Rn 57

Wenn der Insolvenzverwalter einzelne Arbeitnehmer bereits vor Ablauf der Kündigungsfrist nicht mehr beschäftigen kann bzw. möchte, muss er sie von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freistellen. Der Arbeitnehmer wird im Insolvenzfall nicht "automatisch" von seiner Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung befreit.[128] Erforderlich ist vielmehr, dass der Insolvenzverwalter eindeutig zu erkennen gibt, dass und ab wann er die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht mehr in Anspruch nehmen will. Eine derartige Freistellungserklärung des Insolvenzverwalters kann durch den Arbeitnehmer nicht nach § 174 BGB zurückgewiesen werden.[129] Eine Verpflichtung des Insolvenzverwalters, die Arbeitspflicht der Arbeitnehmer ab einem bestimmten Zeitpunkt zu suspendieren, besteht grundsätzlich nicht.[130] Vielmehr entscheidet der Insolvenzverwalter sowohl über das "Ob" als auch über Art und Umfang (widerruflich, unwiderruflich) der Freistellung nach pflichtgemäßem Ermessen, wobei nur eine unwiderrufliche Freistellung den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers erfüllt.[131] Sonstige Freizeitausgleichsansprüche (z.B. Überstundenguthaben) können auch durch eine widerrufliche Freistellung abgegolten werden.[132]

Auch wenn die Sozialgerichte von einer Beendigung des leistungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnisses bereits dann ausgehen, wenn Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt tatsächlich nicht mehr erbracht werden und der Arbeitgeber auf seine Verfügungsbefugnis verzichtet oder seine (arbeitsrechtliche) Verfügungsmöglichkeit faktisch nicht wahrnimmt,[133] führt eine lediglich widerrufliche Freistellung nach Auffassung der Arbeitsverwaltung[134] und eines Teils der Sozialgerichte[135] regelmäßig noch nicht zum Eintritt von Beschäftigungslosigkeit i.S.d. § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III. Ein Antrag auf Bezug von Arbeitslosengeld wird in diesen Fällen daher grundsätzlich auch dann abgelehnt, wenn die übrigen Voraussetzungen der §§ 135 ff. SGB III vorliegen. Auch wenn es keinen Anspruch des Arbeitnehmers auf eine bestimmte Form der Freistellung gibt, kann es daher zur Vermeidung von (zahllosen) Rückfragen betroffener Mitarbeiter sinnvoll sein, unmittelbar eine unwiderrufliche Freistellung auszusprechen.

 

Rn 58

Unter welchen Voraussetzungen die Freistellung erklärt werden kann, richtet sich im Übrigen nach den allgemeinen arbeitsrechtlichen Grundsätzen. Ein eigenständiges, insolvenzspezifisches Freistellungsrecht besteht nicht. Es lässt sich weder aus § 113 Satz 1 noch aus § 55 Abs. 2 Satz 2 oder § 209 Abs. 2 Nr. 3 herleiten.[136]

[129] So LAG Nürnberg 06.09.2011, 6 Sa 807/10 für eine durch den Insolvenzverwalter nach Erklärung der Masseunzulänglichkeit vorgenommene Freistellung.
[134] Vgl. Ziffern 138.1.1 Absatz 2 und 3 der fachlichen Weisungen (Stand: April 2018).

7.1 Vertraglich vereinbartes Freistellungsrecht

 

Rn 59

Insofern kommt es zunächst darauf an, ob durch Arbeits- oder Kollektivvertrag (z.B. eine Betriebsvereinbarung) rechtswirksam eine Freistellungsmöglichkeit vereinbart worden ist.[137] Soweit dies der Fall ist, sind die vertraglichen Vorgaben einzuhalten.

[137] Zu den insoweit zu beachtenden Vorgaben der §§ 307 ff. BGB LAG München 07.05.2003, 5 Sa 297/03; ErfK-Preis, 21. Aufl. 2021, § 611a BGB Rn. 568.

7.2 Freistellung bei fehlender Freistellungsvereinbarung

 

Rn 60

Falls eine Freistellungsbefugnis vertraglich nicht bzw. nicht rechtswirksam festgelegt worden ist, ist eine Suspendierung der Arbeitspflicht nur bei Vorliegen eines den Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers überwiegenden schutzwürdigen Interesses des Arbeitgebers (Insolvenzverwalters) an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers möglich.[138] Im Rahmen der Insolvenz kann das etwa ein reduzierter Beschäftigungsbedarf, eine sich abzeichnende Masseunzulänglichkeit oder die Schonung der Insolvenzmasse sein.[139] Unabhängig von der Rechtsmäßigkeit der Freistellung macht sich der Insolvenzverwalter nicht dadurch schadensersatzpflichtig, dass er einen Arbeitnehmer während der Kündigungsfrist unter Anrechnung auf noch bestehende Urlaubsansprüche unwiderruflich freistellt.[140]

[138] BAG 17.12.2015, 6 AZR 186/14; BAG 09.04.2014, 10 AZR 637/13; LAG Hamburg 24.07.2013, 5 SaGa 1/13; LAG Hamm 26.10.2005, 2 Sa 1682/05.

7.3 Forderungsrangordnung bei Freistellung

 

Rn 60a

Aus der insoweit maßgeblichen Wertung der §§ 55, 209 ergibt sich zugleich, dass und wieso der Insolvenzverwalter in der Regel gut daran tut, etwaige zur Kündigung vorgesehene Arbeitnehmer freizustellen:

Zwar sind Ansprüche auf Löhne und Gehälter ab Er...

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