Entscheidungsstichwort (Thema)
Zuständiges Gericht. Negativer Kompetenzkonflikt. Bindungswirkung. Verweisungsbeschluss. Selbstständiger Apotheker. Rückzahlung von Abschlägen. Verschreibungspflichtige Arzneimittel. Rahmenvertrag über die Arzneimittelversorgung. Kassenärztliche Bundesvereinigung
Orientierungssatz
Parallelentscheidung zu dem Beschluss des BSG vom 5.1.2012 - B 12 SF 4/11 S, der vollständig dokumentiert ist.
Normenkette
SGB V §§ 129-130; SGG § 57a Abs. 4, §§ 57, 58 Abs. 1 Nr. 4, § 98 S. 1; GVG § 17a Abs. 2; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Das Sozialgericht Berlin wird zum zuständigen Gericht bestimmt.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger, ein selbstständiger Apotheker, von der beklagten Krankenkasse die Rückzahlung von auf verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel entrichteten Abschlägen in Höhe von 12 575,50 Euro verlangen kann. Diese Fertigarzneimittel hatte er im Jahr 2009 an Versicherte der Beklagten abgegeben. Das angerufene SG Hildesheim hat sich nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 28.2.2011 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Berlin verwiesen: Streitgegenstand sei die Vergütung für Arzneimittel auf der Basis eines auf Bundesebene gemäß § 129 SGB V abgeschlossenen Rahmenvertrags über die Arzneimittelversorgung. Nach § 57a Abs 4 SGG in der ab 1.4.2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 (BGBl I 444) sei auch für das vorliegende Verfahren das SG Berlin örtlich zuständig als das SG, in dessen Bezirk die Kassenärztliche Bundesvereinigung ihren Sitz habe. An dieser Zuständigkeit ändere nichts, dass nach dem Inhalt der Klageschrift nicht unmittelbar Regelungen des nach § 129 SGB V abgeschlossenen Rahmenvertrags streitig seien, sondern die Reduzierung eines Vergütungsanspruchs nach § 130 SGB V. § 57a Abs 4 SGG nF erfasse nämlich alle Streitigkeiten, die aus rechtlichen Beziehungen hervorgingen, welche durch solche Verträge auf Bundesebene begründet würden.
Mit Beschluss vom 16.6.2011 hat sich das SG Berlin ebenfalls nach Anhörung der Beteiligten für örtlich unzuständig erklärt und die Streitsache dem BSG zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt, weil die Verweisung des SG Hildesheim willkürlich sei bzw auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze beruhe und deshalb nicht binde.
II. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem SG Hildesheim und dem SG Berlin berufen, nachdem das SG Hildesheim seine örtliche Zuständigkeit verneint und den Rechtsstreit an das SG Berlin verwiesen hat, dieses Gericht sich jedoch ebenfalls nicht für örtlich zuständig hält, sondern weiterhin das SG Hildesheim mangels Bindungswirkung als zuständig ansieht. Das SG Berlin konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8).
Zum zuständigen Gericht ist das SG Berlin zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Hildesheim vom 28.2.2011 gebunden ist.
Gemäß § 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 GVG ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über die Anwendung von Regelungen über die örtliche Zuständigkeit zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrunde liegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist (gerade) nicht Aufgabe des gemeinsam übergeordneten Gerichts im Verfahren nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG.
Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss nur dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht (stRspr; vgl BSG SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 11, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 15 und SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4, sowie BVerfG Kammerbeschluss vom 19.12.2001, 1 BvR 814/01, NVwZ-RR 2002, 389; zuletzt Beschlüsse des BSG vom 16.9.2009, B 12 SF 7/09 S, vom 10.3.2010, B 12 SF 2/10 S und vom 3.12.2010, B 12 SF 7/10 S). Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung in dem aufgezeigten Zusammenhang dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist, so dass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art 3 Abs 1 GG verletzt (vgl BVerfG, aaO). Für eine abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts in Anwendung dieser strengen Maßstäbe, die das BSG in seiner Rechtsprechung ausgeformt hat, ist vorliegend kein Raum.
