Leitsatz (amtlich)
1. Die Rüge, es stehe zu vermuten, dass der für den Zuschlag vorgesehene Bieter die nach dem Brandenburgischen Vergabegesetz erforderliche Erklärung nicht eingereicht habe, erfolgt nicht "ins Blaue" hinein, wenn der Auftraggeber nach Angebotswertung Anlass zu Misstrauen dahin gibt, dass er einseitig kalkulationsrelevante Anforderungen fallen gelassen habe, ohne allen Bietern Gelegenheit zur Anpassung zu geben.
2. Die Rüge, das Angebot eines Konkurrenten - weil es sich in zwei dünnen Umschlägen und nicht in mehreren prall gefüllten Ordnern befinde - müsse aufgrund des geringen Umfangs unvollständig sein, stellt dagegen eine Rüge "ins Blaue" dar.
3. Für ein mit den wichtigsten Regeln der öffentlichen Auftragsvergabe vertrautes Unternehmen war erkennbar, dass das Brandenburgische Vergabegesetz auf solche Vergabeverfahren keine Anwendung findet, die vor dem 1.1.2012 eingeleitet worden sind. Ein solches Unternehmen, das die mangelnde Geltung dieses Gesetzes für das Vergabeverfahren nicht bis zum Ablauf der Frist zur Angebotsabgabe rügt, kann sich auf die fehlende Verpflichtung zur Einreichung einer Erklärung nicht berufen, durch die sich die Bieter verpflichten, ihren Beschäftigten ein Arbeitnehmerbruttogehalt von mindestens 8 EUR pro Arbeitsstunde zu zahlen.
4. Weist ein Auftraggeber darauf hin, dass bei fehlender Unterschrift auf einem mit dem Angebot einzureichenden Formular das Angebot als unvollständig gelte, muss im Geltungsbereich der VOB/A 2009 ein Bieter nicht mit dem Ausschluss seines Angebotes rechnen, wenn er dieses Formular nicht mit seinem Angebot einreicht. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass der Auftraggeber dieses bei ihm nachfordern werde.
5. Der Auftraggeber ist berechtigt, das Verzeichnis der Leistungen anderer Unternehmer, Erklärungen bzw. Nachweise betreffend die Leistung und Eignung der vorgesehenen Nachunternehmer und eine Erklärung zur Verhinderung von Schwarzarbeit nachzufordern für den Fall, dass diese Unterlagen dem Angebot nicht beigefügt waren.
Normenkette
GWB § 97 Abs. 4 S. 3, § 107 Abs. 3; BbgVergG § 3 Abs. 3, § 15 S. 1; VOB/A 2009 § 16 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
Vergabekammer des Landes Brandenburg (Aktenzeichen VK 10/12) |
Tenor
Das Nachprüfungsverfahren ist in der Hauptsache erledigt.
Die Gebühren und Auslagen des Verfahrens vor der Vergabekammer haben die Antragstellerin zu 2/3 und die Auftraggeberin zu 1/3 zu tragen. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen der Antragstellerin hat die Auftraggeberin zu 1/3, diejenigen der Auftraggeberin hat die Antragstellerin zu 2/3 zu tragen. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin und der Auftraggeberin im Verfahren vor der Vergabekammer wird für notwendig erklärt.
Die Kosten des Verfahrens nach § 118 GWB (Gerichtskosten und notwendige Aufwendungen der Antragstellerin) trägt die Auftraggeberin allein.
Von den weiteren Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens tragen die Antragstellerin ½, die Auftraggeberin und die Beigeladene je ¼. Eine Erstattung der notwendigen Aufwendungen der Beteiligten im Übrigen findet nicht statt.
Gründe
I. Die Auftraggeberin schrieb mit europaweiter Bekanntmachung vom 13.12.2011 im Supplement zum Amtsblatt der Europäischen Union den Ausbau der N.-Straße ... in P. - Nutzungsabschnitt 2.2 B - Teil 1 im offenen Verfahren nach VOB/A aus. Wesentlicher Leistungsinhalt sind u.a. 65 000 m3 Erd- und Oberbodenarbeiten, 21 500 m2 Fahrbahnerneuerung, 1 Brückeninstandsetzung, 1 Brückenneubau, 270 m Stützwände und 1 400 m2 Lärmschutz. Der geschätzte Auftragswert ohne Mehrwertsteuer betrug 11,3 bis 11,5 Mio. EUR. Termin für die Eröffnung der Angebote war der 7.2.2012.
Nach dem Aufforderungsschreiben zur Angebotsabgabe waren folgende Unterlagen mit dem Angebot einzureichen:
- Angebotsschreiben
- Leistungsbeschreibung - Kurzfassung -
- Anlagen für Bietereintragung
- Verzeichnis der Leistungen anderer Unternehmer
- Verpflichtungserklärung Leistungen anderer Unternehmer
- nur für Bietergemeinschaften: Erklärung Bieter-/Arbeitsgemeinschaft
Die Angebote waren ausschließlich schriftlich einzureichen, alle Eintragungen mussten dokumentenecht sein.
Der Zuschlag sollte auf das wirtschaftlichste Angebot erfolgen. Zuschlagskriterien waren zu 85 % der Preis und zu 15 % der technische Wert.
Mit Schreiben vom 9.1.2012 und vom 11.1.2012 übersandte das von der Auftraggeberin beauftragte Planungsbüro an alle Bieter zwei Formblätter mit der Bitte, diese ausgefüllt dem Angebot beizufügen. Das eine Formblatt ist überschrieben mit "Vereinbarung zur Einhaltung der Mindestanforderungen nach dem Brandenburgischen Vergabegesetz". Darin heißt es u.a.:
"Die nachstehend aufgeführten Erklärungen sind Bestandteil meines/unseres Angebots: 1. Ich/Wir verpflichte(n) mich/uns, im Fall der Auftragserteilung die in meinem/unserem Unternehmen Beschäftigten nicht unter den für mein/unser Unternehmen geltenden Mindestentgelt-Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes