, nicht aber auch des Gebäudes gestatte, gegen anerkannte Auslegungsregeln verstoßen.
Das Berufungsgericht hat bei der Auslegung von § 2 des Mietvertrages einen wesentlichen für die Auslegung erheblichen Umstand außer Acht gelassen. Unstreitig wussten die Parteien, dass die Klägerin bei Abschluss des Mietvertrages nicht Eigentümerin des Gebäudes war. Es lagen lediglich privatschriftliche Kaufverträge vor; eine Eintragung im Grundbuch (Gebäudegrundbuchblatt) war nicht erfolgt. Vor diesem Hintergrund verstößt die Auslegung von § 2 des Mietvertrages durch das Berufungsgericht, die Beklagte habe der Klägerin nur das aus dem Eigentum resultierende Nutzungsrecht, nicht aber ein eigenständiges Nutzungsrecht am Gebäude gewährleisten wollen, gegen das Gebot der interessengerechten Auslegung. War nämlich noch nicht sicher, dass die Klägerin Eigentümerin des Gebäudes wird, so kann § 2 Abs. 1 S. 3 des Mietvertrages, wonach die Beklagte der Klägerin das uneingeschränkte Eigentum und Nutzungsrecht am Gebäude auf jeden Fall gewährleistet, interessengerecht nur dahin verstanden werden, dass damit die von den Parteien unstreitig beabsichtigte langfristige Nutzung auch des Gebäudes sichergestellt werden sollte, ohne die der Mietvertrag über Grund und Boden sinnlos war. Denn die Klägerin, die - mit Kenntnis der Beklagten - das unstreitig erheblich renovierungsbedürftige Wirtschaftsgebäude in Stand setzen wollte, bedurfte angesichts der nicht unerheblichen Investitionskosten der Planungssicherheit, und zwar auch für den Fall, dass der geplante Eigentumserwerb - aus welchen Gründen auch immer - fehlschlagen sollte. Diese Sicherheit sollte ihr die in § 2 des Mietvertrags garantierte langfristige Nutzungsmöglichkeit gewährleisten.
Eine Anwendung der Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage, wie sie das Berufungsurteil vornimmt, kommt daher schon deshalb nicht in Betracht, weil die Parteien die Nutzung des Gebäudes zum Vertragsinhalt gemacht haben. Geschäftsgrundlage sind nach ständiger Rechtsprechung jedoch nur die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsabschluss aber zu Tage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt bestimmter Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien sich aufbaut (vgl. BGH Urt. v. 6.12.1989 - VIII ZR 310/88, MDR 1990, 428 = BGHR BGB § 242 Geschäftsgrundlage 16; v. 24.11.1988 - VII ZR 222/87, MDR 1989, 441 = NJW-RR 1989, 775; v. 14.3.1990 - VIII ZR 18/89, MDR 1990, 1102 = NJW-RR 1990, 817 [819]).
Eine interessengerechte Auslegung des Mietvertrages führt deshalb zu dem Ergebnis, dass die Parteien für den Fall, dass die Klägerin kein Eigentum an dem Gebäude erwirbt, dieses jedenfalls langfristig nutzen darf.
5. Die Hilfswiderklage ist unbegründet. Die Beklagte hat, wie das LG im Ergebnis zutreffend ausgeführt hat, gegen die Klägerin keinen Anspruch auf Zahlung zusätzlichen Nutzungsentgelts für das Gebäude.
Eine ergänzende Vertragsauslegung verhilft dem Begehren der Beklagten nicht zum Erfolg. Bei der ergänzenden Auslegung ist unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu untersuchen, wie die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragspartner den offen gebliebenen Punkt geregelt hätten (BGH, Urt. v. 12.2.1997 - V ZR 250/96, MDR 1998, 490 = NJW 1998, 1219 [1220] m. w. N.). Die Parteien haben für den Fall, dass die Klägerin kein Eigentum an dem Gebäude erwirbt, über die Vereinbarung einer Nutzungsbefugnis der Klägerin hinaus keine weiteren Regelungen getroffen. Sie haben auch kein gesondertes Nutzungsentgelt vereinbart. Mit welchem Inhalt im Einzelnen eine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht kommt, kann offen bleiben, weil sie im Ergebnis zu keinem Anspruch auf zusätzliches Nutzungsentgelt führen würde.
Den Parteien war bewusst, dass das Gebäude stark renovierungsbedürftig war und von der Beklagten als Wirtschaftsgebäude erst genutzt werden konnte, wenn sie es zuvor wie beabsichtigt in Stand gesetzt hatte. Ziel der Parteien war es, der Klägerin diese Nutzung mit Rücksicht auf die von ihr zu erbringenden erheblichen Investitionszulagen für die Dauer des Mietvertrages über den Grund und Boden zu sichern.
