Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung. Einzelfall

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung muss eine vom Einzelfall losgelöste (abstrakt-generelle) Frage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Vorschrift mit höherrangigem Recht aufwerfen, was nicht der Fall ist, wenn die gestellte Frage auf die Besonderheiten des Einzelfalls abzielt.

2. Die Rechtsanwendung im Einzelfall kann von vornherein nicht zulässig mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen werden.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 162, 169 Sätze 2-3

 

Verfahrensgang

SG Braunschweig (Entscheidung vom 17.08.2020; Aktenzeichen S 61 SB 570/19)

LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 09.09.2022; Aktenzeichen L 10 SB 96/20)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 9. September 2022 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten über den Entzug des Merkzeichens H (Hilflosigkeit).

Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 9.7.2003 bei der im Jahr 2000 geborenen Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H fest. Zugrunde lag die Funktionsbeeinträchtigung "spastische, armbetonte Halbseitenlähmung rechts".

Einen Neufeststellungsantrag der Klägerin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 28.11.2006 mit der Begründung ab, es verbleibe bei der mit Bescheid vom 9.7.2003 getroffenen Feststellung.

Nach Anhörung der Klägerin hob der Beklagte mit Bescheid vom 4.3.2019 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2019) den Bescheid vom 28.11.2006 teilweise insoweit auf, als er das Merkzeichen H ab dem 1.4.2019 entzog.

Das SG hat den Bescheid vom 4.3.2019 aufgehoben, weil der Beklagte es versäumt habe, darin auch den Ausgangsbescheid vom 9.7.2003 aufzuheben. Eine Umdeutung des Aufhebungsbescheids vom 4.3.2019 nach § 43 SGB X komme nicht in Betracht (Gerichtsbescheid vom 17.8.2020).

Das LSG hat den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Klage gegen den Aufhebungsbescheid des Beklagten vom 4.3.2019 abgewiesen. Wie dessen Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont ergebe, habe der Beklagte unzweifelhaft das Merkzeichen H für die Zukunft entziehen und damit auch den Ausgangsbescheid vom 9.7.2003 aufheben wollen. Zumindest müsse der Bescheid vom 4.3.2019 nach § 43 SGB X in eine Teilaufhebung des Bescheids vom 9.7.2003 umgedeutet werden. Im Übrigen ergebe sich die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 4.3.2019 aus einer wesentlichen Änderung der rechtlichen Verhältnisse im Sinne des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, weil die Klägerin volljährig geworden sei. Mit Beginn ihrer Volljährigkeit seien die Besonderheiten der Beurteilung der Hilflosigkeit von Kindern und Jugendlichen nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen entfallen. Die allgemeinen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens H an Erwachsene erfülle die Klägerin nicht (Urteil vom 9.9.2022).

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Das LSG habe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nicht ordnungsgemäß dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 8.3.2021 - B 9 BL 3/20 B - juris RdNr 14; BSG Beschluss vom 27.8.2020 - B 9 V 5/20 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - juris RdNr 6). Diese Darlegungsanforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung.

Die Klägerin misst der Frage grundsätzliche Bedeutung zu,

"inwieweit das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen bezüglich der fehlenden Aufhebung des Bescheides vom 9.7.2003 für die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu erforschen hat".

Damit und mit den weiteren Ausführungen in der Beschwerdebegründung hat die Klägerin indes schon keine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG bezeichnet. Eine solche Rechtsfrage muss eine vom Einzelfall losgelöste (abstrakt-generelle) Frage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer bestimmten revisiblen Vorschrift (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht aufwerfen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 25.8.2022 - B 5 R 83/22 B - juris RdNr 11). Die von der Klägerin gewählte Formulierung stellt dagegen ausdrücklich den Ausgangsbescheid vom 9.7.2003 in den Mittelpunkt, um dessen Aufhebung die Beteiligten streiten, und zielt damit ersichtlich gerade auf die Besonderheiten ihres Einzelfalls ab. Soweit die Klägerin dabei die Auslegung des Aufhebungsbescheids vom 4.3.2019 und seine - ohnehin nur hilfsweise angesprochene - Umdeutung durch das LSG kritisiert und meint, das Berufungsgericht habe falsch entschieden, wendet sie sich gegen dessen Rechtsanwendung in ihrem Einzelfall. Diese kann aber von vornherein nicht zulässig mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen werden (vgl stRspr; zB BSG Beschluss vom 9.5.2022 - B 9 SB 75/21 B - juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 26.1.2017 - B 9 V 72/16 B - juris RdNr 14).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

2. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter als unzulässig zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Kaltenstein

Ch. Mecke

Röhl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15641124

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