Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, inwieweit den Angehörigen bzw. Erben eines verstorbenen Patienten ein Recht auf Einsichtnahme in die Krankenpapiere zusteht (Ergänzung zu BGHZ 85, 327).
Normenkette
BGB §§ 242, 611, 810; GG Art. 1
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 22.10.1981) |
LG Marburg |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 15. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 22. Oktober 1981 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerinnen sind die Witwe und die Töchter des Raimund P., der in den Jahren 1975 und 1976 wiederholt stationär in der chirurgischen Klinik der beklagten Universität behandelt wurde und dort am 25. September 1976 verstorben ist. Sie verlangen Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen der Klinik.
P. hatte am 10. Juli 1975 wegen Schmerzen im Unterbauch den praktischen Arzt Dr. St. aufgesucht. Dieser vermutete eine Magenverstimmung und verabreichte eine schmerzstillende Injektion. Dies wiederholte sich jeweils bei einem Hausbesuch des Dr. St. am folgenden Tage und am Vormittag des 12. Juli 1975. Ein am Nachmittag gerufener anderer Arzt veranlaßte sofort die Einweisung des P. in die Klinik in B., wo er operiert und eine durchgebrochene Appendizitis (sog. Blinddarmentzündung) festgestellt wurde. Nach der Operation wurde P. auf die Intensivstation der Klinik der Beklagten verlegt.
Der Zustand des Patienten war kritisch, da sich entzündliche Vorgänge an Bauchfell, Rippenfell und Lunge einstellten. Später wurde er vorübergehend in eine andere Klinik und auch nach Hause entlassen, doch blieb seine Bauchhöhle wegen der bestehenden Infektion stets mit einem Ausgang versehen, und zahlreiche Operationen waren erforderlich, die aber keine Abhilfe brachten. Dies war so bis zu seinem Ableben.
Die Klägerinnen haben den Chirurgen Dr. N., der in F. ein Institut für Kunstfehlerforschung betreibt, mit der Feststellung der Todesursache beauftragt. Dieser bat die chirurgische Klinik der Beklagten unter dem 29. Dezember 1979 um kurze Überlassung der Behandlungsunterlagen zur Einsicht. Da die Beklagte die Übersendung wiederholt ablehnte, erhoben die Klägerinnen als Erben des Verstorbenen unter dem 31. März 1980 Klage mit dem Antrag,
die Beklagte zu verurteilen, die Krankenunterlagen über P. an Dr. N. zur Einsicht herauszugeben, hilfsweise den Klägerinnen oder einem von ihnen Beauftragten Einsicht in diese Unterlagen zu gewähren.
Als Begründung haben sie den Wunsch angegeben, die Ursache des Todes des P. aufzuklären, insbesondere festzustellen, ob Dr. St. fahrlässig gehandelt habe, den Schuldigen der Bestrafung zuzuführen und, soweit möglich, Schadensersatzansprüche geltend zu machen.
Das Landgericht hat unter Abweisung des Hauptantrags dem Hilfsantrag der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte weiterhin Klagabweisung.
Entscheidungsgründe
I
Nach Ansicht des Berufungsgerichts, bei dessen Entscheidung die Senatsurteile vom 23. November 1982 (BGHZ 85, 327 ff und 339 ff) noch nicht vorlagen, folgt ein allgemeines Einsichtsrecht des Patienten in die Krankenunterlagen aus der Dokumentations- und Rechenschaftspflicht des Arztes (vgl. Senatsurteil BGHZ 72, 132, 137). Dabei brauche – so meint das Berufungsgericht – der Patient nicht noch ein besonders begründetes Interesse darzulegen. Berechtigte Interessen des Arztes stünden im allgemeinen der Einsichtsgewährung nicht entgegen. Therapeutische Rücksichten könnten dabei nach dem Tode des Patienten ohnehin keine Rolle spielen. Bei der gegebenen Sachlage liege hier auch der Verdacht nahe, daß Dr. St. ein Kunstfehler unterlaufen sei. Es sei durchaus wahrscheinlich, daß sich aus den Unterlagen der Beklagten hierfür etwas ergebe, insbesondere dafür, inwieweit der weitere Krankheitsverlauf und der Tod auf diesen Fehler zurückzuführen seien. Daß Ansprüche möglicherweise verjährt seien, stehe dem Klagbegehren nicht entgegen.
