Rn 38
Keine grobe Fehlerhaftigkeit liegt nach § 125 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 vor, wenn durch die Sozialauswahl eine ausgewogene Personalstruktur erhalten oder geschaffen wird. Dies ist ein gesetzlich geregelter Sonderfall der berechtigten betrieblichen Bedürfnisse i.S.d. § 1 Abs. 3 Satz 2 KSchG.
4.2.3.3.6.1 Begriff der Personalstruktur
Rn 39
Der Begriff der Personalstruktur ist nicht mit dem der Altersstruktur gleichzusetzen, sondern, da dem Schuldner oder Betriebserwerber ein funktions- und wettbewerbsfähiges Arbeitnehmerteam zur Verfügung stehen soll, in einem umfassenderen Sinn zu verstehen. Zulässige Kriterien bei der Sozialauswahl sind somit auch die Ausbildung und Qualifikation der Arbeitnehmer. Im Rahmen der Sozialauswahl dürfen somit neben Altersgruppen auch Qualifikationsgruppen gebildet werden; auch eine Altersgruppenstaffelung innerhalb der Qualifikationsgruppen ist zulässig. Die Funktionsfähigkeit eingespielter Teams darf ebenfalls berücksichtigt werden.
4.2.3.3.6.2 Steigerung der Leistungsfähigkeit
Rn 40
Da § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Halbs. 2 eine Ausnahme von der Sozialauswahl auch zum Zwecke der erstmaligen Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur gestattet, sind auch aktive Eingriffe in die bestehenden Betriebsstrukturen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Betriebs erlaubt. Abgewichen werden darf sogar von dem Grundsatz, dass die Sozialauswahl betriebsbezogen zu erfolgen hat; eine Sozialauswahl kann somit ggf. auch auf eine bestimmte Abteilung des Unternehmens beschränkt werden.
Rn 41
Zulässig ist die Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur auch, wenn sie allein dazu dient, den Betrieb aus der Insolvenz heraus verkaufsfähig zu machen, weil der hierdurch bezweckte Erhalt von Arbeitsplätzen im Interesse der Gesamtbelegschaft und der Allgemeinheit ist.
4.2.3.3.6.3 Vereinbarkeit mit dem AGG
Rn 42
Die Erhaltung oder Schaffung einer ausgewogenen Personalstruktur ist grundsätzlich auch mit den Vorgaben des AGG vereinbar, weil kein Diskriminierungsverbot verletzt wird. Denn die Ausgewogenheit der Personalstruktur dient dem sozialpolitisch erwünschten Ziel, Generationengerechtigkeit herzustellen und einen Erfahrungsaustausch im Betrieb weiterhin zu ermöglichen. Die Altersgruppenbildung durchbricht die andernfalls linear ansteigende Gewichtung des Lebensalters und relativiert diese Gewichtung zugunsten jüngerer Arbeitnehmer. Sie dient damit nicht nur der Erhaltung einer ausgewogenen Altersstruktur im Betrieb, sondern beteiligt alle Lebensalter an den notwendigen Kündigungen und mindert im Interesse einer Generationengerechtigkeit die in § 1 Abs. 3 KSchG angelegte Bevorzugung älterer Arbeitnehmer.
Rn 43
Zulässig ist es, dass die Betriebsparteien innerhalb des zur Sozialauswahl anstehenden Personenkreises Altersgruppen nach sachlichen Kriterien bilden, die prozentuale Verteilung auf die Altersgruppen feststellen und die Gesamtzahl der auszusprechenden Kündigungen diesem Proporz entsprechend auf die einzelnen Altersgruppen verteilen. Folge ist, dass sich die Sozialauswahl nur in den Gruppen vollzieht und sich der Anstieg des Lebensalters lediglich innerhalb der jeweiligen Altersgruppe auswirkt. Das kann dazu führen, dass das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers, der wegen seines höheren Lebensalters in eine höhere Altersgruppe fällt, zu kündigen ist, während ein jüngerer Arbeitnehmer mit im Übrigen gleichen Sozialdaten allein durch die Zuordnung zu einer anderen Altersgruppe seinen Arbeitsplatz behält. Erlaubt ist dies, wenn die im konkreten Fall vorgenommene Altersgruppenbildung tatsächlich geeignet ist, eine ausgewogene Personalstruktur zu sichern.
Rn 44
Keine ausgewogene Personalstruktur liegt vor, wenn die Altersgruppenbildung willkürlich ist, etwa weil die Gruppenbildung kein System erkennen lässt; solch ein Zuschnitt der Altersgruppen kann zu einer groben Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl führen. Willkürlich kann die Altersgruppenbildung auch dann sein, wenn die unterste und die höchste Altersgruppe nicht von Kündigungen betroffen sind oder wenn Arbeitnehmer, die innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses abschlagsfrei Rente wegen Alters beziehen können, allein aufgrund ihrer Rentennähe hinter alle anderen Arbeitnehmer der Vergleichsgruppe zurückgestuft werden.