Leitsatz (amtlich)
Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses gem. § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO kann nur ausnahmsweise infolge der Verletzung höherrangigen (Verfassungs-) Rechts, namentlich bei der ungenügenden Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiv willkürlicher Entziehung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfallen. Einfache Rechtsfehler wie das Übersehen einer die Zuständigkeit begründenden Rechtsnorm rechtfertigen die Annahme einer objektiv willkürlichen Verweisung demzufolge grundsätzlich nicht. Hinzu kommen muss dafür vielmehr, dass die Verweisung offenbar gesetzwidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft ist, also gleichsam jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt.
Zahlungsansprüche, die ein Energieversorgungsunternehmen ggü. dem Kunden geltend macht, die dieser bisher nicht bezahlt hat, werden von der Zuständigkeitsregelung des § 102 EnWG nicht erfasst, da hier nicht der Anspruch auf Grundversorgung Streitgegenstand ist.
Eine Verweisung, die auf eine auch von anderen AG und LG sowie in der Literatur vereinzelt vertretene weite Auslegung des § 102 EnWG gestützt wird, die auch auf der Grundlage des Gesetzeswortlautes jedenfalls nicht als schlechthin unvertretbar und willkürlich angesehen kann, erscheint weder offenbar gesetzwidrig noch grob rechtsfehlerhaft.
Normenkette
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 281 Abs. 2 S. 4; EnWG § 102
Verfahrensgang
AG Oranienburg (Aktenzeichen 23 C 212/09) |
LG Neuruppin (Aktenzeichen 6 O 87/10) |
Tenor
Zuständig ist das LG Neuruppin.
Gründe
I. Die Klägerin, ein Versorgungsunternehmen, nimmt den Beklagten auf Zahlung von 389 EUR nebst Zinsen für die Lieferung von Gas und Strom in Anspruch. Der Beklagte macht geltend, dass die der Forderung zugrunde liegenden Preiserhöhungen unbillig und daher unwirksam seien. Die Klägerin stützt sich auf das in § 4 Abs. 2 AVBGasV bzw. § 5 Abs. 2 GasGVV geregelte Preisanpassungsrecht und vertritt außerdem die Auffassung, dass die Preisanpassungen der Billigkeit entsprechen würden.
Mit Verfügung vom 26.8.2010 hat das AG Oranienburg darauf hingewiesen, dass gem. § 102 Abs. 1 EnWG das LG Neuruppin ausschließlich sachlich zuständig sei. Die Klägerin hat mit ihrem Schriftsatz vom 17.9.2010 dieser Rechtsauffassung widersprochen, jedoch hilfsweise einen Antrag auf Verweisung an das LG Neuruppin - Kammer für Handelssachen - gestellt. Der Beklagte hat sich der Auffassung des Gerichts mit Schriftsatz vom 24.9.2010 angeschlossen. Daraufhin hat sich das AG Oranienburg mit Beschluss vom 27.9.2010 für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an die Kammer für Handelssachen des LG Neuruppin verwiesen. Mit Beschluss vom 28.1.2011 hat sich das LG Neuruppin seinerseits für unzuständig erklärt und die Sache zur Entscheidung über die Zuständigkeit dem OLG Brandenburg vorgelegt.
II.1. Der Zuständigkeitsstreit ist gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO durch das Brandenburgische OLG zu entscheiden, weil es für die am Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichten das zunächst höhere gemeinschaftliche Gericht ist.
2. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO liegen vor. Sowohl das AG Oranienburg als auch das LG Neuruppin haben sich i.S.v. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO rechtskräftig für sachlich unzuständig erklärt, ersteres durch nach § 281 Abs. 2 Satz 2 ZPO unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 27.9.2010 und letzteres durch den seine Zuständigkeit abschließend verneinenden Vorlagebeschluss vom 28.1.2011, der als solcher den Anforderungen genügt, die an das Merkmal "rechtskräftig" i.S.v. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind, weil es insoweit allein darauf ankommt, dass eine den Parteien bekannt gemachte beiderseitige Kompetenzleugnung vorliegt (statt vieler OLG Brandenburg NJW 2004, 780; Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 36 Rz. 24 f.).
3. Zuständig ist das LG Neuruppin.
Seine Zuständigkeit folgt aus der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses des AG Oranienburg vom 27.9.2010 (§ 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO). Aufgrund der klaren gesetzlichen Regelung des § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO kann die Bindungswirkung nur ausnahmsweise infolge der Verletzung höherrangigen (Verfassungs-) Rechts, namentlich bei der ungenügenden Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) oder bei objektiv willkürlicher Entziehung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entfallen. Im Interesse einer baldigen Klärung der Gerichtszuständigkeit und der Vermeidung von wechselseitigen (Rück-)Verweisungen ist die Willkürschwelle hoch anzusetzen. Einfache Rechtsfehler wie das Übersehen einer die Zuständigkeit begründenden Rechtsnorm rechtfertigen die Annahme einer objektiv willkürlichen Verweisung demzufolge grundsätzlich nicht. Hinzu kommen muss dafür vielmehr, dass die Verweisung offenbar gesetzwidrig oder sonst grob rechtsfehlerhaft ist, also gleichsam jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt (statt vieler OLG Brandenburg JMBl. 2007, 65, 66; NJW 2006, 3444 [3445]; MDR 2006, 1184; NJW 2004, 780; eingehend ferner Tombrink NJW 2003, 2364 [2...