Leitsatz (amtlich)
›Zur Abgrenzung der "Sekundär-" von "Primärschäden" für die Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers.‹
Verfahrensgang
LG Zweibrücken |
OLG Zweibrücken |
Tatbestand
Der Kläger verlangt von den Erben seines früheren Hausarztes Dr. W. Schadensersatz wegen ärztlicher Behandlungsfehler.
Im März 1973 litt der Kläger ständig an Übermüdungserscheinungen. Er begab sich deshalb in die Behandlung von Dr. W.. Dieser überwies den Kläger zur Röntgenuntersuchung in das evangelische Krankenhaus Z.. In dem von dem Krankenhaus an Dr. W. übermittelten Befundbericht wurde sicherheitshalber eine Röntgenkontrolle der Lunge vier Wochen später empfohlen. Dr. W. informierte den Kläger darüber nicht und veranlaßte auch von sich aus keine Nachuntersuchung. Im Dezember 1973 stellte sich der Kläger erneut bei Dr. W. vor; er berichtete ihm damals wiederum von Übermüdungserscheinungen und klagte nun auch über Husten. Eine Röntgenkontrolle veranlaßte Dr. W. auch jetzt nicht.
Erst nachdem der Kläger im März 1974 an einer stark schmerzhaften Schwellung des linken Hodens mit hohem Fieber erkrankt war und anschließend wieder leichte Ermüdbarkeit, starker Husten mit Auswurf sowie eine Gewichtsabnahme von 5 kg eingetreten waren, wurde bei ihm im Mai 1974 eine röntgenologische Lungenuntersuchung durchgeführt. Sie ergab, daß im rechten Lungenoberlappen eine cavernöse (offene) Lungentuberkulose bestand. Der Kläger mußte sich nun einer einjährigen Behandlung in zwei verschiedenen Lungensanatorien unterziehen, wobei er mit den Medikamenten Isoniazid, Myambutol und Streptomycin behandelt wurde. Auf diese Behandlung führt der Kläger einen Gehörschaden und Haarausfall zurück. Im Mai 1986 ist der inzwischen atrophierte linke Hoden des Klägers operativ entfernt worden.
Der Kläger hat u.a. behauptet, durch die Entwicklung der Lungentuberkulose sei infolge Blutstreuung eine tuberkulöse Nebenhoden- und Hodenentzündung entstanden, die zu einer Verkleinerung seines linken Hodens geführt habe. Er verlangt deswegen von den Erben des Dr. W. ein angemessenes Schmerzensgeld und begehrt die Feststellung, daß diese verpflichtet seien, ihm einen aufgrund der Falschbehandlung in Zukunft noch entstehenden Schaden zu ersetzen.
Das Landgericht hat die Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes von 8.000 DM nebst Zinsen verurteilt und im übrigen die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers, mit der er neben der Weiterverfolgung der Feststellungsklage ein weiteres Schmerzensgeld von mindestens 41.000 DM verlangt hat, hatte keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine im Berufungsrechtszug gestellten Anträge weiter. Der Senat hat die Revision nicht angenommen, soweit die Klage auf Schadensersatz wegen des Gehörschadens und des Haarausfalls abgewiesen worden ist.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht geht mit dem Landgericht davon aus, daß Dr. W. dadurch einen Behandlungsfehler begangen hat, daß er es sowohl im April als auch im Dezember 1973 unterlassen hat, bei dem Kläger eine Röntgenkontrolluntersuchung der Lunge zu veranlassen bzw. ihn darüber zu informieren, obwohl der Röntgenbefund des evangelischen Krankenhauses in Z. dazu Veranlassung geboten hätte und sogar eine dahingehende ausdrückliche Empfehlung vorlag. Es hält dies auch für einen groben Behandlungsfehler, verlangt aber dennoch von dem Kläger den Nachweis dafür, daß durch den Behandlungsfehler bei ihm u.a. eine Hodenverkümmerung eingetreten ist, weil es sich dabei nicht um eine durch den Behandlungsfehler unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsschädigung gehandelt habe. Sachverständig beraten sieht es die Behauptung des Klägers, die Hodenverkümmerung habe ihre Ursache in einem auf die Falschbehandlung zurückzuführenden Tuberkulosebefall des Nebenhodens oder Hodens gehabt, nicht für bewiesen an.
