Leitsatz (amtlich)
›Hat im Arzthaftungsprozeß der medizinische Sachverständige in seinem mündlich erstatteten Gutachten neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem schriftlichen Gutachten abgegeben, muß der medizinisch nicht sachkundigen Partei Gelegenheit gegeben werden, dazu Stellung zu nehmen. Dabei sind auch Ausführungen in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz zur Kenntnis zu nehmen, und es ist, sofern die Stellungnahme Anlaß zur weiteren tatsächlichen Aufklärung gibt, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen.‹
Verfahrensgang
Tatbestand
Der damals 16-jährige Kläger erlitt am 31. August 1983 gegen 19.45 Uhr bei einem Verkehrsunfall eine Fraktur des linken Oberschenkels. Um 20.10 Uhr wurde er in das Städtische Krankenhaus H., dessen Träger der Erstbeklagte ist, eingeliefert. Der Beklagte zu 2), diensthabender Oberarzt, nahm die Eingangsuntersuchung vor. Dabei waren die Fußpulse nicht tastbar und auch sonographisch nicht nachweisbar. Die Zehen waren nicht beweglich, ab der Malleolarebene war keine Sensibilität mehr vorhanden. Nach einer Röntgenuntersuchung und einer Angiographie wurde um 23.45 Uhr oder 24.00 Uhr mit der operativen Versorgung der Unfallverletzung begonnen. Der Zweitbeklagte nahm zunächst eine Gefäßrekonstruktion vor, bei der die abgerissene Kniekehlenschlagader zusammengefügt wurde, anschließend stabilisierte er den Bruch mit zwei Kirschnerdrähten. Am 2. und 5. September 1983 wurden wegen Durchblutungsstörungen Revisionseingriffe erforderlich, am 12. und 19. September 1983 mußte nekrotisches Gewebe aus dem Unterschenkel entfernt werden. Am 28. September 1983 hat der Kläger in einer anderen Klinik die Amputation seines linken Unterschenkels durchführen lassen.
Der Kläger verlangt von dem Zweitbeklagten die Zahlung eines Schmerzensgeldes, von beiden Beklagten ferner Ersatz materiellen Schadens und Feststellung ihrer Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Zukunftsschäden. Er wirft dem Zweitbeklagten Behandlungsfehler vor, die zur Amputation des linken Unterschenkels geführt hätten, nämlich eine zeitliche Verzögerung des Beginns der Operation, das Unterlassen einer alsbaldigen Fascienspaltung zur Verhinderung des Auftretens eines Compartment-Syndroms und fehlerhafte Versorgung der Fraktur durch bloße Drahtfixierung. Er meint ferner, die behandelnden Ärzte hätten ihn in eine besser ausgestattete Unfallklinik überweisen, jedenfalls aber seine Eltern auf eine solche Möglichkeit hinweisen müssen.
Die Beklagten sind der Ansicht, der Kläger sei fehlerfrei ärztlich behandelt worden. Die Amputation seines Unterschenkels sei nicht zu verhindern gewesen.
Die Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seine Klageansprüche weiter.
Entscheidungsgründe
I. Das Berufungsgericht ist aufgrund des schriftlichen und mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. B. der Auffassung, ein Behandlungsfehler des Zweitbeklagten bei der Versorgung der Unfallverletzung des Klägers liege nicht vor. Dazu führt es insbesondere aus: Zur Vermeidung von Durchblutungsstörungen und der Verhinderung des sogenannten Compartment-Syndroms sei eine Fascienspaltung vor dem 2. September 1983 angesichts des klinischen Befundes des Klägers nicht erforderlich gewesen. Das gewählte Osteosynthese-Verfahren, nämlich Fixierung der Fraktur mittels Kirschnerdrähten statt der Verwendung von Schrauben und Platten, sei vor allem angesichts der Gefäßsituation beim Kläger nicht zu beanstanden. Die Operation sei auch nicht zu spät vorgenommen worden. Auf die Möglichkeit, ein anderes und etwa besser ausgestattetes Krankenhaus aufzusuchen, hätten die Eltern des Klägers nicht hingewiesen werden müssen. Die Ärzte des Städtischen Krankenhauses H. hätten nämlich über das erforderliche Fachwissen und die nötige Erfahrung verfügt, um die Unfallverletzung zu behandeln. Ob eine Verlegung medizinisch vertretbar gewesen sei, sei darüber hinaus zweifelhaft.
Der Kläger hat in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz nach der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht, in der der gerichtliche Sachverständige ausführlich, insbesondere zur Frage der Notwendigkeit einer alsbaldigen Fascienspaltung, angehört worden ist, Einwendungen gegen das Gutachten erhoben und die Sachkunde des Gutachters bestritten. Das Berufungsgericht hat jedoch keinen Anlaß gesehen, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen.