Das ursprüngliche Einsichtsrecht des Verstorbenen habe auch vermögensrechtlichen Charakter gehabt. Es sei damit auf die Klägerinnen als seine Erbinnen übergegangen. Aber auch die ärztliche Schweigepflicht stehe dem Verlangen der Klägerinnen nicht entgegen. Hier komme die mutmaßliche Einwilligung des Verstorbenen in Betracht, denn es liege in seinem wohlverstandenen Interesse, daß seine Erbinnen und nächsten Angehörigen versuchten, die Todesursache herauszufinden, – unter anderem, um gegen den Verantwortlichen Schadensersatzansprüche geltend zu machen.
II
Diesen Ausführungen kann nicht in allen Punkten gefolgt werden, so daß es einer Zurückverweisung zur erneuten Sachprüfung durch das Berufungsgericht bedarf.
1. Die Auffassung des Berufungsgerichts, daß der Patient selbst auch außerhalb eines Rechtsstreits regelmäßig ohne Darlegung eines besonderen Interesses Anspruch auf Einsicht in die Krankenpapiere habe, entspricht der Ansicht des erkennenden Senats, wie sie inzwischen in den beiden genannten Entscheidungen vom 23. November 1982 (vor allem in dem Urteil VI ZR 222/79 BGHZ 85, 327 ff) Ausdruck gefunden hat. Auf die dortigen Ausführungen kann hier – auch wegen der für erforderlich gehaltenen Einschränkungen eines solchen Einsichtsrechts – zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen werden. Damit hätte der Verstorbene in der Tat zu Lebzeiten die von den Klägerinnen jetzt begehrte Einsicht im wesentlichen beanspruchen können; denn er hätte ein konkretes Informationsinteresse insoweit, als sein allgemeines Einsichtsrecht ging, nicht darlegen müssen. Da sein Einsichtsanspruch dem materiellen Recht entsprang, wäre schon deshalb der von der Beklagten den jetzigen Klägerinnen entgegengehaltene Vorwurf der unzulässigen prozessualen Ausforschung ins Leere gegangen.
2. Nach den Ausführungen des Senats in dem Urteil BGHZ 85, 327 (332) handelt es sich bei dem eigenen Einsichtsrecht des Patienten um einen Nebenanspruch aus dem Behandlungsvertrag (bzw., wie hier, aus dem entsprechend gestalteten Verhältnis bei der Behandlung von Patienten, für die ein öffentlicher Krankenversicherungsträger aufkommt). Dieser Auslegung des in seiner Struktur bürgerlichrechtlichen Vertragsverhältnisses kann die Beklagte keine Bestimmungen ihrer Anstaltsordnung entgegensetzen, auf die sie sich bezogen hat (ABl. 30). Daß die dort etwa enthaltenen Bestimmungen Gegenstand einer konkreten Vereinbarung geworden wären, ist nicht behauptet. Allerdings hat sich der Senat für die im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung gewonnene Feststellung der Nebenpflicht, Einsicht in die Unterlagen zu gewähren, auf das durch grundrechtliche Wertung geprägte Selbstbestimmungsrecht und die personale Würde des Patienten bezogen (BGHZ aaO). Das besagt aber noch nicht, daß dieser Vertragsanspruch damit im vollen Umfang ein „höchstpersönlicher” sei, der weder unter Lebenden noch von Todes wegen ganz oder auch nur teilweise auf andere übergehen könnte. Vielmehr darf der vertragliche Nebenanspruch auch legitimen wirtschaftlichen Belangen – so der Klärung von Schadensersatzansprüchen sowohl gegen andere Ärzte als auch gegen den auf Einsichtsgewährung in Anspruch genommenen Arzt selbst – dienstbar gemacht werden. Jedenfalls insoweit hat der Einsichtsanspruch auch eine vermögensrechtliche Komponente, so daß sein Übergang auf die Erben in Frage kommt (§ 1922 BGB), soweit nicht das Wesen des Anspruchs aus besonderen Gründen einem Gläubigerwechsel entgegensteht. Unter anderen als diesen vermögensrechtlichen Gesichtspunkten kann sich ein Einsichtsrecht der Angehörigen gegenüber dem Arzt (Krankenhaus) jedenfalls nicht kraft ihrer Erbenstellung ergeben (für die Schweigepflicht eines Steuerberaters vgl. neuerdings OLG Stuttgart, Justiz 1983, 46, 48).
