Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinweispflicht des Gerichts im Berufungsverfahren
Normenkette
ZPO § 139; ZPO 278 Abs. 3; RpflAnpGÄndG § 3 Abs. 1 S. 2; 2. RpflAnpGÄndG Art. 1
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 21. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 21. Juli 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Beklagte war in den Jahren 1990 bis 1996 für die Klägerin, die Artikel des Baubedarfs vertreibt, als Bezirksvertreter tätig. Als Provision sollte der Beklagte 60 % aus dem Rohertrag erhalten. Das Handelsvertreterverhältnis endete durch außerordentliche Kündigung des Beklagten zum 31. März 1996.
Mit der Klage begehrt die Klägerin aufgrund von drei Provisionsabrechnungen sowie Nachträgen hierzu Rückzahlung von Provisionen und Barzahlungen von Kunden, deren Höhe sie in erster Instanz mit 248.291,10 DM und in zweiter Instanz mit 240.927,28 DM errechnet hat.
Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Berechnung der Klägerin sei nicht nachvollziehbar. In zweiter Instanz hat die Klägerin eine EDV-Liste für den Monat März 1996 vorgelegt, nochmals auf ihre Nachträge zu ihrer Provisionsrechnung verwiesen, beispielhafte Erklärungen zu einer Position des Nachtrags II in Höhe von 249,04 DM sowie zu einem einzelnen Kunden bezüglich 3.970,60 DM abgegeben und im übrigen im wesentlichen ihr erstinstanzliches Vorbringen wiederholt. Der Beklagte hat in der Berufungserwiderung vom 22. April 1998 ausgeführt, er halte die Klage weiterhin für unschlüssig. Das Berufungsgericht hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 20. Mai 1998 bestimmt. Einen Tag vor der mündlichen Verhandlung ist der Beklagte vom Berufungsgericht telefonisch darüber unterrichtet worden, daß es die Klage für schlüssig erachte. Mit im Termin am 20. Mai 1998 überreichten Schriftsatz hat der Beklagte um Einräumung einer Schriftsatzfrist gebeten, um „angesichts dieser keineswegs geteilten Auffassung die Berechtigung der klägerischen Forderungen einzeln zu bestreiten und Beweis dafür anzubieten”. Auf Anraten des Berufungsgerichts haben die Parteien einen Vergleich mit Widerrufsvorbehalt bis zum 18. Juni 1998 geschlossen. Für den Fall des Widerrufs hat das Berufungsgericht Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 21. Juli 1998 anberaumt. Mit Schriftsatz vom 18. Juni 1998 hat der Beklagte den Vergleich widerrufen und mit Schriftsatz vom 10. Juli 1998 die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt und zum Vorbringen der Klägerin nochmals Stellung genommen.
Mit Urteil vom 21. Juli 1998, an dem ein Richter am Amtsgericht als Vorsitzender und ein Richter am Landgericht und ein Richter auf Probe als Beisitzer mitgewirkt haben, hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und der Klage in Höhe von 232.591,56 DM stattgegeben, im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Mit der Revision erstrebt der Beklagte die volle Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
Der Klägerin stehe in Höhe von 232.591,56 DM ein Anspruch auf Rückzahlung geleisteter Provisionen gemäß § 87a Abs. 2 HGB zu. Die Klägerin habe durch die Vorlage der Aufstellungen und Rechnungen und sonstiger Unterlagen ihre Ansprüche in der zuerkannten Höhe dargelegt und nachgewiesen. Die mit Schriftsatz vom 20. Mai 1998 erbetene Schriftsatzfrist habe dem Beklagten nicht gewährt werden können, da im Zivilprozeß der Beschleunigungsgrundsatz gelte und nicht gerechtfertigte Verzögerungen zu vermeiden seien. Die Rechte des Beklagten seien nicht verkürzt worden; vielmehr sei der Beklagte durch den telefonischen Hinweis früher als gewöhnlich von der vom Senat vertretenen Auffassung in Kenntnis gesetzt worden, die ihm ansonsten erst in der mündlichen Verhandlung eröffnet worden wäre. Der richterliche Hinweis habe eine der Kernfragen des Rechtsstreits betroffen, die seit den ersten Schriftsätzen in der ersten Instanz streitig gewesen sei. Der Beklagte habe deshalb, auch im Hinblick auf die eingeräumte Frist von drei Monaten zur Erwiderung auf die Berufung, ausreichend Gelegenheit gehabt, im einzelnen zu den von der Klägerin behaupteten Forderungen vorzutragen.
II. Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Ohne Erfolg rügt die Revision allerdings die Besetzung des Berufungsgerichts. Entgegen der Auffassung der Revision mußte der Senat nicht mindestens mit einem Richter am Oberlandesgericht oder einem aus einem anderen Land abgeordneten Richter auf Lebenszeit besetzt sein. Die Regelung in § 3 Abs. 1 Satz 2 des ersten Gesetzes zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes vom 7. Dezember 1995 (BGBl. I S. 1590), auf die die Revision abstellt, ist durch Artikel 1 des zweiten Gesetzes zur Änderung des Rechtspflege-Anpassungsgesetzes vom 20. Dezember 1996 (BGBl. I S. 2090) dahingehend geändert worden, daß in den in Art. 1 des Einigungsvertrages genannten Ländern bei einem Kollegialgericht bis zum Ablauf des 31. Dezember 1999 die Mitwirkung eines „Richters auf Lebenszeit” ausreicht. Das Berufungsgericht hat dementsprechend am 21. Juli 1998 durch einen Richter am Amtsgericht, einen Richter am Landgericht und einen Richter auf Probe in zulässiger Besetzung entschieden.