II. Die dagegen gerichteten Verfahrensrügen der Revision sind im Ergebnis begründet und führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Ohne Erfolg wendet sich die Revision allerdings gegen die Feststellung im angefochtenen Urteil, der Zweitbeklagte habe medizinisch richtig gehandelt, als er die Fraktur mittels Kirschnerdrähten fixierte und nicht stattdessen Verschraubungen und Verplattungen vornahm. Sie beruht auf den vom Berufungsgericht für überzeugend gehaltenen Ausführungen des Sachverständigen Prof. B. in seinem schriftlichen Gutachten. Die Revision zeigt nicht auf, in welchen Punkten dieses Gutachten zur Wahl des Osteosynthese-Verfahrens fehlerhaft oder lückenhaft sein soll. Ebensowenig sind insoweit ihre Angriffe gegen die Sachkunde des Gutachters begründet. Dazu genügt angesichts dessen, daß Prof. B. Leiter der unfallchirurgischen Abteilung einer Universitätsklinik ist, nicht der pauschale Hinweis darauf, speziell für die Beurteilung der Prophylaxe eines Compartment-Syndroms fehle ihm die nötige Erfahrung.
2. Mit Recht hat das Berufungsgericht auch eine Pflicht des Zweitbeklagten verneint, die Eltern des Klägers über die Möglichkeit der Versorgung in einer personell und sachlich besser ausgestatteten Klinik zu informieren. Nach den getroffenen Feststellungen, die insoweit nicht angegriffen sind, bot das Städtische Krankenhaus H. den erforderlichen Standard für eine Behandlung von Unfallverletzungen der Art, wie sie der Kläger erlitten hatte. Dann wird, wie der. erkennende Senat inzwischen ausgesprochen hat, entgegen der Ansicht der Revision die von ihr geforderte Aufklärung ohne ausdrückliche Nachfrage des Patienten nicht geschuldet (BGHZ 102, 17 ff).
3. Dagegen hält die Feststellung des Berufungsgerichtes, den Zweitbeklagten treffe deswegen kein Vorwurf des Behandlungsfehlers, weil er nicht schon vor dem 2. September 1983 eine Fascienspaltung vorgenommen hat, den Revisionsangriffen nicht stand.
a) Im Arzthaftungsprozeß gehört es in aller Regel unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit zur Gewährung des rechtlichen Gehörs, der medizinisch nicht sachkundigen Partei Gelegenheit zu geben, zu einem mündlich erstatteten Sachverständigengutachten über schwierige medizinische Fragen nochmals Stellung nehmen zu können, nachdem sie sich etwa selbst anderweitig sachverständig hat beraten lassen. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Sachverständige vor seiner mündlichen Anhörung noch kein gründliches schriftliches Gutachten erstattet hat oder das mündlich erstattete Gutachten gegenüber dem früheren schriftlichen neue und ausführlichere Beurteilungen enthält. Andernfalls wird sie meist nicht in der Lage sein, dem Sachverständigen etwaige abweichende medizinische Lehrmeinungen vorzuhalten, auf die Möglichkeit von Lücken der Begutachtung hinzuweisen und etwaige Widersprüche im Gutachten aufzuzeigen. Das hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 17. April 1984 - VI ZR 220/82 - (NJW 1984, 1823 = VersR 1984, 661) näher ausgeführt; daran ist festzuhalten.
b) Der erkennende Senat hat in den Gründen der. angeführten Entscheidung auch schon ausgeführt, das Berufungsgericht müsse in solchen Fällen wenigstens dann die mündliche Verhandlung wieder eröffnen, wenn die Partei in nachgereichten Schriftsätzen das mündlich erstattete Gutachten unter Anführung von Einzelheiten angreift. Im Streitfall hat der Kläger allerdings im Anschluß an die mündliche Anhörung des medizinischen Gutachters nicht die Einräumung einer Schriftsatzfrist zur Stellungnahme beantragt (§ 283 ZPO) und auch nicht in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 26. Mai 1987 ausdrücklich die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt. Nichtsdestoweniger war das Berufungsgericht im Streitfall zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet (§ 156 ZPO), weil andernfalls der Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt wäre. Zwar stellt § 156 ZPO die Wiedereröffnung einer geschlossenen mündlichen Verhandlung seinem Wortlaut nach in das Ermessen des Gerichtes. Die pflichtmäßige Ausübung dieses Ermessens gebietet aber eine Wiedereröffnung von Amts wegen, also auch ohne ausdrücklichen Antrag der Partei, wenn sich nachträglich ergibt, daß nur die Wiedereröffnung der Verhandlung die Verletzung des rechtlichen Gehörs heilen kann (vgl. etwa Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 20. Aufl., § 156 Rdnr. 3 m.w.N.; siehe auch Senatsurteil vom 11. Juni 1974 - VI ZR 210/72 - VersR 1974, 1127, 1128). Freilich muß die Partei das Ihre dazu beitragen, daß ihre Rechte am Prozeß nicht verkürzt werden. Läßt sie etwa im Anschluß an die Beweisaufnahme bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung nicht erkennen, daß sie etwa zu neu aufgetauchten medizinischen Fragen noch Stellung nehmen will, begibt sie sich selbst ihrer Rechte, wenn das Gericht aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung alsbald eine Entscheidung verkündet. Reicht die Partei aber vor der Verkündung der Entscheidung einen, wenn auch nicht nachgelassenen Schriftsatz ein, dann hat das Gericht diesen, sofern dazu zeitlich Gelegenheit ist, zur Kenntnis zu nehmen (Baumbach/Hartmann, ZPO, 44. Aufl., § 156 2 D; siehe auch Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 20. Aufl., § 133 Rdnr. 11). Ergibt sich dann, daß zur Wahrung des rechtlichen Gehörs eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung geboten ist, muß von Amts wegen so verfahren werden.
c) Im Streitfall hat das Berufungsgericht gegen diese Verfahrensgrundsätze verstoßen. Es hat zwar, wie die Bemerkung am Schluß der Entscheidungsgründe ausweist, der Schriftsatz vom 26. Mai 1987 gebe keinen Anlaß zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung, das Vorbringen des Klägers zur Kenntnis genommen, ohne aber auszuführen, weshalb es dieses Vorbringen nicht für erheblich oder jedenfalls als verspätet angesehen hat. Das rügt die Revision mit Recht.
aa) Der Sachverständige Prof. B. hat zu einer für die Entscheidung des Rechtsstreits entscheidenden Frage erst während der mündlichen Befragung Näheres ausgeführt, nämlich dazu, ob bei dem Kläger aufgrund des klinischen Befundes der Unterschenkelfraktur mit erheblichen Weichteilverletzungen schon bei der ersten operativen Versorgung zur Verhinderung eines Compartment-Syndroms eine Fascienspaltung hätte durchgeführt werden müssen. Insofern waren die Parteien, vornehmlich der Kläger, mit neuen medizinischen Beurteilungen konfrontiert worden, die mangels medizinischer Sachkunde nicht alsbald nachprüfbar waren. Damit gebot es der Grundsatz der Waffengleichheit, dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Daß unter solchen Umständen auch eine Stellungnahme in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz zu beachten war, ist bereits ausgeführt worden.
bb) In seinem noch rechtzeitig vor der Verkündung der angefochtenen Entscheidung eingegangenen Schriftsatz vom 26. Mai 1987 hat der Kläger, worauf die Revision mit Recht hinweist, unter Anführung von Einzelheiten die Sachkunde des gerichtlichen Gutachters Prof. B. für die Beurteilung der hier im Vordergrund stehenden Frage der Prophylaxe des Compartment-Syndroms in Zweifel gezogen. Hätte der Umstand, daß nach der Behauptung des Klägers Prof. B. Spezialist für Bauchchirurgie, nicht aber für Gefäßchirurgie ist, wohl schon längst vorher vom Kläger vorgetragen werden können und müssen, so nehmen die weiteren Ausführungen, mit denen die mangelnde Sachkunde des Gutachters begründet wird, auf dessen Erklärungen bei seiner mündlichen Anhörung Bezug. Insoweit konnte der Kläger sich erst nach dem Termin die nötige medizinische Sachkunde verschaffen, um zu dem Gutachten Stellung zu nehmen. Das Berufungsgericht ist auf die durchaus beachtlichen Angriffe gegen das mündliche Gutachten nicht, wie es erforderlich gewesen wäre, in seiner Urteilsbegründung eingegangen. Da es sich um medizinische Fachfragen handelt, hätte es über die Einwendungen des Klägers auch aus eigener Sachkunde nicht befinden können. Ohne weitere Aufklärung durfte es mithin nicht dem Gutachten von Prof. B. folgen.
3. Das angefochtene Urteil beruht auf dem aufgezeigten Verfahrensfehler. Es ist derzeit nicht auszuschließen, daß die erforderliche weitere Aufklärung zur Frage einer rechtzeitigen Fascienspaltung dazu führen kann, einen Behandlungsfehler des Zweitbeklagten anzunehmen. Es kann zweckmäßig sein, dazu nunmehr einen Sachverständigen mit spezieller Erfahrung auf dem Gebiete der Gefäßchirurgie zu hören. Ob auch die weiteren, von der Revision wiederholten Angriffe des Klägers gegen das Gutachten von Prof. B. im Schriftsatz vom 26. Mai 1987 Anlaß zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung hätten geben müssen, kann ebenso dahinstehen wie die Frage, ob die Revisionsrügen insoweit ordnungsgemäß ausgeführt sind. Der Kläger wird Gelegenheit haben, diese weiteren Rügen dem Berufungsgericht vorzutragen.
Fundstellen
Haufe-Index 2992943 |
NJW 1988, 2302 |
BGHR ZPO § 156 Ermessen 1 |
MDR 1988, 953 |
DfS Nr. 1994/382 |