3. Die wesentliche Problematik ergibt sich aus dem Rechtsinstitut der ärztlichen Schweigepflicht.
a) Als Rechtspostulat geht diese Schweigepflicht schon auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück (vgl. etwa Goedel, Pflichten und Berechtigungen des Arztes zur Anzeige und Auskunft gegenüber Dritten etc.; Diss. Freiburg 1971 mit Nachw.). Sie ist auch heute ein fester, im Kern ungeschriebener Bestandteil der Rechtsordnung, der in den prozessualen Vorschriften über das Zeugnisverweigerungsrecht des Arztes und des ärztlichen Personals, den Strafvorschriften wegen Verletzung der Schweigepflicht und den Regeln des ärztlichen Standesrechts, die allerdings unmittelbar die Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten, Patienten und Dritten nicht beeinflussen können, seine Ausprägung und Bestätigung findet. Darüber und über den hohen Stellenwert dieser Pflicht im Rahmen der Rechtsordnung dürfte kaum Streit bestehen.
b) Die Schweigepflicht kann nur durch Entbindung seitens des Geheimhaltungsberechtigten, also regelmäßig des Patienten, gelöst werden. Ein Eingehen auf Fragen, die sich bei der Beteiligung von Geheimnissen dritter Personen hinsichtlich der Befreiungsbefugnis des Patienten ergeben können/vgl. dazu etwa BGHZ 85, 339, 3457 oder auf Fälle, in denen höherrangige Rechte die Dispositionsbefugnis des Patienten einschränken können, ist bei dem gegebenen Sachverhalt nicht erforderlich.
Die Pflicht des Arztes zur Verschwiegenheit gilt im Grundsatz auch im Verhältnis zu nahen Angehörigen des Patienten (zur Schweigepflicht gegenüber Angehörigen und zu deren Grenzen vgl. etwa Erdsiek NJW 1963, 632; Weißauer, Inf. des Berufsverbandes der deutschen Chirurgen, 1976, 172, 173; Bachmann, Med. Klinik 1977, 1550, 1553). Sie darf ihnen gegenüber nur ausnahmsweise und nur im vermuteten Einverständnis des Patienten gebrochen werden, soweit einer ausdrücklichen Befreiung Hindernisse entgegenstehen. Dabei muß sich der Arzt die Überzeugung verschafft haben, daß der Patient vor diesen Angehörigen insoweit keine Geheimnisse haben will bzw. ohne die seiner Entscheidung entgegenstehenden Hindernisse hätte haben wollen.
