Verfahrensgang

AG Neuruppin (Entscheidung vom 09.06.2022; Aktenzeichen 82.1 OWi 3429 Js-OWi 26100/21 (235/21)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Neuruppin vom 09. Juni 2022 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Neuruppin zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Der Zentraldienst der Polizei des Landes Brandenburg - Zentrale Bußgeldstelle - verhängte mit Bescheid vom 17. Mai 2021 gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 45 km/h ein Bußgeld in Höhe von 160,00 € und - unter Einräumung der Gestaltungsmöglichkeit des § 25 Abs. 2a StVG - ein einmonatiges Fahrverbot. Die Zentrale Bußgeldstelle wirft dem Betroffenen vor, am ... April 2021 um xx:xx Uhr mit dem Pkw, amtliches Kennzeichen: ..., die Bundesautobahn A ... zwischen Kilometer ... und der Anschlussstelle N... mit einer Geschwindigkeit von - nach Toleranzabzug - 105 km/h befahren zu haben, obwohl die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h beschränkt gewesen sei.

Gegen diesen Bußgeldbescheid legte der Betroffene über seinen Verteidiger form- und fristgerecht Einspruch ein. Das Amtsgericht Neuruppin setzte daraufhin Hauptverhandlungstermin auf den 28. April 2022 an. Auf Antrag des Verteidigers, der sich am Terminstag in einer Fortbildungsveranstaltung befinden wollte, verlegte das Amtsgericht den Termin auf den 01. Juni 2022. Aufgrund einer bereits für diesen Tag erfolgten Ladung zu einem Termin vor dem Landgericht Berlin beantragte der Verteidiger des Betroffenen erneut Terminsverlegung. Das Amtsgericht Neuruppin verlegte den Termin daraufhin auf den 09. Juni 2022.

Am 08. Juni 2022 um 11:05 Uhr ging per besonderem Anwaltspostfach (beA) ein neuerlicher Terminsverlegungsantrag des Verteidigers bei dem Amtsgericht ein. Dieser berief sich auf einen grippalen Infekt, der zu seiner Reise- und Verhandlungsunfähigkeit führe. Über diesen Antrag entschied das Bußgeldgericht nicht.

Im Hauptverhandlungstermin vom 09. Juni 2022 erschienen weder der Betroffene noch sein Verteidiger. Das Amtsgericht verwarf den Einspruch daraufhin gemäß § 74 Abs. 2 OWIG und führte in seinem Urteil aus, der Betroffene sei dem Termin trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben und auch nicht durch einen mit Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden. Die Erkrankung des Verteidigers sei nicht glaubhaft gemacht worden, überdies habe es sich um den dritten Verlegungsantrag der Verteidigung in Folge gehandelt. Der Betroffene sei von seiner Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht entbunden worden.

Gegen dieses ihm am 13. Juni 2022 zugestellte Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner am 16. Juni 2022 bei Gericht angebrachten Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Auf die Information seines Verteidigers, er müsse wegen dessen Erkrankung nicht zu dem Termin erscheinen, habe er vertrauen dürfen. Über die - erfolgte - anwaltliche Versicherung hinaus habe sein Verteidiger die Erkrankung nicht glaubhaft machen müssen. Zudem fehle es an einer Entscheidung des Amtsgerichts über den Verlegungsantrag.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, die Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen. Der Betroffene hatte Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu.

II.

1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 79 Abs. 1 Ziff. 2 OWiG statthaft und entsprechend §§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 341, 344, 345 StPO form- und fristgerecht bei Gericht angebracht worden, sonach zulässig.

2. In der Sache hat sie - vorläufig - Erfolg. Das angefochtene Urteil kann keinen Bestand haben. Die von dem Betroffenen erhobene Verfahrensrüge, mit der er den Verstoß gegen das Recht beanstandet, sich in der Hauptverhandlung durch einen gewählten Verteidiger vertreten zu lassen (Art. 6 Abs. 3 lit. c MRK, §§ 46 Abs. 1 OWiG, 137 StPO), greift durch.

Diese gegen das Verfahren gerichtete Rüge ist insoweit zulässig und begründet, als das nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangene Verwerfungsurteil gegen die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts verstößt. Der Betroffene durfte nicht darauf verwiesen werden, ohne seinen Verteidiger an der Hauptverhandlung vom 09. Juni 2022 teilnehmen zu müssen.

Auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren hat der Betroffene als Ausdruck des Anspruchs auf ein faires Verfahren das Recht, sich in der Hauptverhandlung durch einen gewählten Verteidiger vertreten zu lassen (Art. 6 Abs. 3 lit. c MRK, §§ 46 Abs. 1 OWiG, 137 StPO). Gleichwohl hat selbst im Strafverfahren nicht jede Verhinderung des gewählten Verteidigers zur Folge, dass eine Hauptverhandlung gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden kann (vgl. BGH NStZ 2019, 527; KG, Beschluss vom 08. Februar 2021, 3 Ws (B) 26/21, Rz. 10, Juris; Senat, Beschluss vom 27. Dezember 2019, (1 B) 53 Ss-OWi 642/19 (374/19), Juris). Maßgeblich ist, ob die prozessuale Fürsorgepflicht des...

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