Normenkette
StGB § 211 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Berlin (Entscheidung vom 20.05.2021; Aktenzeichen 535 Ks 2/21) |
Tenor
1. Auf die Revision der Nebenklägerin A. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 20. Mai 2021 im Fall II.2a der Urteilsgründe und im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben; die Feststellungen bleiben aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten dieses Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision der Nebenklägerin wird verworfen.
2. Die Revision des Angeklagten gegen das vorbenannte Urteil wird verworfen.
Er hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den Nebenklägern hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
- Von Rechts wegen -
Gründe
Rz. 1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags (Fall II.2a) und wegen gefährlicher Körperverletzung (Fall II.2b) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Die Nebenklägerin A. greift das Urteil mit der Sachrüge an, soweit der Angeklagte im Fall II.2a nicht wegen Mordes verurteilt worden ist. Sie hat mit ihrer - vom Generalbundesanwalt vertretenen - Revision weitgehend Erfolg. Dagegen dringt das ebenfalls auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Rechtsmittel des Angeklagten gegen seine Verurteilung nicht durch.
I.
Rz. 2
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Rz. 3
a) Am Tattag spazierte der Angeklagte mit der 23 Jahre alten Zeugin Fro., die er etwa eine Woche zuvor über ein Onlinedating-Portal kennengelernt und mit der er den Abend verbracht hatte, durch eine Parkanlage in B.. In einer S-Bahn-Unterführung kam ihnen der 13 Jahre alte Ama. entgegen, der unter dem Einfluss von Ecstasy stand und dessen Konzentration auf sein Mobiltelefon gerichtet war. Daher stieß er beinahe mit der Begleiterin des Angeklagten zusammen, die aber ohne Schwierigkeiten ausweichen konnte. Gleichwohl empörte sich der Angeklagte über die Unaufmerksamkeit des Jungen, die er als Respektlosigkeit deutete, und herrschte ihn im Weitergehen an, was ihm einfalle und ob er nicht aufpassen könne. Ama. erwiderte sinngemäß, was der Angeklagte von ihm wolle. Diese nach seiner Einschätzung unbotmäßige Reaktion empörte den Angeklagten maßlos. Er blieb stehen, drehte sich um und rief dem Jungen eine Beleidigung zu. Ama. reagierte darauf seinerseits mit einer Beleidigung des Angeklagten. Daran schlossen sich für die Dauer von etwa einer halben Minute wechselseitige Beschimpfungen in zunehmender Schärfe und Lautstärke an.
Rz. 4
Wiederholten Aufforderungen seiner - über dessen unvermittelte Aggressivität erschrockenen - Begleiterin, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen und mit ihr weiterzugehen, kam der über das respektlose Gebaren des Jungen erzürnte Angeklagte nicht nach. Da er erkannte, dass er den Jungen nicht mit verbalen Mitteln würde „einschüchtern und besiegen“ können, zog er ein Messer mit einer Klingenlänge von etwa zehn Zentimetern aus seiner Hose; nicht ausschließbar erwartete er, dass schon das bloße Vorzeigen des Messers den Jungen dazu bewegen würde, sich ihm unterzuordnen und den Rückzug anzutreten. Seine Begleiterin, die sich zwischen ihn und den 13-Jährigen gestellt hatte, schrie der Angeklagte im Befehlston an, ohne ihn weiterzugehen, was sie letztlich befolgte.
Rz. 5
Möglicherweise sah Ama. sich nun eines Angriffs ausgesetzt. Aufgrund seiner aggressiven Stimmung und eventuell in drogeninduzierter Selbstüberschätzung wollte er indes nicht klein beigeben, sodass sich die gegenseitigen Beschimpfungen fortsetzten. Der Angeklagte stach den 13-jährigen Jungen sodann mit dem Messer wuchtig und gezielt in die Brust. Der Angeklagte wollte Ama. damit „eine Lektion erteilen und als Sieger vom Platz gehen“. Er erkannte dabei, dass der Stich in die Herzgegend zum Tod führen könnte, was ihm aber gleichgültig war und was er zur Erreichung seines Ziels hinnahm. Die Klinge durchstieß die Rippen und eröffnete die rechte Herzkammer; Ama. verblutete innerhalb weniger Minuten (Fall II.2a).
Rz. 6
Im Anschluss an die nachfolgend unter b) dargestellte Tat flüchtete der Angeklagte in ein nahegelegenes Restaurant, wohin er telefonisch seine - von dem Geschehen verwirrte und überforderte - Begleiterin beorderte. Da er befürchtete, von der Polizei aufgegriffen zu werden, verließen die beiden auf seine Initiative hin den Tatortbereich. In der Nähe der Wohnung seiner Begleiterin berichtete er ihr von dem Tatgeschehen: Er habe das Messer gezogen und „zwei Jungs abgestochen“. Für „den einen“ werde es nicht gut ausgehen; der werde es wohl nicht schaffen. „Die Jungs“ seien einfach an den Falschen geraten. „Dieser kleine arabische Hurensohn“ habe keinen Respekt gezeigt; „dessen Mutter (solle) weinen“.
