Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung des § 329 StPO (Verstoß gegen Grundsätze eines fairen Verfahrens und der hieraus abzuleitenden Fürsorgepflicht) durch Verwerfung der Berufung
Leitsatz (redaktionell)
§ 329 StPO wird durch die Verwerfung der Berufung verletzt, auch wenn - zutreffend - telefonisch angekündigt wird, dass der Angeklagte irrtümlich vor dem erstinstanzlichen Gericht erschienen sei und deshalb um 1 Stunde und 15 Minuten verspätet bei der Berufungskammer eintreffen wird.
Verfahrensgang
LG Potsdam (Entscheidung vom 28.10.2010) |
Tenor
1. Die sofortige Beschwerde der Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 8. Dezember 2010 wird als unbegründet verworfen.
2. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 28. Oktober 2010 mit den zu Grunde liegenden Feststellungen gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Kammer des Landgerichts Potsdam zurückverwiesen.
Gründe
Mit der am 22. Dezember 2010 eingegangenen sofortigen Beschwerde wendet sich die Angeklagte gegen den am 16. Dezember 2010 zugestellten Beschluss der 6. kleinen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 8. Dezember 2010, durch den der Antrag der Angeklagten vom 18. November 2010 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsverhandlung vom 28. Oktober 2010 verworfen worden ist. Mit der Revision wendet sich die Angeklagte gegen das Verwerfungsurteil des Landgerichts Potsdam vom 28. Oktober 2010.
1. Die gemäß § 46 Abs. 3 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist formgerecht eingelegt worden und innerhalb der vorgeschriebenen Frist eingegangen. Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft berechnet sich die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 StPO vom Zeitpunkt der Zustellung des Verwerfungsurteils und nicht vom Zeitpunkt der Kenntnis der Terminsversäumung.
Der Beschwerde muss allerdings der Erfolg versagt bleiben. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung ist unbegründet, da die Gründe, die die Angeklagte vorbringt, dem Berufungsgericht bereits bekannt waren, als es die Berufung verwarf (BVerfG, Beschluss vom 29. März 2007 - 2 BVR 2366/06; KG Berlin, NStZ-RR 2006, 183). Die Angeklagte kann daher ihr Wiedereinsetzungsgesuch nicht erfolgreich auf den Vortrag stützen, sie habe die Hauptverhandlung aufgrund der Annahme, dass sie in stattfände, versäumt. Dies war dem Berufungsgericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und ist in dem Verwerfungsurteil als "nicht zur Entschuldigung geeignet" angesehen worden. Soweit die Beschwerdeführerin darüber hinaus vorträgt, ihre Ladung sei nicht ihr persönlich zugestellt worden, ergibt sich aus der Zustellungsurkunde zum Termin vom 28. Oktober 2010, dass ihr die Ladung am 8. Oktober 2010 persönlich übergeben worden ist. Ihre eigene Erklärung und eidesstattliche Versicherung, die kein zulässiges Mittel der Glaubhaftmachung war, ist bereits dadurch widerlegt.
Grund für das Nichterscheinen vor dem Berufungsgericht war zudem in dem Irrtum über den Terminsort zu sehen und beruhte nicht auf einer fehlenden oder verspäteten Zustellung der Ladung.
2. Die gemäß § 333 StPO statthafte und nach den §§ 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht angebrachte Revision hat demgegenüber in der Sache Erfolg.
Die Verfahrensrüge der Verletzung des § 329 StPO ist zulässig erhoben worden. Aus den Urteilsgründen ergibt sich die angesetzte Terminszeit mit 9.10 Uhr. Die Angeklagte hat dargelegt, dass sie um 10.30 bei dem Landgericht erschienen sei, so dass das Rechtsmittelgericht überprüfen kann, inwieweit das erkennende Gericht seiner Wartepflicht gerecht geworden ist (vgl. OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 303 ff.). Auch im Übrigen wird das Revisionsvorbringen den Anforderungen des § 344 StPO gerecht. Insbesondere wird ausreichend vorgetragen, dass das Ausbleiben der Angeklagten entschuldigt gewesen sei.
Die Formalrüge ist begründet. Die Möglichkeit der Verwerfung der Berufung ohne Verhandlung zur Sache beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiter verfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet. Sie dient dem Zweck, den Beschwerdeführer daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht. Dabei ist aber eine enge Auslegung der Vorschrift des § 329 Abs. 1 StPO angebracht, um zu verhindern, dass der grundgesetzlich gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör verkürzt wird. Daraus ergibt sich zunächst, dass der Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung zugunsten des Angeklagten weit ausgelegt werden muss (OLG München VRS 113, 117). Es kommt nicht darauf an, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern auf die wirkliche Sachlage, das heißt darauf, ob der Angeklagte entschuldigt ist (BGH NJW 1962, 2020 ff.; OLG Brandenburg, Beschluss vo...