Leitsatz (amtlich)
Die Beschwerdeentscheidung über eine kindesschutzrechtliche Maßnahme beruht auf einer selbständigen Feststellung des zur Zeit der Beschwerdeentscheidung, gegebenen Sachverhalts und der darauf gestützten Beurteilung des Beschwerdegerichts. Die Funktion des Beschwerdeverfahrens ist auf eine neue Sachentscheidung beschränkt. Ob die angefochtene Maßnahme während des Laufs des Beschwerdeverfahrens rechtmäßig war, ist nicht zu entscheiden.
Unter dem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl des Kindes (§ 1666 I BGB) ist nicht das subjektive Wohlbefinden in jeglicher Hinsicht zu verstehen und ebensowenig ein irgendwie objektivierter bestmöglicher Zustand. Das Wohl der vielen Kinder, die nicht unter bestmöglichen Lebensumständen aufwachsen und deren Talente nicht bestmöglich angeregt und gefördert werden, ist nicht gefährdet, auch wenn ihm besser gedient werden könnte.
Unter dem Wohl des Kindes sind die grundlegenden, unverzichtbaren Lebensbedürfnisse gerade des beteiligten Kindes zu verstehen, auf deren vollständige und sichere, unbedingte, voraussetzungslose Erfüllung es in seinem gerade erreichten Stand der Entwicklung angewiesen ist. Auf diese Weise ist der Begriff des Kindeswohls gegen ein Abgleiten in Kleinigkeiten zu bewahren, um den staatlichen Eingriff zu beschränken und dem Freiheitsrecht von Kindern und Eltern (Art. 6 II, III GG, 27 II, V VerfBbg) zu entsprechen.
Das berechtigte Bedürfnis des Kindes nach zunehmender Selbständigkeit (§ 1626 II 1 BGB) lässt die Notwendigkeit und damit auch das Recht des Kindes auf Erziehung bis zum Eintritt der Volljährigkeit nicht vollständig entfallen. Der Entwicklung eines Kindes, das sich dem erzieherischen Einfluss Erwachsener vollständig verschließt und verweigert, droht deshalb schwerwiegender Schaden.
Wenn rechtzeitige Abhilfe durch die Eltern und dadurch bewirkte Abwendung des Schadenseintritts zu erwarten ist oder schon mit Erfolgsaussicht begonnen hat, dann besteht eine Gefahr nicht und ein hoheitliches Eingreifen zur Gefahrenabwehr ist deshalb unzulässig.
Der staatliche Zwang auf der Eingriffsgrundlage des § 1666 BGB darf nicht ausgeübt werden, um einen Optimalzustand herzustellen. Selbst die sichere Erwartung, ein Kind werde nach erzwungener Familientrennung in der Obhut der Jugendhilfe besser gefördert und seine geistigen und körperlichen Entwicklungsmöglichkeiten besser entfalten als bei den Eltern, rechtfertigt hoheitliches Eingreifen nicht. Auch offensichtliche Nachteile, die das Kind auf Grund der Erziehungsmethoden seiner Eltern im Vergleich zu seinen Geschwistern oder zu Kindern anderer Eltern erleidet, dürfen nicht durch staatlichen Eingriff abgewehrt oder korrigiert werden.
Verfahrensgang
AG Nauen (Beschluss vom 19.11.2014; Aktenzeichen 21 F 122/11) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des AG Nauen vom 19.11.2014 aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen tragen die Jugendämter D. und H. je zur Hälfte.
Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 3.000 Euro festgesetzt.
Gründe
Der Antragsgegner wendet sich gegen die zur Gefahrenabwehr angeordnete Entziehung der elterlichen Sorge.
I.1. Das Verfahren betrifft die Entziehung der elterlichen Sorge des Antragsgegners für sein 1999 geborenes Kind. Die Sorge für ein weiteres, 2001 geborenes Kind ist dem Antragsgegner durch unangefochten gebliebenen Beschluss entzogen worden, weil er durch unverschuldetes Versagen außerstande sei, Entscheidungen zu treffen, die zum Wohl des Kindes erforderlich seien (Bl. 495 ff.). Der Antragsgegner übte die elterliche Sorge nach der Selbsttötung der Mutter allein aus. Er heiratete erneut, und die Kinder blieben nach der Trennung der Eheleute im Haushalt der Stiefmutter. Seit 2014 wohnen beide Kinder in Wohngruppen von Jugendhilfeeinrichtungen.
2. Nachdem das AG dem Antragsgegner das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht zur Beantragung von Hilfen und die Vermögenssorge durch einstweilige Anordnungen entzogen hatte (21 F 172/12, Bl. 3 f.; 21 F 36/14, Bl. 14 f.), hat es mit dem angefochtenen Beschluss auf die Anträge sowohl des Jugendamtes D. (Bl. 576, 620) als auch des Jugendamtes H. (Bl. 620) die gesamte elterliche Sorge entzogen und Vormundschaft angeordnet. Im Laufe des Verfahrens habe sich gezeigt, dass der Antragsgegner ungeeignet sei, die elterliche Sorge auszuüben. Dazu bedürfe es der Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht mehr, nachdem der Antragsgegner einen Sachverständigen erfolgreich wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und die Ablehnung eines weiteren Sachverständigen angekündigt habe. Die Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts sei schon deshalb erforderlich, weil der Antragsgegner sprunghaft verschiedene Auffassungen über den Aufenthalt des Kindes vertreten habe. Er habe das Kind gegen dessen Willen aus dem Haushalt der Stiefmutter, seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau, herausnehmen und in einem Internat unterbringen wollen. Misshandlungsschilderungen sowohl seiner Kinder als auch seiner Eh...