Dies sollte durch die beabsichtigte Übertragung des Eigentums an dem Gebäude auf die Klägerin erreicht werden, was zugleich zur Folge gehabt hätte, dass die Instandsetzung und Instandhaltung des Gebäudes nicht mehr der Beklagten, sondern der Klägerin oblegen hätte. Im Gegenzug sollte die Beklagte den - mit Rücksicht auf den Zustand des Gebäudes ersichtlich niedrig bemessenen - Kaufpreis von 5.000 DM zzgl. Mehrwertsteuer erhalten.
Da jedoch kein Gebäudeeigentum bestand, das übertragen werden konnte, hätten die Parteien nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Interessen eine Vereinbarung getroffen, mit der dieses Ziel auf möglichst ähnliche Weise hätte erreicht werden können. Dabei bedarf es hier keiner Entscheidung, ob dies am besten mit der Vereinbarung eines auf die Dauer des Mietverhältnisses über das Grundstück befristeten nießbrauchsähnlichen Rechtsverhältnisses zu erreichen war, das der Klägerin die Nutzung des Gebäudes gesichert hätte, ohne die Beklagte mit Instandsetzungspflichten (vgl. BGH v. 14.12.1990 - V ZR 36/89, BGHZ 113, 179 [184] = MDR 1991, 517; BGHZ 52, 234 [237]) und Instandhaltungspflichten (vgl. § 1041 BGB) zu belasten, oder ob sich insoweit eher eine mietvertragliche Regelung angeboten hätte, sei es durch Einbeziehung des Gebäudes in den bestehenden Mietvertrag über den Grund und Boden, sei es durch einen gesonderten langfristigen Mietvertrag über das Gebäude. Es muss den Parteien auch überlassen bleiben, die Einzelheiten einer solchen vertraglichen Lösung noch einverständlich zu regeln.
Unbeschadet einer solchen Regelung steht aber schon jetzt fest, dass die Beklagte für die Nutzung des Gebäudes jedenfalls kein höheres Entgelt verlangen kann, als ihr in Gestalt der Einmalzahlung von 5.000 DM zzgl. Mehrwertsteuer schon zugeflossen ist. Dies ergibt sich im Falle einer nießbrauchsähnlichen Lösung schon daraus, dass der befristete Nießbrauch gegenüber der Übertragung des Volleigentums als ein minus anzusehen ist, das kein höheres Entgelt rechtfertigen kann als den Kaufpreis für das Eigentum. Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass die Beklagte nach Beendigung des Mietverhältnisses Aussicht darauf hat, ein in Stand gesetztes Gebäude zurückzuerhalten. Und im Falle einer mietvertraglichen Lösung wäre ein höheres Entgelt nur angemessen, wenn die Instandsetzungs- und Instandhaltungspflicht bei der Beklagten verblieben wäre, was aber den Interessen der Parteien und den von ihnen verfolgten Zielen widersprochen hätte. Sie hätten daher redlicherweise vereinbart, dass die Klägerin die Instandsetzungs- und Instandhaltungslast übernimmt, die sie auch bei einem Eigentumserwerb zu tragen gehabt hätte.
Sollten die Parteien, was ihnen unbenommen bleibt, für die Zukunft gleichwohl eine Regelung treffen wollen, bei der die Instandhaltungspflicht der Beklagten obliegt und die Klägerin mit Rücksicht darauf ein über den ursprünglich vereinbarten Kaufpreis hinausgehendes Entgelt zahlt, stünde einem entsprechenden Zahlungsbegehren der Beklagten die Rechtskraft der Abweisung ihrer Widerklage jedenfalls nicht entgegen, weil es sich insoweit um einen nachträglich entstandenen, auf neuer vertraglicher Grundlage beruhenden Anspruch handeln würde, der mit dem hier mit der Widerklage geltend gemachten Anspruch nicht identisch ist.
6. Einer Zurückverweisung an das Berufungsgericht oder das LG bedarf es nicht. Nach § 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO a. F. hat das Revisionsgericht die Entscheidung des Berufungsgerichts zu ersetzen, wenn auf Grund des festgestellten Sachverhalts die Sache zur Endentscheidung reif ist. Das ist hier der Fall. Aus diesem Grund ist auch, trotz des wesentlichen Verfahrensmangels im ersten Rechtszug (Verstoß gegen den gesetzlichen Richter), eine abschließende Entscheidung gem. § 540 ZPO a. F. sachdienlich. Danach war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen und das landgerichtliche Urteil wieder herzustellen.
Fundstellen
NJ 2004, 75 |
GuT 2003, 210 |
IWR 2004, 68 |