Rz. 7
b) Der Nebenkläger St. kam unmittelbar nach dem Messerstich gegen seinen Bekannten Ama. zu dem Geschehen hinzu. Nachdem er erkannt hatte, was vorgefallen war, stürzte er sich auf den Angeklagten, um ihn für die Tat zu bestrafen. Der Angeklagte, der das Messer noch immer in der Hand hielt, wich daraufhin zurück. Der Nebenkläger folgte ihm, zog seinen Pullover aus und umwickelte damit seine Hand, um sich vor Messerstichen zu schützen. Der Angeklagte erkannte, dass sich zahlreiche Personen in der Grünanlage befanden, die er um Hilfe hätte bitten können. Er erkannte auch, dass St. zeitweise mit seinem Pullover beschäftigt und deshalb abgelenkt war, sodass er hätte fliehen können. Er entschied sich jedoch dagegen, der Konfrontation mit dem Nebenkläger aus dem Weg zu gehen. Vielmehr ließ er den Nebenkläger langsam näherkommen, weil er fest entschlossen war, auch aus dieser Auseinandersetzung als Sieger hervorzugehen und möglichst unbehelligt vom Tatort fliehen zu können.
Rz. 8
Als St. in Reichweite gekommen war, versetzte ihm der Angeklagte einen gezielten Messerstich in den Oberkörper. Er erkannte dabei, dass er den Nebenkläger lebensgefährlich verletzen könnte, wobei er sich mit dessen Tod abfand. Er fügte ihm eine stark blutende Wunde am linken Schlüsselbein zu, traf aber keine lebenswichtigen Organe oder großen Blutgefäße. Der Angeklagte erkannte, dass er den Geschädigten nicht lebensbedrohlich verletzt, aber seinen Kampfeswillen gebrochen hatte. Er gab die weitere Tatausführung aus freien Stücken auf und rannte davon (Fall II.2b).
Rz. 9
2. Das Schwurgericht hat das Geschehen wie folgt rechtlich gewürdigt:
Rz. 10
a) Die Tat zum Nachteil des Ama. sei als Totschlag (§ 212 Abs. 1 StGB) zu werten. Niedrige Beweggründe lägen nicht vor. Denn bewusstseinsdominantes Tatmotiv sei die Wut des Angeklagten über das beleidigende Verhalten Ama. s gewesen. Insofern stehe die Tötung des 13-jährigen Jungen nicht in einem besonders krassen Missverhältnis zum Tatanlass.
Rz. 11
b) Den Messerstich gegen den Nebenkläger St. habe der Angeklagte zwar mit bedingtem Tötungsvorsatz gesetzt. Er sei aber vom Versuch eines Tötungsdelikts strafbefreiend zurückgetreten. Der Angeklagte habe sich insoweit lediglich wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) schuldig gemacht.
Rz. 12
c) Keine der beiden Taten sei durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt gewesen. Bei dem tödlichen Messerstich gegen Ama. habe sich der Angeklagte schon nicht in einer Notwehrlage im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB befunden. Der gezielte, lebensgefährliche Messerstich in die Brust des erkennbar unbewaffneten Nebenklägers St. sei zur Verteidigung gegen dessen Angriff - auch mit Blick auf das vorwerfbare Vorverhalten des Angeklagten - nicht nach § 32 Abs. 1 StGB geboten gewesen.
II.
Rz. 13
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.
Rz. 14
Die Überprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben. Entgegen der - teilweise auf urteilsfremden Vortrag gestützten - Auffassung der Revision hat das Landgericht insbesondere rechtsfehlerfrei begründet, dass der Angeklagte sich bei dem tödlichen Messerstich gegen Ama. schon keines Angriffs ausgesetzt sah.
III.
Rz. 15
Die Revision der Nebenklägerin A. hat Erfolg.
Rz. 16
1. Die Revision richtet sich - wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat - trotz missverständlicher Formulierungen in ihrer Begründung gegen den Schuldspruch wegen Totschlags (§ 212 StGB) im Fall II.2a und erstrebt eine Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes (§ 211 StGB). Das Rechtsmittel ist daher zulässig (§ 400 Abs. 1 StPO).
Rz. 17
2. Die Ablehnung des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe (§ 211 Abs. 2 StGB) hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 18
a) Ein Beweggrund ist niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seine Persönlichkeit einschließt. Gefühlsregungen wie Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht kommen dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie nicht menschlich verständlich, sondern Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 22. Juli 2020 - 5 StR 543/19, NStZ 2020, 617; vom 28. November 2018 - 5 StR 379/18, NStZ 2019, 206, 207).
Rz. 19
b) Danach erweist sich die ungewöhnlich knapp begründete Verneinung niedriger Beweggründe als rechtsfehlerhaft. Zwar hat das Landgericht seiner rechtlichen Würdigung die einschlägigen rechtlichen Maßstäbe vorangestellt. Bei der rechtlichen Bewertung des Tatmotivs hat es aber gewichtige festgestellte Umstände vollständig außer Betracht gelassen.