c) Die Schweigepflicht des Arztes gilt auch über den Tod des Patienten hinaus. Auch insoweit besteht im Ergebnis kaum Streit (§ 203 Abs. 4 StGB; BayLSG 1962, 1789; RGSt 71, 21; BGH, Beschl. vom 22. April 1952 – 1 StR 852/51, unveröfftl.; Solbach DRiZ 1978, 203 ff). Dabei braucht auf die mehr lehrmäßigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Rechtsträgerschaft nicht näher eingegangen zu werden; es genügt, wenn man nach dem Wegfall des Patienten als Rechtsperson den Arzt als insoweit mit Recht und Pflicht zur Verschwiegenheit betrauten Treuhänder betrachtet (vgl. § 203 Abs. 4 StGB; BayLSG NJW 1962, 1789; RGSt 71, 21; BGH Beschl. v. 22. April 1952 – 1 StR 852/51; Solbach aaO). Wie schon zu Lebzeiten, gilt die Schweigepflicht nach dem Tode an sich auch gegenüber den hinterbliebenen nahen Angehörigen, auch soweit ein Auskunftsanspruch an sich auf sie übergegangen wäre (s. oben zu 2 a.E.). Ihnen kann kein Entbindungsrecht zugestanden werden, da sonst die Schweigepflicht ihnen gegenüber unterlaufen würde. Etwas anderes kann auch nicht daraus gefolgert werden, daß diesen Angehörigen dann, wenn der Arzt rechtswidrig seine Schweigepflicht verletzt, ein Antragsrecht zustehen kann (§ 205 Abs. 2 StGB); denn insoweit geht es nicht darum, das Geheimnis zu durchbrechen, sondern darum, seine Durchbrechung zu verhindern oder zu ahnden.
d) Das bedeutet, daß der Arzt auch nahen Angehörigen die Kenntnisnahme von Krankenunterlagen verweigern kann und muß, soweit er sich bei gewissenhafter Prüfung seiner gegenüber dem Verstorbenen fortwirkenden Verschwiegenheitspflicht an der Preisgabe gehindert sieht. Das kann grundsätzlich auch gelten, soweit ein Einsichtsrecht, das zunächst dem Verstorbenen zugestanden hatte, wegen seiner vermögensrechtlichen Komponente an sich dem Erben zufallen konnte. Der Schutz des vom Verstorbenen dem Arzt entgegengebrachten Vertrauens muß im Zweifel den Vorrang behalten, auch soweit es um das erst durch die Senatsurteile vom 23. November 1982 höchstrichterlich anerkannte vertragliche Einsichtsrecht geht. Daher kann dem Erben ein Einsichtsrecht nur zustehen, soweit dies nicht dem geäußerten oder mutmaßlichen (vgl. etwa Lenkner in Schönke/Schröder StGB, 21. Aufl., § 203 Rdnr. 27 mit Nachw.; Hess. Krankenhausgesetz v. 4. April 1973, § 14 Abs. 3, GVBl 1973, 147) Willen des verstorbenen Patienten widerspricht. Der Anspruch würde sonst durch den Rechtsübergang in seinem Inhalt zweckwidrig verändert.
e) Das Problem, das im wesentlichen erst durch die neue Rechtsprechung bezüglich des Einsichtsrechts des Patienten entstanden ist und das deshalb in Rechtsprechung und Schrifttum in dieser Form, soweit ersichtlich, kaum erörtert wurde (ausführlich nur Lenkaitis, Krankenunterlagen aus juristischer, insbesondere zivilrechtlicher Sicht, 1979 S. 231 ff), läßt sich allerdings nicht dahin lösen, daß, soweit eine positive Willensäußerung des Verstorbenen nicht feststeht, der Arzt den Erben bzw. Angehörigen die Einsicht in Unterlagen immer versagen dürfe und müsse. Ausgangspunkt der Beurteilung muß hier vielmehr der Bestand des ggf. auch in gewissem Umfange übergangsfähigen vertraglichen Einsichtsrecht des Patienten bleiben. Auch über die bei der Erbfolge allein wesentlichen vermögensrechtlichen Belange hinaus muß insbesondere aus dem Antragsrecht gem. § 205 Abs. 2 StGB die Auffassung des Gesetzgebers entnommen werden, daß Angehörigen auch ein Recht zur Wahrung nachwirkender Persönlichkeitsbelange des Verstorbenen zustehen kann und deshalb die treuhänderische Nachfolge solcher Angehöriger in Auskunftsansprüche auch außerhalb des Vermögensbereichs in Frage kommt (vgl. dazu etwa auch § 194 Abs. 1 Satz 2 StGB). Damit erscheint es nicht ausgeschlossen, daß die betreffenden Angehörigen ohne Rücksicht auf eine Erbenstellung das Einsichtsrecht des Verstorbenen auch insoweit in Anspruch nehmen dürfen, als es darum geht, einen für dessen Tod Verantwortlichen der verwirkten Strafe zuzuführen.
