Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichterscheinen des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin (§ 412 StPO). Verwerfung des Einspruchs (§ 329 StPO) mit Vorrang vor Haftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO)

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 412 StPO verweist für den Fall, dass der Angeklagte bei Beginn der auf den Einspruch gegen einen Strafbefehl anberaumten Hauptverhandlung weder erschienen noch durch einen Verteidiger vertreten ist, auf die Anwendung des § 329 Abs. 1, 3 und 4 StPO.

2. a)Zwar ist gemäß § 329 Abs. 4 StPO der Erlass eines Haftbefehls zulässig, jedoch steht es nicht im Ermessen des Gerichts, ob es nach § 329 Abs. 4 StPO einen Haftbefehl erlassen oder nach § 329 Abs. 1 die Berufung bzw. den Einspruch verwerfen will.

b) Die Regelung des § 329 Abs. 1 StPO hat Vorrang. Es ist nicht Sache des Gerichts, dem Angeklagten Gelegenheit zur Durchführung einer Hauptverhandlung mithilfe eines hierfür nicht vorgesehenen Zwangsmittels zu verschaffen.

c) Vielmehr ist das Verfahren in solchen Fällen dadurch abzuschließen, dass der Einspruch des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache verworfen wird.

d) Das Gericht muss nach §§ 412, 329 Abs. 1 StPO verfahren, wenn dies möglich ist (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. Februar 1982 - 3 Ws 7/82 -, zitiert nach Beck-Online m.w.N.; Meyer-Goßner, StPO, 54. Auflage, § 412 Rnr. 7 und § 329 Rnr. 45 jeweils m.w.N.; KK-Paul, StPO, 6. Auflage, § 329 Rnr. 20 m.w.N.).

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Verteidiger bedarf zur Vertretung des Angeklagten in der Hauptverhandlung über den Einspruch gegen einen Strafbefehl einer besonderen schriftlichen Vollmacht (§ 411 Abs. 2 StPO); die Pflichtverteidigerbestellung reicht nicht aus.

 

Verfahrensgang

AG Potsdam (Entscheidung vom 12.05.2011; Aktenzeichen 81 Ds 450 Js 16476/06 (585/09))

 

Tenor

Auf die weitere Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Potsdam vom 12. Mai 2011 - 81 Ds 450 Js 16476/06 (585/09) - aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.

 

Gründe

I. Die Staatsanwaltschaft Potsdam hat dem Beschwerdeführer mit Anklageschrift vom 3. November 2009 die Begehung eines versuchten Diebstahls vorgeworfen. Er soll in der Nacht vom 22. März 2006 zum 23. März 2006 in ... gemeinsam mit zwei Mittätern einen auf dem Betriebsgelände der Firma .... abgestellten Container aufgebrochen haben, um darin befindliche Baumaterialien zu stehlen.

Das Amtsgericht Potsdam hat die Anklage mit Eröffnungsbeschluss vom 15. Februar 2010 zur Hauptverhandlung vor dem Strafrichter zugelassen. Zuvor hatte es bereits durch Beschluss vom 12. Januar 2010 dem Beschwerdeführer auf dessen Antrag dessen bisherigen Wahlverteidiger als Pflichtverteidiger beigeordnet. Zum Hauptverhandlungstermin vom 29. Juni 2010 erschien der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ging das Amtsgericht Potsdam gemäß § 408a StPO in das Strafbefehlsverfahren über und verhängte gegen den Beschwerdeführer eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Gegen den Strafbefehl hat der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers form- und fristgerecht Einspruch eingelegt. Am 30. November 2010 fand daraufhin ein Hauptverhandlungstermin statt, dessen Ablauf für den Senat nicht sicher feststellbar ist. In den Akten befindet sich lediglich ein von der zuständigen Richterin nicht unterschriebener Protokollentwurf, nachdem der Beschwerdeführer zur Hauptverhandlung erschienen war. Andererseits wurde die ordnungsgemäße Ladung des Angeklagten festgestellt und die Hauptverhandlung ohne Verhandlung zur Sache ausgesetzt, was - ebenso wie der Umstand dass die Staatsanwaltschaft nur eine Woche später den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 230 StPO beantragte - dafür spricht, dass der Beschwerdeführer nicht zur Hauptverhandlung erschienen war. Jedenfalls fand am 12. Mai 2011 ein neuer Hauptverhandlungstermin statt, zu dem der Beschwerdeführer trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen ist, obwohl sein persönliches Erscheinen gemäß § 236 StPO angeordnet worden war. Sein Pflichtverteidiger war in der Hauptverhandlung anwesend, hat jedoch ausdrücklich keine Anträge gestellt. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht Potsdam den hier verfahrensgegenständlichen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassen.

Gegen den Haftbefehl hat der Pflichtverteidiger des Beschwerdeführers Beschwerde eingelegt. Er macht geltend, er sei in der Hauptverhandlung nicht gefragt worden, ob er für den Angeklagten vertretungs- und verhandlungsberechtigt sei oder nicht. Ersterenfalls hätte zur Sache verhandelt werden müssen, letzterenfalls hätte der Einspruch gegen den Strafbefehl verworfen werden können. Ein Haftbefehl hätte nicht erlassen werden dürfen.

Das Landgericht Potsdam hat die Beschwerde mit Beschluss vom 28. Juni 2011 als unbegründet verworfen. Für den Erlass eines Strafbefehls gemäß § 408a StPO sei kein Raum gewesen, da die Staatsanwaltschaft in der Sitzu...

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