Rz. 20
Das Landgericht hat die Ablehnung des Mordmerkmals damit begründet, dass die tatauslösende Wut auf - indes nicht näher festgestellten - ehrverletzenden Äußerungen des 13-jährigen Opfers beruht habe, die dieser im Rahmen einer von dem Angeklagten durch eine Beleidigung ausgelösten verbalen Auseinandersetzung mit wechselseitigen Beschimpfungen getätigt hatte. Es hat indes ausgeblendet, dass der Angeklagte nach den auch insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen dem Kind durch den tödlichen Messerstich „eine Lektion erteilen und als Sieger vom Platz gehen“ wollte, weil - so der Angeklagte nach der Flucht zu seiner Begleiterin - der „kleine arabische Hurensohn“ keinen Respekt gezeigt habe, weshalb „dessen Mutter weinen“ solle. Aufgrund dessen hätte das Schwurgericht sich zu der Erörterung gedrängt sehen müssen, dass die Tat von dem Motiv des Angeklagten getragen gewesen sein könnte, das kindliche Opfer für dessen aus seiner Sicht respektloses Verhalten mit dem Tod zu bestrafen. Dies würde die Annahme niedriger Beweggründe nahelegen (vgl. BGH, Urteile vom 22. Juli 2020 - 5 StR 543/19, NStZ 2020, 617; vom 28. November 2018 - 5 StR 379/18, NStZ 2019, 206, 207; vom 16. Februar 2012 - 3 StR 346/11 Rn. 11; vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 273/11; vom 29. November 2007 - 4 StR 425/07, NStZ 2008, 273, 275; MüKo-StGB/Schneider, 4. Aufl., § 211 Rn. 95 ff.). Dies gilt hier umso mehr, als der Angeklagte das von ihm als respektlos angesehene Verhalten erst ausgelöst hatte (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 29. November 1978 - 2 StR 504/78, BGHSt 28, 210, 212; MüKo-StGB/Schneider, aaO Rn. 76 f.,102, 105; LK/Rissing-van Saan/Zimmermann, StGB, 12. Aufl., § 211 Rn. 75) sowie das Ausmaß der Eskalation bestimmte und es sich bei dem Opfer um ein - vom Angeklagten und seiner Begleiterin als „Junge“ wahrgenommenes - 13-jähriges Kind handelte. Dass der Angeklagte den Tatentschluss spontan gefasst hat, schließt die Annahme niedriger Beweggründe nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 2005 - 1 StR 234/05, NStZ 2006, 166, 167).
Rz. 21
Angesichts dessen hätte das Landgericht zudem erörtern müssen, dass der Angeklagte ausweislich der Angaben seiner Begleiterin auf das völlig belanglose Alltagsereignis („Beinahe-Zusammenstoß“) maßlos übertrieben reagierte, indem er den Jungen im Weitergehen anpöbelte und zurechtwies und „aus heiterem Himmel“ explodierte. Dies wiederum fügt sich in die Feststellungen zu seinen Vorstrafen und zu seiner gewalttätigen Reaktion auf den bloßen Hinweis auf die im Juni 2020 in Geschäften geltenden Corona-Schutzregeln sowie die Ausführungen der psychiatrischen Sachverständigen zur Persönlichkeit des Angeklagten ein, weshalb auch diese Aspekte bei der Frage des die Tat auslösenden Beweggrundes einer Erörterung bedurft hätten.
Rz. 22
Auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen ist es entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Landgericht nicht von einer rassistischen Gesinnung des Angeklagten als bewusstseinsdominantes Tötungsmotiv ausgegangen ist.
Rz. 23
c) Das Urteil beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Die Sache bedarf daher insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung.
Rz. 24
3. Eine Aufhebung der im Fall II.2a der Urteilsgründe getroffenen Feststellungen ist nicht veranlasst, weil der Rechtsfehler des Schwurgerichts sich in einer rechtlich unzutreffenden Bewertung der rechtsfehlerfrei festgestellten Tatsachen erschöpft (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen sind möglich, soweit sie den bisherigen nicht widersprechen. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der inneren Seite des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe (vgl. BGH, Urteil vom 19. Oktober 2001 - 2 StR 259/01, BGHSt 47, 128, 133; MüKo-Schneider, aaO Rn. 115 ff.).
Rz. 25
Die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II.2a der Urteilsgründe entzieht der insoweit verhängten Einzelstrafe und der Gesamtstrafe die Grundlage. Die Verurteilung im Fall II.2b der Urteilsgründe (Tat 2) ist rechtsfehlerfrei und hat mit der zugehörigen Einzelstrafe Bestand.
Cirener |
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Gericke |
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Köhler |
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von Häfen |
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Werner |
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Fundstellen
Haufe-Index 15467101 |
NStZ 2022, 7 |
NStZ 2022, 740 |
NStZ-RR 2022, 6 |
StV 2023, 324 |
GSZ 2022, 9 |