Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage gem § 160 Abs 2 Nr 1 SGG. Darlegung der Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit. höchstrichterlicher Klärung. ausreichende Anhaltspunkte aus mehreren höchstrichterlichen Entscheidungen

 

Orientierungssatz

Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht sie zwar in der konkreten Fallgestaltung noch nicht ausdrücklich entschieden hat, aber bereits eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

LSG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 30.06.2021; Aktenzeichen L 5 U 90/14)

SG Stralsund (Urteil vom 06.10.2014; Aktenzeichen S 14 U 36/14)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 30. Juni 2021 wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Die Beteiligten streiten in dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit über diverse Geld- und Sachleistungsansprüche des Klägers aufgrund eines Unfalls, den er in Schweden als Arbeitnehmer einer schwedischen Firma erlitten hat.

Die nach erfolglos durchgeführtem Verwaltungsverfahren erhobene Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 6.10.2014). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 30.6.2021).

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache wegen der Gewährung von Verletztenrente und von Leistungen des persönlichen Budgets.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Der Kläger konnte die Beschwerde zwar wirksam auf die Streitgegenstände der Gewährung einer Verletztenrente und von Leistungen aus dem persönlichen Budget beschränken (vgl zB BSG Beschluss vom 30.10.2007 - B 2 U 272/07 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 19 RdNr 3 mwN; Karmanski in Roos/Wahrendorf, SGG, 2. Aufl 2021, § 160 RdNr 24 mwN; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 13g). Die Begründung genügt aber nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) für keinen der Streitgegenstände formgerecht dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit, also Entscheidungserheblichkeit, sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, sog Breitenwirkung, darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 9.8.2022 - B 2 U 23/22 B - juris RdNr 3; BSG Beschluss vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 5; BSG Beschluss vom 4.1.2022 - B 9 V 22/21 B - juris RdNr 5; jeweils mwN).

Diese Anforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung. Sie versäumt es bereits, den vom LSG festgestellten Sachverhalt (§ 163 SGG) und die maßgebliche Verfahrensgeschichte ausreichend darzustellen, obwohl eine verständliche Sachverhaltsschilderung zu den Mindestanforderungen einer Grundsatzrüge gehört (stRspr; zB BSG Beschluss vom 23.2.2022 - B 2 U 197/21 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 29.9.1975 - 8 BU 64/75 - SozR 1500 § 160a Nr 14 S 21, juris RdNr 3; zur Verfassungskonformität dieser Anforderungen vgl zB BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 24.10.2000 - 1 BvR 1412/99 - SozR 3-1500 § 160a Nr 31 S 61, juris RdNr 9 mwN). Hierfür genügt der Vortrag des Klägers schon deshalb nicht, weil die Wiedergabe von Auszügen des Urteils des LSG die verfahrensrechtliche Einbettung des Streitgegenstandes offenlässt. Deshalb kann der Senat zB nicht prüfen, ob die zur Beantwortung gestellte Frage im beabsichtigten Revisionsverfahren überhaupt entscheidungserheblich (klärungsfähig) wäre.

Auch im Übrigen erfüllt die Beschwerdebegründung die Voraussetzungen einer zulässigen Grundsatzrüge nicht. Der Kläger hält folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam:

"Ist § 14 Abs. 2 SGB IX entsprechend anwendbar, wenn der nach Art. 40 S. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit beim Träger des Wohnortes eingereichte, von diesem jedoch nicht an den zuständigen Träger Antrag auf Rente nicht weitergeleitet wurde?"

Der Kläger hat indes die Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit nicht hinreichend dargelegt. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Letzteres bestimmt sich nach dem Gesetzeswortlaut, der Rechtssystematik sowie den Gesetzesmaterialien (zB BSG Beschluss vom 15.8.2022 - B 2 U 147/21 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 27.1.2022 - B 12 R 22/21 B - juris RdNr 9 mwN; BSG Beschluss vom 20.6.2013 - B 5 R 462/12 B - juris RdNr 10; s auch BSG Beschluss vom 4.6.1975 - 11 BA 4/75 - BSGE 40, 40, 42 = SozR 1500 § 160a Nr 4 S 5, juris RdNr 7). Als bereits höchstrichterlich geklärt ist eine Rechtsfrage auch dann anzusehen, wenn das Revisionsgericht sie zwar in der konkreten Fallgestaltung noch nicht ausdrücklich entschieden hat, aber bereits eine oder mehrere höchstrichterliche Entscheidungen ergangen sind, die ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der von der Beschwerde als grundsätzlich herausgestellten Rechtsfrage geben (vgl zB BSG Beschluss vom 9.8.2022 - B 2 U 23/22 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 12.5.2022 - B 2 U 170/21 B - juris RdNr 6 mwN; BSG Beschluss vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 8; BSG Beschluss vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17, juris RdNr 7). Im Hinblick hierauf muss in der Beschwerdebegründung unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG sowie ggf der einschlägigen Rechtsprechung aller obersten Bundesgerichte substantiiert vorgetragen werden, dass zu dem angesprochenen Fragenbereich noch keine Entscheidung vorliege oder durch die schon vorliegenden Entscheidungen die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet sei (stRspr; zB BSG Beschluss vom 9.8.2022 - B 2 U 23/22 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 12.5.2022 - B 2 U 170/21 B - juris RdNr 6 mwN; BSG Beschluss vom 16.3.2022 - B 2 U 164/21 B - juris RdNr 13; BSG Beschluss vom 6.1.2022 - B 5 LW 1/21 B - juris RdNr 10; BSG Beschluss vom 23.4.2021 - B 13 R 67/20 B - juris RdNr 7 mwN).

Dem wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Es fehlt an substanzieller Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen für eine Analogie. Der Kläger hätte darlegen müssen, welche Rechtsgrundsätze es für die Feststellung einer Regelungslücke gibt und inwieweit diese angesichts des vorliegenden Verfahrens einer weiteren Ausgestaltung und Fortentwicklung bedürfen. Ebenso hätte es der Auseinandersetzung mit dem Anwendungsbereich der nationalen Regelung des § 14 Abs 2 SGB IX und seiner Übertragbarkeit auf einen grenzüberschreitenden Sachverhalt vor dem Hintergrund des koordinierenden Sozialrechts und insbesondere der VO (EG) Nr 883/2004 und VO (EG) Nr 987/2009 bedurft. Auch hierzu enthält der Beschwerdevortrag nichts.

Darüber hinaus fehlt es an hinreichenden Ausführungen zur Klärungsfähigkeit. Nach seinem Vortrag in der Beschwerdebegründung hat der Kläger von Anfang an Leistungen von der Beklagten und gerade nicht vom schwedischen Versicherungsträger begehrt. Insoweit hätte sich die Beschwerdebegründung näher mit den Voraussetzungen einer Zuständigkeit der Beklagten durch pflichtwidriges Unterlassen einer Weiterleitung an den zuständigen Träger auseinandersetzen müssen. Unabhängig davon hätte der Kläger konkret darlegen müssen, dass ihm im Fall der Bejahung einer Analogie die begehrten Leistungen auch zu gewähren, mithin deren Voraussetzungen erfüllt wären. Die bloße Behauptung, der Kläger habe den geltend gemachten Anspruch, wenn die Frage bejaht werde, reicht hierfür nicht aus.

2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

Roos                Karmanski                Karl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15554536

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