Verfahrensgang
KG Berlin (Urteil vom 08.02.1977) |
LG Berlin (Urteil vom 14.04.1976) |
Tenor
I. Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin vom 8. Februar 1977 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Berlin vom 14. April 1976 wird zurückgewiesen.
II. Der Klägerin fallen die Kosten der Rechtsmittelzüge zur Last.
Tatbestand
Der am 1. Januar 1959 geborene Beklagte und sein damaliger Mitschüler Daniel B. waren im Frühjahr 1973 Schüler derselben Klasse der Freien Tagesschule nach der Pädagogik Rudolf St. in B.. Am 15. März 1973 hatten die Schüler kurz vor Beginn des Gartenbauunterrichtes, wie von der Lehrerin ihnen aufgetragen, Gartenabfall zu einem großen Haufen zusammengeharkt und angezündet, weil er verbrannt werden sollte. Der Beklagte warf eine etwa zu 3/4 gefüllte Flasche mit Brennspiritus, die er von zu Hause mitgebracht hatte, in das Feuer. Durch die dabei entstandene Explosion erlitt der in der Nähe des Feuers stehende B. Verbrennungen an beiden Unterschenkeln und Fußrücken.
Die Klägerin hat als Eigenunfallversicherer (§ 655 Abs. 2 Nr. 5 RVO) den Unfall als der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 539 Abs. 1 Nr. 14 b RVO) unterfallend anerkannt und für die Heilbehandlung des verletzten Schülers 8.528,40 DM aufgewendet.
Mit der Klage verlangt sie von dem Beklagten Ersatz ihrer Aufwendungen. Dieser wendet ein, er könne aufgrund der Haftungsfreistellung des § 637 Abs. 4 RVO nicht in Anspruch genommen werden. Ein Regreßanspruch der Klägerin aus § 640 RVO gegen ihn bestehe nicht, weil er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt habe.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Kammergericht hat hingegen den Beklagten antragsgemäß verurteilt. Mit der zugelassenen Revision begehrt der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht stellt fest, der Beklagte habe, wie von der Klägerin vorgetragen, die Flasche mit Brennspiritus von zu Hause mitgebracht und in das offene Feuer geworfen. Nach seiner Auffassung kann dieser Vorgang nicht mehr als eine „betriebliche Tätigkeit” im Sinne des § 637 Abs. 1 RVO angesehen werden, weil ein innerer Zusammenhang und eine enge Beziehung zum Schulbetrieb fehle. Da der Beklagte auch fahrlässig gehandelt und nichts dafür dargetan habe, daß ihm die erforderliche Einsicht in seine Verantwortlichkeit gefehlt habe, müsse er der Klägerin, auf die die Schadensersatzansprüche gemäß § 1542 RVO übergegangen seien, haften.
II.
Diese Beurteilung hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts entfällt ein nach § 1542 RVO auf die Klägerin übergegangener Ersatzanspruch des verletzten B. schon deshalb, weil dieser einen Schulunfall erlitten hat, den der Beklagte als sein Mitschüler im „Schulbetrieb” verursacht hat, weshalb zu dessen Gunsten die Haftungsfreistellung zwischen Schülern untereinander gemäß § 637 Abs. 4 RVO eingreift. Denn das Verhalten des Beklagten ist dem Schulbetrieb zuzurechnen (§ 637 Abs. 1 RVO).
1. Nach § 539 Abs. 1 Nr. 14 b RVO sind Schüler während des Besuches allgemeinbildender Schulen gegen „Arbeitsunfälle” versichert. Daß sich der Unfall für den verletzten Schüler in diesem Sinne als versicherungspflichtiger Schulunfall darstellt, unterliegt keinem Zweifel und wird von der Klägerin selbst anerkannt, die ihm Unfallhilfe in Form von Heilfürsorge gewährt hat. Auch das Berufungsgericht geht davon aus.
Infolgedessen stellt sich für die Ersatzansprüche des Verletzten aus Körperverletzung gegen den Beklagten die weitere Frage, ob diese nach § 637 Abs. 4 RVO ausgeschlossen sind, weil es um Ersatzansprüche von Versicherten untereinander geht und der Beklagte auch nicht etwa seinen Mitschüler vorsätzlich verletzt hat. Beide Beteiligte, Schädiger und Verletzter, waren zur Unfallzeit Schüler und besuchten eine allgemeinbildende Schule, auf deren Gelände sie sich während der Unterrichtszeit aufhielten. Zum Unterricht gehörte auch die Gartenbaustunde, mit der die betroffenen Schüler beschäftigt waren. Allerdings verweist § 637 Abs. 4 RVO, soweit Ansprüche der Versicherten untereinander in Rede stehen, auf Abs. 1 dieser Vorschrift. Die Haftungsfreistellung des Schädigers soll nämlich auch bei Unfällen eines Schülers, die durch einen Mitschüler verursacht worden sind, nur dann eintreten, wenn der (mitversicherte) Schüler den Unfall „durch eine betriebliche Tätigkeit” verursacht hat.