2. Mit Erfolg beanstandet die Revision aber die Verfahrensweise der Vorinstanz. Das Berufungsgericht durfte der Klage nicht stattgeben, ohne dem Beklagten ausreichend Zeit und Gelegenheit einzuräumen, sich zu dem telefonischen Hinweis des Gerichts einen Tag vor dem Verhandlungstermin zu äußern (§§ 139, 278 Abs. 3 ZPO).
a) Wie in der Rechtsprechung allgemein anerkannt ist, darf eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen, daß das Berufungsgericht ihr rechtzeitig einen Hinweis nach §§ 139, 278 Abs. 3 ZPO erteilt, wenn es der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und insbesondere aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder einen Beweisantritt für erforderlich hält. Diese Hinweispflicht besteht grundsätzlich auch in Prozessen, in denen die Partei durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten wird. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Anwalt darauf vertraut, sein schriftsätzliches Vorbringen sei ausreichend (Senat, Urteil vom 27. November 1996 - VIII ZR 311/95, NJW-RR 1997, 441 unter II 2 a; BGH, Urteil vom 8. Februar 1999 - II ZR 261/97, WM 1999, 1379 unter II 1; BGH, Urteil vom 27. April 1994 - XII ZR 16/93, NJW 1994, 1880 unter 4 m.w.Nachw.).
Da das Landgericht das erstinstanzliche Klagevorbringen als unschlüssig angesehen hatte, durfte der Beklagte davon ausgehen, daß eine davon abweichende Auffassung des Berufungsgerichts ihm rechtzeitig durch einen Hinweis mitgeteilt werden würde. Dieses Vertrauen entfiel auch nicht dadurch, daß die Klägerin ihr Vorbringen zu zwei Einzelpositionen in Höhe von 249,04 DM sowie 3.970,60 DM von einer Klageforderung in der Gesamthöhe von 240.927,28 DM erweiterte. Da das Berufungsgericht auch die restliche Forderung von fast 230.000 DM als schlüssig erachtete, obwohl der Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren sich im wesentlichen nicht vom Vorbringen in erster Instanz unterschied, war es gehalten, den Beklagten hierauf rechtzeitig hinzuweisen.
b) Mit dem von ihm eingeschlagenen Verfahren hat das Berufungsgericht seiner Hinweispflicht nicht genügt. Ein Hinweis macht – selbstverständlich – nur dann Sinn, wenn der Partei zugleich Zeit und Gelegenheit gegeben wird, auf den Hinweis zu reagieren und den ihr mitgeteilten Bedenken durch eine Ergänzung ihres Sachvortrages und gegebenenfalls durch Beibringung weiterer Unterlagen Rechnung zu tragen (Senat aaO unter II 2 b). Dies hat das Berufungsgericht dem Beklagten verwehrt, indem es nur einen Tag vor der mündlichen Verhandlung den Hinweis erteilt und in der Verhandlung einen Verkündungstermin anberaumt hat, ohne dem Beklagten den beantragten Schriftsatznachlaß zu gewähren. Jedenfalls hätte es, nachdem es seiner Hinweispflicht nicht in der gebotenen Weise nachgekommen war, die vom Beklagten im Schriftsatz vom 10. Juli 1998 beantragte Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht ablehnen dürfen. Angesichts des umfangreichen Prozeßstoffes konnte das Berufungsgericht vom Beklagten nicht erwarten, binnen eines Tages zu der Vielzahl der der Klage zugrundeliegenden Unterlagen substantiiert Stellung zu nehmen, die dem Berufungsgericht schon monatelang vorgelegen hatten. Das vom Berufungsgericht eingeschlagene Verfahren vermag ebensowenig seinen Zweck zu erfüllen, wie wenn der Hinweis in der mündlichen Verhandlung selbst erteilt, nach Erteilung des Hinweises die mündliche Verhandlung geschlossen, ein Verkündungstermin anberaumt und der Antrag auf Wiedereröffnung abgelehnt worden wäre (vgl. Senat aaO unter II 2 b).
3. Die Verfahrensrüge nach § 139 ZPO ist auch ordnungsgemäß erhoben. Im nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 10. Juli 1998, auf den die Revision verweist, hat der Beklagte die kaum nachvollziehbare Berechnung der Klägerin im einzelnen bestritten. Diesen Vortrag wird das Berufungsgericht bei seiner erneuten Entscheidung zu berücksichtigen und erforderlichenfalls Beweis zu erheben haben.
Unterschriften
Dr. Deppert, Dr. Beyer, Dr. Leimert, Wiechers, Dr. Wolst
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 29.09.1999 durch Zöller, Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
Fundstellen