Leitsatz (amtlich)
1. Zur baulandgerichtlichen Kontrolle bebauungsplanakzessorischer Administrativenteignungen.
2. In Fällen, in denen der Bebauungsplan nicht Gegenstand einer Entscheidung in Normenkontrollverfahren war, haben die Baulandgerichte im Rahmen der Enteignungsvoraussetzungen des §§ 85 Abs. 1 Nr. 1 BauGB eine Inzidentkontrolle der bauplanerischen Entscheidungen des Bebauungsplans vorzunehmen. Auf entsprechende Rüge hin gehört hierzu auch die Prüfung der Abwägung zu in Frage kommenden Planungsalternativen (hier: Führung einer Erschließungsstraße).
3. Auf der Ebene der Enteignungsentscheidung nach § 87 Abs. 1 Satz 1 BauGB bedarf es insoweit keiner erneuten eigenständigen Alternativprüfung über die Erforderlichkeit der Inanspruchnahme des Grundstücks des von der Enteignung Betroffenen, als sie von der Gemeinde im Rahmen ihrer bauplanerischen Abwägungsentscheidung in den Bebauungsplan bereits vorgenommen wurde und diese im Rahmen einer gerichtlichen (Inzident-) Kontrolle nicht zu beanstanden ist.
Normenkette
GG Art. 14 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, Art. 28 Abs. 2; BauGB § 1 Abs. 7, § 1a Abs. 2 S. 1, § 9 Abs. 1 Nr. 10, §§ 11, 30 Abs. 1, § 85 Abs. 1 Nr. 1, § 86 Abs. 1 Nr. 1, § 87 Abs. 1, §§ 2, 112 Abs. 1, § 113 Abs. 2 Nr. 1, § 123 Abs. 1, § 214 Abs. 3 S. 1, §§ 215, 217 Abs. 1 S. 1, § 221 Abs. 1 S. 1, § 222 Abs. 1, § 229; VwGO § 42 Abs. 2; WEG § 1 Abs. 2-3, 5, § 10 Abs. 1
Verfahrensgang
LG Neuruppin (Urteil vom 14.06.2013; Aktenzeichen 8 O 9/12) |
Tenor
Die Berufungen der Beteiligten zu 2.) bis 7.), 10.) bis 16.), 23.) 24.), 32.), 37.) und 40.) gegen das am 14.6.2013 verkündete Urteil des LG Neuruppin - 8 O 9/12 - werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beteiligten zu 2.) bis 7.), 10.) bis 16.), 23.), 24.), 32.), 37.) und 40.) zu tragen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beteiligten zu 43.), der diese selbst trägt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Den Beteiligten zu 2.) bis 7.), 10.) bis 16.), 23.) bis 24.), 32.), 37.) und 40.) wird nachgelassen, die gegen sie gerichtete Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Gläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Gegenstand des Baulandverfahrens ist eine bebauungsplanakzessorische Administrativenteignung. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Enteignungs- und Entschädigungsfestsetzungsbeschlusses im Wege der Vorabentscheidung, mit dem das Eigentum an einer Teilfläche eines privaten Grundstücks zugunsten der Gemeinde entzogen werden soll, zu dem Zweck der Erschließung von anderen im Innenbereich eines Straßenviertels gelegener Grundstücke durch eine Verkehrsfläche entsprechend der Festsetzungen eines Bebauungsplanes.
Die Beteiligte zu 1.) ist die Wohnungseigentümergemeinschaft der Wohnanlage "...". Die Beteiligten zu 2.) bis 41.) sind Wohnungseigentümer in der Anlage und Miteigentümer des gemeinschaftlichen Eigentums. Zu dem gemeinschaftlichen Eigentum gehört das Grundstück Gemarkung P., Flur..., Flurstück... Auf dem 5294 m2 großen Flurstück ist die Wohnanlage mit fünf Gebäuden errichtet worden, die gemischt als Wohn- und Geschäftsgebäude mit 53 Wohn- bzw. Gewerbeeinheiten genutzt werden. Auf dem Grundstück befinden sich weiterhin 19 Kfz-Stellplätze und unbebaute Grundstücksflächen. Am südöstlichen Rand des Flurstückes befindet sich die Böschung zu einem Hochwasserschutzgraben, durch den das Wasser von einem See abfließt.
Die Beteiligte zu 42.) ist eine Gemeinde. Zu ihren Gunsten soll die Enteignung erfolgen. Der Beteiligte zu 43.) ist die Enteignungsbehörde.
Die Gemeindevertretung der Beteiligten zu 42.) beschloss am 19.3.1998 den Bebauungsplan "...", dessen Genehmigung am 1.1.2001 im Amtsblatt der Gemeinde bekannt gemacht wurde. Planziel war die Sicherung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung in dem zentralen - in der Nähe einer S-Bahnlinie gelegenen - Bereich des Ortsteils P. und die Schaffung von Bebauungsmöglichkeiten im hinteren Grundstücksbereich des aus den Straßen E., J.-, Br.- und T.-straße gebildeten Straßenviertels bei städtebaulich "sinnvoller Erschließung" zur Deckung eines dringenden Wohnbedarfs der Bevölkerung. Der Bebauungsplan setzt auf dem damals noch unbebauten Grundstück der Beteiligten zu 2.) bis 41.) ein Mischgebiet und entlang des südlichen Randes des Flurstücks... eine von der Bebauung freizuhaltende Fläche fest. Hierdurch soll der Hochwasserschutzgraben beiderseitig 5 m von der Böschungsgrenze entfernt von einer Bebauung freigehalten werden. Im nordöstlichen Teil des Grundstücksbereichs des Bebauungsplans wurde ein reines Wohngebiet festgesetzt, wobei auch auf den hinteren, bislang nicht an Straßen gelegenen Grundstücken die Errichtung und Nutzung von Wohngebäuden, deren nähere Anordnung durch Baugrenzen festgelegt wurde, ermöglicht wurde. Zur Erschließung von insgesamt sieben Grundstücken im Inneren, nordwestlichen Te...