Leitsatz (amtlich)
I. Ein Assistenzarzt darf auf die vom Facharzt angeordneten Maßnahmen vertrauen, sofern nicht für ihn erkennbare Umstände hervortreten, die ein solches Vertrauen nicht gerechtfertigt erscheinen lassen. Der nachgeordnete Arzt haftet daher nur bei einem allein von ihm zu verantwortenden Verhalten. Wurde die Schädigung durch ein Unterlassen begangen, bedarf es Vortrags dazu, ob und inwieweit der Facharzt ggü. dem nachgeordneten Arzt etwaige Anweisungen zur (Nicht-)Vornahme von medizinisch gebotenen Befunderhebungen erteilt hat.
II. Bei einem groben Befunderhebungsfehler bei der Geburt, bei der es zu einer Überbeatmung und damit zur Sauerstoffunterversorgung des Neugeborenen gekommen ist, die zur Schädigung des Gehirns geführt hat, ist ein Schmerzensgeld i.H.v. 275.000 EUR angemessen.
III. Bei der Bemessung des für die Pflege in Ansatz zu bringenden Zeitaufwandes sind die Feststellungen der Pflegekasse gem. § 18 Abs. 1 SGB XI zugrunde zu legen. Diese stellen eine verlässliche Grundlage für die Feststellung des auch im Rahmen der §§ 249, 843 Abs. 1 BGB zu ersetzenden Mehrbedarfs dar.
Normenkette
BGB § 823 Abs. 1, §§ 831, 249, 843
Verfahrensgang
LG Potsdam (Urteil vom 26.02.2009; Aktenzeichen 11 O 2/01) |
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 26.2.2009 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des LG Potsdam, Az. 11 O 2/01, teilweise abgeändert.
Die Beklagten werden verurteilt, an die Klägerin als Gesamtschuldner ein Schmerzensgeld i.H.v. 275.000 EUR nebst Zinsen i.H.v. 4 % seit dem 1.3.2000 zu zahlen.
Die Beklagten werden weiter verurteilt, an die Klägerin als Gesamtschuldner Schadensersatz i.H.v. 67.689,93 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten auf 2.130,56 EUR seit dem 25.6.2003, auf weitere 4.540 EUR seit dem 1.9.2004 sowie auf weitere 61.019,37 EUR seit dem 14.8.2008 zu zahlen.
Die Beklagten werden weiter verurteilt, an die Klägerin als Gesamtschuldner ab dem 1.8.2008 eine monatliche Mehrbedarfsrente i.H.v. 615 EUR zu zahlen. Die Rente ist zahlbar vierteljährlich im Voraus, jeweils zum 1.2., 1.5., 1.8. und 1.11. eines Jahres bis zum 1.8.2015.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin als Gesamtschuldner alle aus der Fehlbehandlung nach ihrer Geburt am 21.4.1997 im Haus der Beklagten zu 3.) zukünftig entstehenden materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, soweit die jeweiligen Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu ¼ und die Beklagten zu ¾.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien dürfen die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die jeweils andere Partei zuvor Sicherheit i.H.v. 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die minderjährige Kl. begehrt von den Bekl. Schmerzensgeld, Schmerzensgeldrente, Schadensersatz und eine Mehrbedarfsrente sowie die Feststellung des Ersatzes künftiger materieller und immaterieller Schäden wegen einer fehlerhaften Behandlung im Hause der Bekl. zu 3). Der Bekl. zu 1) war Stationsärztin, der Bekl. zu 2) Chefarzt der Station für Kinder- und Jugendmedizin im Haus der Bekl. zu 3).
Die Kl. wurde am 21.4.1997 gegen 14.49 Uhr im Haus der Bekl. zu 3) mittels Kaiserschnitt als zweites Kind nach ihrem Bruder geboren. Der Zustand der Kl. nach der Geburt war gut. Da sie eine Frühgeburt und Zwillingsgeburt war, wurde sie 15 Minuten nach der Geburt auf die neonatologische Station verlegt. Bei der Aufnahme "knorkste" die Kl., weshalb eine Atemschwäche oder -störung vermutet wurde. Gegen 18 Uhr wurde eine Blutgasanalyse aus venös gewonnenem Blut durchgeführt. Gegen 19 Uhr wurde die Kl. intubiert. Die Kl. wurde 21 Stunden lang mit einem Atemzugsvolumen von 20-24 ml und danach von 16-18 ml beatmet. Am 22.4.1997 wurde um 6 Uhr eine weitere Blutgasanalyse durchgeführt. Um 13 Uhr erlitt die Kl. einen Krampfanfall. Aufgrund einer Sauerstoffunterversorgung bildete sich bei der Kl. eine linksseitige spastische Lähmung, die zu einer Störung der Grobmotorik, der Feinmotorik und der Sprache führte.
Bei der Kl. besteht eine ausgeprägte spastisch-kinetische doppelte Hemiparese links, eine Hüftdysplasie, eine leichte mentale Retardierung und eine universelle Dyslalie sowie Störungen in der Zungen- und Lippenkoordination und Dysphonie. Die Kl. befindet sich in ständiger physiotherapeutischer Behandlung. Sie muss sich regelmäßig einer schmerzhaften Spritzenkur mit Butolinum unterziehen, um die Spastik zu mindern. Im Jahre 2000 wurde bei der Kl. eine Zungenbandplastik durchgeführt. Sie musste sich zwischen 2002 und 2005 neun stationären Krankenhausaufenthalten zur Behandlung ihrer Spitzfußstellung unterziehen. 2003 wurde sie an der linken Wade und 2004 am linken Oberschenkel operiert.
Die Kl. macht ge...