Rn 48
Die EuInsVO lässt neben dem Hauptinsolvenzverfahren weitere, territorial begrenzte, Insolvenzverfahren zu.
Territorialinsolvenzverfahren erstrecken ihre Wirkungen nur auf das im Eröffnungsstaat belegene Vermögen und haben im Wesentlichen zwei Funktionen:
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Zum einen dienen sie dem Schutz der inländischen Interessen. Ein Territorialinsolvenzverfahren kann von den Gläubigern beantragt werden, um sich vor den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates, in dem ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet wurde bzw. möglicherweise eröffnet wird, schützen zu können. Ein derartiges Vorgehen ist insbesondere denjenigen Gläubigern zu raten, die nicht mit der Anerkennung ihrer Rechte (oder ihres Vorrangs) in dem anderen Insolvenzverfahren rechnen können. |
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Zum anderen stellen Territorialinsolvenzverfahren "Hilfsverfahren" für Hauptinsolvenzverfahren dar. Der Hauptinsolvenzverwalter kann die Eröffnung des Sekundärinsolvenzverfahrens beantragen, falls dies für eine effiziente Verwaltung der Masse erforderlich ist. |
Rn 49
Die Territorialinsolvenzverfahren unterteilen sich in die Partikular- und Sekundärinsolvenzverfahren.
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Partikularinsolvenzverfahren sind Insolvenzverfahren, die im Niederlassungsstaat vor einem Hauptinsolvenzverfahren eröffnet werden (Art. 3 Abs. 4 EuInsVO). |
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Sekundärinsolvenzverfahren sind die am Ort einer Niederlassung des Schuldners durchgeführten Insolvenzverfahren, die erst nach einem Hauptinsolvenzverfahren eröffnet werden (Art. 3 Abs. 3 EuInsVO). |
Rn 50
Wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Zulässigkeit eines Partikular- oder Sekundärinsolvenzverfahrens ist das Vorhandensein einer Niederlassung.
Rn 51
Der Begriff der Niederlassung ist in Art. 2 lit. h EuInsVO definiert, vgl. dazu auch Art. 2 Rn. 12-14. Es handelt sich um jeden Tätigkeitsort, an dem der Schuldner einer wirtschaftlichen Aktivität von nicht vorübergehender Art nachgeht, die den Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt.
Rn 52
Diese Definition stellt eine Kompromisslösung dar. Im Rahmen der Verhandlungen über das EuInsÜ hatten sich einige Mitgliedstaaten zugunsten der Eröffnung von Sekundärinsolvenzverfahren allein aufgrund des Vorhandenseins von Vermögenswerten ausgesprochen, während andere Staaten einen gewissen Grad an Organisation für erforderlich hielten. Als Ergebnis dieses Kompromisses führt Art. 2 lit. h EuInsVO keinen Gerichtsstand des Vermögens ein, enthält aber eine weite Definition der Niederlassung.
Rn 53
Eine Niederlassung im Sinne der EuInsVO unterscheidet sich von dem entsprechenden Begriff in Art. 5 Abs. 5 EuGVÜ (nunmehr EuGVVO). Es wurde ausdrücklich auf eine Übernahme des Begriffs der Niederlassung nach dem EuGVÜ verzichtet, um eine zu enge Auslegung dieses Begriffes zu vermeiden. Nach der Rechtsprechung des EuGH stellt eine Niederlassung im Sinne des EuGVÜ einen Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit dar, der auf Dauer als Außenstelle eines Stammhauses hervortritt, eine Geschäftsführung hat und sachlich so ausgestattet ist, dass er in der Weise Geschäfte mit Dritten betreiben kann, dass diese, obgleich sie wissen, dass möglicherweise ein Rechtsverhältnis mit dem im Ausland ansässigen Stammhaus begründet wird, sich nicht an dieses wenden müssen, sondern Geschäfte an dem Mittelpunkt geschäftlicher Tätigkeit abschließen können, der dessen Außenstelle ist. In seiner Entscheidung SAR Schotte/Parfums Rothschild hat der EuGH eine Tochtergesellschaft als Niederlassung ihrer Muttergesellschaft qualifiziert. Gerade diese Auslegung sollte im Rahmen der EuInsVO vermieden werden, da sie mit den allgemeinen Zuständigkeitsregeln des Art. 3 EuInsVO kollidieren, denen zufolge bei der Bestimmung des COMI jede Gesellschaft als selbständige juristische Person betrachtet werden muss.
Rn 54
Aus diesen Gründen ist der Begriff der Niederlassung in Art. 2 lit. h EuInsVO unabhängig von der EuGVVO und unabhängig vom nationalen Recht auszulegen. Die Definition beruht auf dem Gedanken, dass für ausländische Wirtschaftsteilnehmer, die eine inländische Niederlassung betreiben, dieselbe Insolvenzvorschriften gelten sollen wie für die inländischen Marktteilnehmer, da beide auf demselben Markt tätig sein.
Rn 55
Die Definition des Art. 2 lit. h EuInsVO enthält drei Tatbestandsmerkmale:
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Tätigkeitsort, |
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von nicht vorübergehender Art, |
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Einsatz von Personal und Vermögenswerten. |
Rn 56
Ein Tätigkeitsort ist ein Ort, an dem wirtschaftliche Aktivitäten nach außen hin ausgeübt werden, im Gegensatz zur bloßen Vermögensbelegenheit, die für das Vorliegen einer Niederlassung nicht ausreicht. Die Aktivitäten können kommerzieller, industrieller oder freiberuflicher Natur sein, müssen aber nicht auf Gewinnerzielung gerichtet sein.
Rn 57
Diese Aktivitäten müssen ferner eine gewisse Dauerhaftigkeit haben, wobei die EuInsVO hierfür keine Anhaltspunkte enthält.
Rn 58
Durch die Erforderlichkeit eines Einsatzes von Personal und Vermögenswerten kommt zum Ausdruck, dass eine gewisse Organisation vorhande...