2. Was bei Schulunfällen unter „durch eine betriebliche Tätigkeit” zu verstehen ist, hat der Senat in seinem, dem Berufungsgericht bei seiner Entscheidung offensichtlich nocht nicht bekannten Urteil vom 12.
Oktober 1976 (BGHZ 67, 279 ff) im einzelnen ausgeführt (vgl. dazu Wolber, VersR 77, 369 und SozVers 77, 8 ff sowie Wussow WJ 1976, 196). Danach muß die gegenüber der Arbeitswelt verschiedene „betriebliche” Situation in der Schule und der Zweck der Einbeziehung von Schulunfällen in die gesetzliche Unfallversicherung berücksichtigt werden. Die Grundsätze, die in der Rechtsprechung zum Begriff der „betrieblichen Tätigkeit” in der Arbeitswelt entwickelt worden sind, lassen sich nicht, wie das Berufungsgericht meint, ohne weiteres auf Schulunfälle übertragen. Zu fragen ist vielmehr, ob der Unfall „schulbezogen” war. Dabei muß die besondere Situation der Kinder und Jugendlichen in der Schule, nämlich neben den besonderen Gefahren des Schulbetriebes ihre mangelnde Erfahrung, sich mit der erforderlichen Rücksichtnahme und gegenseitigen Anpassung in eine nicht selbst gewählte Gruppe einzufügen, ihr natürlicher Spieltrieb und die sich aus dem engen schulischen Kontakt untereinander ergebende typische Gefährdung berücksichtigt werden.
Nach diesen Maßstäben ist die Sicht des Berufungsgerichts, das für die Verletzungshandlung des Beklagten einen inneren Zusammenhang und eine enge Beziehung zum Schulbetrieb vermißt, zu eng. Das Anzünden der Gartenabfälle auf dem Schulgelände war im vorliegenden Fall sogar von der Lehrerin angeordnet und somit Teil des Unterrichts. Wenn der Beklagte die Spiritusflasche in das Feuer warf, so unterlag er einer typischen Verlockung von Jugendlichen durch die Faszination des brennenden Feuers. Neugier, Sensationslust und vielleicht auch der Wunsch, den Schulkameraden zu imponieren, erklären sein Verhalten. Damit haben aber sein Tun und die daraus folgende Verletzung des Mitschülers Faktoren bestimmt, die ihren Grund in der spezifischen Schulsituation und den durch sie hervorgerufenen Gefährdungen haben. Zu dem Unfall ist es gekommen, weil sowohl der Beklagte als auch sein Schulkamerad B. infolge des gemeinsamen Schulbesuches in einen für die Schulsituation typischen gefährlichen Kontakt gekommen sind. Ohne Belang ist es dabei, daß der Beklagte die Spiritusflasche von zu Hause mitgebracht hat. Auch die Gefährdung von Mitschülern durch solche in die Schule mitgebrachte Gegenstände gehört zu den Gefahren, denen Kinder und Jugendliche in der Schule typischerweise ausgesetzt sind. Denn hier stand die Verwendung der mit Spiritus gefüllten Flasche in engem Zusammenhang damit, daß die Gartenabfälle verbrannt werden sollten, also zu Lehrzwecken ein Feuer angezündet und unterhalten werden sollte. Die so und aus jugendlichem Überschwang oder Unverstand entstehenden Gefahren nach Möglichkeit zu unterbinden, ist u.a. Aufgabe der Aufsicht durch die Lehrer.
Nach allem hat der Beklagte seinen Mitschüler nicht nur „bei Gelegenheit” des Schulbesuchs verletzt, vielmehr war diese Verletzungshandlung „schulbezogen” mit der Folge, daß seine Haftung für die (jedenfalls nicht vorsätzlich begangene) Körperverletzung ausgeschlossen ist.