f) Soweit von der ärztlichen Schweigepflicht her ernstliche Bedenken gegen eine Einsicht von Erben oder Hinterbliebenen bestehen, kommt der Wahrung des Arztgeheimnisses der Vorrang zu. Auch über die Frage, ob ausnahmsweise höherrangige Belange den Bruch des Arztgeheimnisses rechtfertigen, kann naturgemäß nur der Arzt selbst entscheiden, weil er für die Entscheidung durch eine dritte Stelle zwangsläufig das Geheimnis erst preisgeben müßte. Soweit also nicht schon die zuletzt erwähnte Werteabwägung eine Offenbarung rechtfertigt, wird der Arzt gewissenhaft zu prüfen haben, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Verstorbene die ganze oder teilweise Offenlegung der Krankenunterlagen gegenüber seinen Hinterbliebenen bzw. Erben mutmaßlich mißbilligt haben würde; bei der Erforschung dieses mutmaßlichen Willens des verstorbenen Patienten wird auch das Anliegen der die Einsicht begehrenden Personen (Geltendmachung von Ansprüchen, Wahrung nachwirkender Persönlichkeitsbelange des Verstorbenen) eine entscheidende Rolle spielen müssen; denn daß sich der Verstorbene einem solchen Anliegen nicht verschlossen haben würde, mag in der Tat wahrscheinlich sein, kann aber nicht (darauf läuft die insoweit zu knappe Erwägung des Berufungsgerichts hinaus) als ausnahmslose Regel gelten; und darüber, ob von einer Ausnahme ausgegangen werden muß, kann wiederum nur der Arzt als Geheimnisträger entscheiden.
In Fällen von der Art des vorliegenden wird es nun allerdings nicht die Regel, sondern die Ausnahme sein, daß von einem Geheimhaltungswunsch des Patienten ausgegangen werden muß. Der Arzt wird dabei insbesondere darauf abzustellen haben, welche Geheimhaltungswünsche dem Verstorbenen angesichts der nunmehrigen, durch sein Ableben veränderten Sachlage unterstellt werden müssen.
Insoweit können sich inzwischen erhebliche Änderungen ergeben haben. So mag ein Patient ein berechtigtes Interesse daran gehabt haben, daß die ungünstige Prognose seiner Krankheit und damit seine geringe Lebenserwartung vor seinem Tode nicht bekannt wird. Jedenfalls dieses Geheimhaltungsinteresse hat sich aber in der Regel durch das tatsächliche Ableben erledigt. Zur Bildung weiterer Beispiele gibt der zur Entscheidung stehende Fall mangels irgendwelcher Anknüpfungspunkte keinen Anlaß (Zur möglichen Einschränkung des Geheimhaltungsinteresses nach dem Tod des Patienten vgl. Schünemann, ZStW 90, 11, 59 ff).
