Leitsatz (amtlich)
Unter dem Wohl des Kindes sind die grundlegenden, unverzichtbaren Lebensbedürfnisse des beteiligten Kindes zu verstehen, auf deren vollständige und sichere, unbedingte, voraussetzungslose Erfüllung es in seinem gerade erreichten Stand der Entwicklung angewiesen ist.
Zu den grundlegenden, unverzichtbaren Lebensbedürfnissen gehört das Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung und, sobald das Säuglingsalter überschritten ist, der Bedarf nach erzieherischer und geistiger Anregung. Das weitgehende und dauerhafte Vorenthalten dieser Zuwendung beeinträchtigt das Kindeswohl.
Die Gefahr ist gegenwärtig, wenn für einen in absehbarer, nicht erst fernerer Zukunft liegenden Zeitpunkt zu erwarten ist, dass die zur Beeinträchtigung des Kindeswohls führende Entwicklung ohne den hoheitlichen Eingriff nicht mehr aufgehalten oder umgekehrt werden kann. Die Beeinträchtigung des Kindeswohls kann zu dieser Zeit erst in weiterer Zukunft zu erwarten sein. Wenn wahrscheinlich ist, dass die Entwicklung zum Schaden in einem späteren Stadium des Verlaufs nicht mehr aufgehalten werden kann, dann besteht eine gegenwärtige, konkrete Gefahr, nicht nur ein Risiko.
Die Gefahr der Kindeswohlschädigung durch Vernachlässigung besteht schon dann, wenn die langfristige Entwicklung, die wegen der anhaltenden Vernachlässigung auf den Schaden zuläuft, begonnen hat und sobald nicht mehr zu erwarten ist, dass die Eltern oder die behördliche Unterstützung und Hilfe jetzt oder künftig die Entwicklung zum Besseren wenden werden.
Verfahrensgang
AG Zossen (Beschluss vom 09.04.2015; Aktenzeichen 6 F 150/14) |
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des AG Zossen vom 9.4.2015 wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten ihres Rechtsmittels.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000 Euro festgesetzt.
Gründe
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen die Entziehung von Teilen der elterlichen Sorge.
I.1. Das 2009 geborene Kind wohnte im Haushalt seiner Mutter, der Antragsgegnerin, die die elterliche Sorge allein ausübte. Vom Vater des Kindes trennte sich die Antragsgegnerin Anfang 2010. Sie leidet unter Angststörungen und psychosomatischen Beschwerden.
Seit Juni 2015 wohnt das Kind auf Grund des angefochtenen Beschlusses im Märkischen Kinderdorf. Die Antragsgegnerin hat alle zwei Wochen an einem Tag Umgang mit dem Kind, und sie begleitet es zu Arzt- und anderen Therapieterminen.
2. Das Verfahren hat mit einer Anregung des Jugendamtes begonnen (Bl. 1 f.): Die Antragsgegnerin habe seit der Geburt des Kindes Hilfen zur Erziehung erhalten. Nach dem Aufenthalt in einer Mutter-Kind-Einrichtung von März 2011 bis März 2012 sei trotz Einsatzes einer Familienhelferin eine stetige Überforderung der Antragsgegnerin deutlich geworden. Sie habe das Kind geschlagen und eingesperrt. Das Kind habe begonnen, sich auffällig zu verhalten, nämlich eine Kita-Erzieherin zu beschimpfen und auf die Antragsgegnerin aggressiv zu reagieren, sie auszulachen und nicht ernst zu nehmen.
Die Antragsgegnerin hat das Wohl des Kindes für nicht gefährdet gehalten. Sie nehme die Hilfen des Jugendamtes stets an, das dadurch die Überwachung des Kindes sicherstellen könne. Weitere Eingriffe seien nicht gerechtfertigt.
Der Verfahrensbeistand hat das Kindeswohl zunächst nicht für akut gefährdet gehalten (Bl. 24), später indes gemeint, Anzeichen für eine emotionale Vernachlässigung zu erkennen, und eine Unterbringung in einer Wohngruppe empfohlen (Bl. 264).
3. Das AG hat ein psychologisches Sachverständigengutachten eingeholt (Bl. 36 ff.). Der Sachverständige hat die Antragsgegnerin als sehr erschöpft und belastet beschrieben, das Kind als in hohem Maße emotional bedürftig. Es mangele der Antragsgegnerin an auf das Kind bezogener Empathie und Feinfühligkeit. Eine emotionale Beziehung bestehe kaum, weder eine herzliche oder innige noch eine gereizte oder angespannte. Die körperlich-sozio-emotionale Versorgung des Kindes durch die Antragsgegnerin sei unzureichend. Sie werde den emotionalen Bedürfnissen des Kindes nicht gerecht, das sich deshalb gegenüber Fremden distanzlos verhalte und nach sozialer Bestätigung strebe. Es entwickle sich eine Bindungsstörung infolge sozialer und emotionaler Deprivation. Das Kind habe begonnen, Verantwortung für die Antragsgegnerin zu übernehmen, um das Mutter-Kind-Beziehungsgefüge zu schützen und zu erhalten. Langfristig drohten schwere Entwicklungs- und Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, wenn das Kind nicht verlässliche emotionale Zuwendung und Entwicklungsförderung durch Spiel- und Beschäftigungsangebote bekomme. Der Sachverständige hat empfohlen, das Kind solle vorübergehend, für mindestens zwei Jahre, getrennt von der Antragsgegnerin in einer Wohngruppe aufwachsen, um die Antragsgegnerin zu entlasten. Umfassende Umgänge könnten die Bindungskontinuität erhalten. Die Antragsgegnerin sei wegen kognitiver und psychisch-emotionaler Einschränkungen mit der Betreuung des Kindes überlastet und überfordert. Es sei nicht zu erwarten, dass s...