3. Das Berufungsgericht hat, von seinem Standpunkt aus folgerichtig, nicht abschließend geprüft, ob die Klägerin einen Rückgriffsanspruch gegen den Beklagten aus § 640 RVO hat, weil dieser etwa grob fahrlässig gehandelt hat, indessen angedeutet, daß es zur Bejahung dieser Frage neigen würde. Zur Prüfung dieser Frage bedarf es jedoch keiner Zurückverweisung der Sache; der Senat kann vielmehr selbst entscheiden, da weitere tatsächliche Feststellungen zum Unfallhergang nicht mehr zu treffen sind.
a) Auch ein Regreßanspruch der Klägerin nach § 640 RVO ist nach Ansicht des Senats nicht begründet, weil der Beklagte nicht grob fahrlässig gehandelt hat. Dabei kann unterstellt werden, daß er altersgemäß entwickelt war und die erforderliche Einsicht zur Erkenntnis seiner Verantwortlichkeit i.S. des § 828 Abs. 2 BGB hatte, wie es das Berufungsgericht angenommen hat. Sicherlich wird in der Regel auch ein 14-jähriger Junge wissen, daß das Hantieren mit Brennspiritus gefährlich ist, weil dieser sich explosionsartig entzünden kann. Gerade diese Möglichkeit und die Erwartung eines entsprechenden Schauspieles dürfte den Beklagten veranlaßt haben, die Flasche in die Flammen zu werfen. Indessen ist bereits zweifelhaft, ob er unter Berücksichtigung seiner Jugend dabei schon einfache, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und nicht das beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem 14-jährigen Jungen hätte einleuchten müssen (vgl. BGHZ 10, 14, 16). Mit Recht hat schon das Landgericht darauf verwiesen, daß für die Beantwortung der Frage, wie groß das für den Beklagten erkennbare Ausmaß der von ihm geschaffenen Gefahr war, von Bedeutung sein kann, wie nahe an der Feuerstelle sich sein Schulkamerad gerade befand, und ob der Beklagte ihn dabei bemerkt hat. Die Klägerin hat trotz dieses Hinweises keine näheren Umstände, die für den Grad des Verschuldens des Beklagten bedeutsam sind, vorgetragen. Darüber hinaus aber sind, soll grobe Fahrlässigkeit bejaht werden, auch subjektive, in der Individualität des Beklagten begründete Umstände zu berücksichtigen; auch unter diesem Gesichtspunkt reicht der Vortrag der Klägerin zu einer Verurteilung des Beklagten nicht aus.
Allgemein muß der Maßstab für die Annahme grober Fahrlässigkeit bei Jugendlichen, jedenfalls soweit es den Regreßanspruch aus § 640 RVO anbelangt, sich daran ausrichten, daß diese in der speziellen Schulsituation wegen ihrer altersgemäßen emotionalen und charakterlichen Labilität zu Unbedachtheiten neigen. Denn gerade solche typischen Leichtfertigkeiten sollen nach dem Zweck der Haftungsfreistellung des § 637 Abs. 4 RVO gedeckt werden. Dieses vom Gesetz gewollte Ergebnis darf nicht durch eine vorschnelle Bejahung grober Fahrlässigkeit bei Anwendung des § 640 RVO wieder in Frage gestellt werden. Das bedeutet für den vorliegenden Fall: Hier ist bereits offen, ob der Beklagte sich das wirkliche Ausmaß der Gefahr, die von der Spiritusflasche im Feuer für die Mitschüler ausgehen konnte, subjektiv klar gemacht hat. Sollte er diese Gefahr verkannt haben, so wäre ihm angesichts seines jugendlichen Alters daraus noch kein schwerer Vorwurf zu machen. Einen Erfahrungssatz, wonach ein 14-Jähriger darüber hinreichend Bescheid weiß, gibt es nicht. Wird schließlich noch in Betracht gezogen, daß beim Beklagten jugendlicher Übermut und Sensationslust die maßgebende Triebfeder gewesen sein dürfte, die etwa bei ihm aufgetauchte Überlegungen zur Gefährdung anderer in den Hintergrund gedrängt haben, dann stellt sich insgesamt gesehen sein Verhalten rechtlich nicht als grobe Fahrlässigkeit dar.
b) Unter diesen Umständen braucht der weiteren Frage, ob die Klägerin angesichts der Umstände des Falles nicht auch gemäß § 640 Abs. 2 RVO billigerweise auf die Durchsetzung ihrer Ersatzansprüche hätte verzichten müssen (vgl. BGHZ 57, 96) nicht mehr nachgegangen zu werden.
Unterschriften
Dr. Weber, Dunz, Scheffen, Dr. Steffen, Dr. Ankermann
Fundstellen