Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidung über den Zuschlag, Beendigung des Vergabeverfahrens, Rügepräklusion bei Unklarheiten der Vergabeunterlagen, Auswirkung eines Vergaberechtsfehlers auf die Rechtsstellung des Bieters.
Leitsatz (amtlich)
Die Beendigungswirkung nach § 177 GWB greift nur ein, wenn die sachliche Beurteilung eines Vergabefehlers für die Entscheidung des Beschwerdegerichts im Zwischenverfahren nach § 176 GWB entscheidungserheblich war.
Unklarheiten der Vergabeunterlagen begründen nur unter gesteigerten Voraussetzungen eine Rügeobliegenheit nach § 160 Abs. 3 Nr. 2, 3 GWB.
In vergaberechtswidriger Weise nicht mehr eindeutig sind Vergabeunterlagen, wenn fachkundigen Unternehmen auch nach Auslegungsbemühungen mehrere Auslegungsmöglichkeiten verbleiben oder das zutreffende Verständnis der Vergabeunterlagen eine besondere Gesamtschau erfordert, die von den Bietern oder Bewerbern im Vergabewettbewerb erfahrungsgemäß nicht geleistet wird oder nicht geleistet werden kann (Anschluss an OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13. Dezember 2017 - VII Verg 19/17, juris Rn. 60).
Ein Nachprüfungsantrag hat trotz eines festzustellenden Vergaberechtsfehlers nur dann keinen Erfolg, wenn sich dieser Vergaberechtsfehler nicht nachteilig auf die Rechtsstellung des Antragstellers ausgewirkt haben kann.
Normenkette
GWB § 160 Abs. 2-3, § 176 f.
Verfahrensgang
VK Niedersachsen (Beschluss vom 12.07.2021; Aktenzeichen VgK-20/2021) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss der Vergabekammer Niedersachsen beim Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung vom 12. Juli 2021 (Az.: VgK-20/2021) wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die im Beschwerdeverfahren und in dem Verfahren nach § 176 GWB entstanden Gerichtskosten sowie die der Antragstellerin in diesen Verfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen.
Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens sowie des Verfahrens nach § 176 GWB wird auf 505.874,68 EUR festgesetzt.
Gründe
A. Die Parteien streiten in dem vorliegenden Nachprüfungsverfahren insbesondere über die Wirksamkeit des Ausschlusses eines Angebots der Antragstellerin mangels deren Eignung.
Der Antragsgegner hat mit EU-Bekanntmachung vom 8. Januar 2020 einen Bauauftrag über die Errichtung eines Glasfasernetzes - eines sog. FTTB-Netzes - im Gebiet des Antragsgegners im offenen Verfahren ausgeschrieben. Die Ausschreibung erfolgte in verschiedenen Losen. Streitgegenständlich ist hier das Angebot der Antragstellerin auf das Los 2.
Alleiniges Zuschlagskriterium ist der Preis. Nach Nr. III.1.2) lit. d) der Bekanntmachung verlangte der Antragsgegner hinsichtlich des Nachweises der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit eine Erklärung des Bieters über den Umsatz seines Unternehmens; der näher definierte Mindestjahresumsatz betreffend das Los 2 war für das letzte abgeschlossene Geschäftsjahr mit 16.536.891,31 EUR festgelegt. Diesen Mindestumsatz erreichte die Antragstellerin in ihrem Unternehmen nicht.
In den "Angebots-, Bewerbungs- und Vertragsbedingungen" hat der Antragsgegner unter Nr. II.6. festgelegt, dass bei Inanspruchnahme von Subunternehmen
oder der Bildung von Bietergemeinschaften die beteiligten Unternehmen zu benennen und die entsprechenden Eignungsnachweise zu erbringen seien. Insoweit war die Abgabe bestimmter Formblätter vorgesehen. Insbesondere sollte bei einem Einsatz von Nachunternehmen von dem Nachunternehmer "zusätzlich" eine Nachunternehmererklärung "Formblatt Verpflichtungserklärung Nachunternehmer" (Anlage 13_Formblatt 236 [...]) abgegeben werden. Nach Nr. II.9.3. dieser Bedingungen sind Angebote auszuschließen, bei denen der Bieter Erklärungen oder Nachweise, deren Vorlage sich der öffentliche Auftraggeber vorbehalten hat, auf Anforderungen nicht innerhalb einer angemessenen Frist vorgelegt hat.
Für die Nutzung der Kapazitäten anderer Unternehmen enthielten die Teilnahmebedingungen nach dem Formblatt 212 EU folgende Bestimmung:
"6 Kapazitäten anderer Unternehmen (Unteraufträge, Eignungsleihe)
Beabsichtigt der Bieter, Teile der Leistung von anderen Unternehmen ausführen zu lassen (...), so muss er die hierfür vorgesehenen Leistungen/Kapazitäten in seinem Angebot benennen. Der Bieter hat auf gesondertes Verlangen der Vergabestelle zu einem von ihr bestimmten Zeitpunkt nachzuweisen, dass ihm die erforderlichen Kapazitäten der anderen Unternehmen zur Verfügung stehen und diese Unternehmen geeignet sind. Er hat den Namen, den gesetzlichen Vertreter sowie die Kontaktdaten dieser Unternehmen anzugeben und entsprechende Verpflichtungserklärungen dieser Unternehmen vorzulegen.
Nimmt der Bieter in Hinblick auf die Kriterien für die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit im Rahmen einer Eignungsleihe die Kapazitäten anderer Unternehmen in Anspruch, müssen diese gemeinsam für die Auftragsausführung haften; die Haftungserklärung ist gleichzeitig mit der 'Verpflichtungserklärung' abzugeben. (...)"
Den Vergabeunterlagen war als Anlage ...