Die Gewissensentscheidung des Arztes hinsichtlich der Offenlegung der Unterlagen gegenüber den Angehörigen wird all diese Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben. Daß sie ihrer Natur nach an sich nicht justiziabel, d.h. einer gerichtlichen Nachprüfung nicht zugänglich ist (BayLSG, aaO; kritisch Bosch, Grundsatzfragen des Beweisrechts, S. 102), weil diese von vornherein die Preisgabe des möglicherweise schutzbedürftigen Geheimnisses bedingen würde, kann an diesem Grundsatz nichts ändern. Der Arzt muß sich vielmehr bewußt sein, daß er die Einsicht nur verweigern darf, wenn gegen sie von seiner Schweigepflicht her mindestens vertretbare Bedenken bestehen können. Sachfremde, weil nicht von der erkennbar gewordenen oder zu vermutenden Willensrichtung des Patienten gedeckte Verweigerungsgründe sind unzulässig. Dazu gehört in der Regel auch die Befürchtung, daß durch die Einsichtnahme eigenes oder fremdes Arztverschulden aufgedeckt werden könnte. Zwar sind auch Fälle denkbar, in denen der Patient einen evtl. schuldigen Arzt erkennbar schonen wollte. Anhaltspunkte dafür sind im Streitfall nicht ersichtlich, doch wird diese Frage Gegenstand der ohnehin veranlagten erneuten tatrichterlichen Prüfung sein.
g) Demnach ist in der Frage des Einsichtsrechts allerdings der darauf in Anspruch genommene Arzt gewissermaßen selbst die letzte Instanz. Die damit verbundene Mißbrauchsgefahr muß wegen des hohen Stellenwertes, der dem Vertrauensschutz zukommt, grundsätzlich hingenommen werden.
Immerhin aber muß dem Arzt die Darlegung zugemutet werden, daß und unter welchem allgemeinen Gesichtspunkt er sich durch die Schweigepflicht an der Offenlegung der Unterlagen gehindert sieht. Er wird also etwa zu erklären haben, daß bei einem jedenfalls nicht auszuschließenden Geheimhaltungsinteresse des Verstorbenen gegenüber den Hinterbliebenen bzw. Erben der Inhalt der Unterlagen nichts ergeben kann, was dem Anliegen der die Einsicht Begehrenden dienlich wäre, daß die (ggf. volle) Einsicht in die Krankenunterlagen den Hinterbliebenen Erkenntnisse vermitteln müßte, die der Verstorbene ihnen vermutlich vorenthalten wollte oder daß ein Wille des Verstorbenen zur Geheimhaltung auch gegenüber den Hinterbliebenen positiv geäußert worden ist. Jedenfalls muß der Arzt darlegen, daß sich seine Weigerung auf konkrete oder mutmaßliche Belange des Verstorbenen stützt. Die Substantiierung dieser Verweigerungsgründe durch den Arzt darf allerdings immer nur in diesem allgemeinen Rahmen verlangt werden. Sie ist nie in einem Umfang geschuldet, die die damit zu rechtfertigende Geheimhaltung im Ergebnis gerade doch unterlaufen würde (vgl. dazu BGHZ 85, 339, 345). Daß dies eine haftungsrechtliche Sanktion unbefugter Verweigerung evtl. verhindert, soweit die Sachlage nicht auf andere Weise – etwa im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens – offenbart wird, ändert daran nichts.
III
Gemessen an den dargelegten Grundsätzen kann die Entscheidung des Berufungsgerichts derzeit keinen Bestand haben.
1. Im Lichte der neueren Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteile vom 23. November 1982 aaO) geht das Berufungsgericht zwar zutreffend davon aus, daß dem Patienten selbst in der Regel ein Einsichtsrecht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen zusteht, ohne daß er insoweit ein besonderes Interesse darlegen müßte. Daß dieses Einsichtsrecht nicht unbegrenzt ist, sondern ggf. auf objektive Feststellungen und Behandlungsdaten beschränkt werden kann, braucht hier im Einzelnen nicht wiederholt zu werden. Es braucht auch nicht untersucht zu werden, inwiefern die Tatsache, daß an die Stelle des Patienten Erben oder zur Wahrung nachwirkender Persönlichkeitsbelange berufene nahe Angehörige treten, den Umfang der ggf. offenzulegenden Unterlagen beschränken oder im Einzelfall auch erweitern kann.
2. Ein Einsichtsrecht für Erben oder nahe Angehörige ist aber – anders als die Einsicht durch den Patienten selbst – grundsätzlich geeignet, die ärztliche Schweigepflicht zu berühren. Für seinen Bestand ist es daher unerläßlich, daß es aus einer feststehenden oder mutmaßlichen Einwilligung des Verstorbenen seine Rechtfertigung erfährt. Ohne eine solche Rechtfertigung kann von einer Pflicht des Arztes zur Offenlegung nicht ausgegangen werden. Daß er sich zu ihr trotzdem bereit erklären mag, weil er dadurch bei gewissenhafter Prüfung Belange des Patienten nicht berührt sieht – ebenso wie auch zu Lebzeiten des Patienten den um diesen besorgten Angehörigen weithin Auskunft gegeben wird –, steht auf einem anderen Blatt; aber insoweit kann es sich dann nicht um einen klagbaren Rechtsanspruch handeln.
Bei der Geltendmachung von Rechtsansprüchen auf Einsicht in die Krankenunterlagen eines Verstorbenen muß dagegen den Erben oder Angehörigen die konkrete Darlegung der Umstände zugemutet werden, aus denen sie ihr besonderes Interesse herleiten. Daß sich dessen das Berufungsgericht bewußt gewesen wäre, wird aus seinen Ausführungen jedenfalls nicht mit der nötigen Klarheit ersichtlich. Soweit sich die Klägerinnen auf die Verfolgung von Ersatz- und Strafansprüchen gegen Dr. St. berufen, wäre jedenfalls die Prüfung erforderlich gewesen, ob dies die Einsicht in die gesamten Unterlagen rechtfertigt.
Erst wenn die Klägerinnen, die aus der Sicht des Arzt/Patienten-Verhältnisses „Dritte” sind, in diesem Sinne ihr besonderes Interesse an einer – möglicherweise auch nur begrenzten – Einsicht in die Krankenunterlagen dargelegt und erforderlichenfalls bewiesen haben, ist es allerdings Sache der die Arztseite repräsentierenden Beklagten, in dem oben dargestellten Rahmen vorzutragen, daß sie sich aus Gründen der ärztlichen Schweigepflicht (andere Gründe zur Verweigerung des nachwirkenden Vertragsanspruchs sind nicht ersichtlich) ganz oder teilweise an der Einsichtsgewährung gehindert sieht.
Bislang jedenfalls hat die Beklagte eine solche Behauptung nicht aufgestellt. Ihre bisherigen Ausführungen dahin, daß die Einsicht aus „grundsätzlichen” Erwägungen verweigert werde, obwohl man nichts zu verschweigen habe, und die oben erwähnte Verwahrung gegen eine prozessuale Ausforschung lassen vielmehr eher vermuten, daß sich die Beklagte auf berechtigte, aus der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht herzuleitende Bedenken nicht beruft; doch kann dies nicht schon zu einer Bestätigung des angefochtenen Urteils führen, weil die Beklagte angesichts des damals noch geltenden Standes der Rechtsprechung glauben konnte, sich auf eine „Verteidigung im Vorfeld” beschränken zu dürfen. Die Beklagte wird daher Gelegenheit haben müssen, sich auf etwaige, aus der ärztlichen Schweigepflicht herzuleitende Weigerungsgründe zu berufen. Das wird allerdings, da es sich insoweit um eine ärztliche Entscheidung handelt, die verantwortliche Stellungnahme eines nunmehr in der Klinik der Beklagten hierfür zuständigen Arztes erfordern, die bisher nicht ersichtlich ist.
Zur Nachholung der Prüfung des Klaganspruches unter den hier vorgezeichneten Gesichtspunkten war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Unterschriften
Dr. Hiddemann, Dunz, Scheffen, Dr. Steffen, Dr. Ankermann
Fundstellen
Haufe-Index 1128857 |
NJW 1983, 2627 |
Nachschlagewerk BGH |
JZ 1984, 279 |