II. Diese Würdigung hält den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Rechtlich einwandfrei sind allerdings die Erwägungen, von denen das Berufungsgericht ausgeht. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Beweislastumkehr für den Kausalitätsbeweis bei groben Behandlungsfehlern (vgl. z.B. RGZ 171, 168; BGHZ 72, 132, 133) finden, wie das Berufungsgericht zutreffend hervorhebt und wie der erkennende Senat bereits mehrfach entschieden hat, grundsätzlich nur Anwendung, soweit durch den Fehler des Arztes unmittelbar verursachte haftungsbegründende Gesundheitsbeschädigungen in Frage stehen, nicht aber auf den Kausalitätsnachweis für Folgeschäden ("Sekundärschäden"), die erst durch den infolge des Behandlungsfehlers eingetretenen Gesundheitsschaden entstanden sein sollen, es sei denn, der "Sekundärschaden" war eine typische Folge der "Primär"-Verletzung (vgl. Senatsurteile vom 21. Oktober 1969 - VI ZR 82/68 - VersR 1969, 1148 = AHRS, Kennzahl 6690/1 und vom 9. Mai 1978 - VI ZR 81/77 - VersR 1978, 764 = AHRS, Kennzahl 6690/2).
2. Bezüglich der vom Kläger zur Grundlage seiner Schadensersatzklage gemachten Hodenverkümmerung hat das Berufungsgericht jedoch verkannt, daß insoweit zwischen den Parteien im wesentlichen nur streitig ist, ob es infolge des Behandlungsfehlers von Dr. W. durch Ausstreuung von Tuberkelbakterien zu einer tuberkulösen Nebenhoden- und/oder Hodenentzündung gekommen ist. Dies ist nach dem Gutachten von Prof. Z. retrospektiv nicht mehr eindeutig feststellbar. Bei dieser vom Kläger behaupteten Gesundheitsschädigung handelt es sich aber um einen "Primärschaden". Der von dem Kläger nicht mehr zu erbringende Nachweis, daß es aufgrund des zu späten Erkennens der Lungentuberkulose zu einem tuberkulösen Prozeß im Hodenbereich gekommen ist, betrifft den zum Haftungsgrund gehörenden Kausalzusammenhang. Damit unterscheidet sich dieses Krankheitsgeschehen von dem vom Kläger unmittelbar auf die Medikation zurückgeführten Gehörschaden, dessen Ursache nicht gerade durch den groben Behandlungsfehler von Dr. W. besonders verschleiert worden ist. Demgegenüber sind die Feststellungen, ob und inwieweit dieses Krankheitsgeschehen mit der Lungen-Tbc zusammenhängt, gerade wegen der zu späten röntgenärztlichen Kontrolle und der erforderlichen Therapie erschwert, so daß dem Kläger wegen des darin liegenden groben Behandlungsfehlers des Arztes Beweiserleichterungen zugute kommen. Sache der Beklagten ist es dann, den Beweis dafür zu erbringen, daß bei dem Kläger eine Nebenhoden- und/oder Hodenentzündung nicht vorgelegen haben kann. Gelingt ihnen diese Beweisführung nicht, dann dürfte schon ein Anscheinsbeweis dafür sprechen, daß die Hodenverkümmerung durch diesen entzündlichen tuberkulösen Prozeß ausgelöst worden ist.
III. Bei dieser Sachlage kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben, soweit darin die Abweisung der Klage auch wegen der Hodenverkümmerung bestätigt worden ist.
Der erkennende Senat ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu einer abschließenden Sachentscheidung in der Lage, weil noch offen ist, ob die Beklagten - unter Umständen aufgrund der histologischen Untersuchung des inzwischen entfernten linken Hodens des Klägers - den Beweis dafür führen können, daß keine tuberkulösen Entzündungen am linken Hoden bzw. am linken Nebenhoden abgelaufen sind. Dies muß in der wieder zu eröffnenden Tatsacheninstanz geklärt werden.
Die Sache war daher zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 2992945 |
NJW 1988, 2948 |
BGHR BGB § 823 Abs. 1 Beweislast 14 |
DRsp I(125)337a |
MDR 1988, 1045 |
VersR 1989, 145 |