Das SG Hildesheim ist aufgrund seiner Auslegung des § 57a Abs 4 SGG nF zu dem Ergebnis gelangt, dass im vorliegenden Verfahren diese Vorschrift die örtliche Zuständigkeit regelt und danach das SG am Sitz der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, das SG Berlin, zuständig sei. Bei seiner Entscheidung für die Anwendung des § 57a Abs 4 SGG hat es die dem Entwurf der Neufassung des § 57a SGG von der Bundesregierung beigegebene Begründung herangezogen (BR-Drucks 820/07 S 20) und sich außerdem auf einen Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 7.1.2009 (L 4 B 75/08 KR) zu § 57a Abs 3 SGG nF (betreffend einen Landesvertrag) gestützt. Das SG Hildesheim hat darüber hinaus auch die gegenteilige Auffassung in den Blick genommen und im Hinblick auf deren Auswirkungen in der Gerichtspraxis den Schluss gezogen, dass ein "differenzierendes Verständnis von § 57a SGG" seiner Meinung nach dem gesetzgeberischen Willen einer klaren Zuständigkeitsregelung widersprechen würde. Auch hinsichtlich der Auswahl des örtlich zuständigen Gerichts - in Anwendung des § 57a Abs 4 SGG nF - hat sich das SG Hildesheim eine Überzeugung gebildet und die von ihm angenommene umfassende Zuständigkeit des SG am Sitz der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für alle Rechtsstreitigkeiten, die auf Verträgen auf Bundesebene beruhen, mit dem Willen des Gesetzgebers begründet und hierzu - ebenfalls - auf den oben genannten Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen verwiesen.
Das vom SG Hildesheim zugrunde gelegte Normverständnis und seine darauf gegründete Entscheidung können nach dem einschlägigen Prüfungsmaßstab - entgegen der vom SG Berlin vertretenen Auffassung - methodisch nicht von vornherein als mit dem Gesetz "eindeutig" unvereinbar angesehen werden. Sein Verweisungsbeschluss ist damit nicht willkürlich und missachtet auch nicht erkennbar elementare Verfahrensgrundsätze. Auch ist weder der Begründung des Verweisungsbeschlusses noch den sonstigen Umständen zu entnehmen, dass die Verweisung auf einem unsachlichen Verhalten beruht haben könnte. Allein eine möglicherweise fehlerhafte Anwendung des § 57a Abs 4 SGG nF durch das SG Hildesheim wäre nicht geeignet, die Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses zu beseitigen.
Allerdings weist der Senat für die Auslegung des § 57a Abs 4 SGG zur Vermeidung künftig zu erwartender wechselseitiger Verweisungen an das SG Berlin (und durch das SG Berlin an andere SG) in Fällen der vorliegenden Art auf folgende Gesichtspunkte hin:
Soweit § 57a Abs 4 SGG für die örtliche Zuständigkeit Angelegenheiten voraussetzt, die Entscheidungen oder Verträge auf Bundesebene "betreffen", dürfte für dessen Auslegung zunächst - in systematischer Hinsicht - zu berücksichtigen sein, dass § 57a SGG (allgemein) im Verhältnis zu § 57 SGG (örtliche Zuständigkeit grundsätzlich personenbezogen) eine Sonderregelung bzw Spezialzuweisung darstellt, und sodann - im Hinblick auf den Gesetzeszweck - von Bedeutung sein, dass den in § 57a Abs 4 SGG genannten SG als örtlich zuständigen SG nicht sämtliche Streitigkeiten aus dem Leistungserbringerrecht der GKV (vertragsärztliche und nicht-vertragsärztliche Streitigkeiten) zugewiesen werden sollten. Aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die den der Bestimmung des § 57a Abs 4 SGG vom Gesetzgeber beigelegten Zweck verdeutlicht, ergibt sich insoweit, dass die dort genannten SG - aus Gründen der Konzentration des juristischen Sachverstands, der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und der Kostenersparnis (vgl Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ≪11. Ausschuss≫ vom 24.11.1988, BT-Drucks 11/3480 S 77 f) - jedenfalls örtlich zuständig sein sollen in Streitigkeiten "aufgrund" von Entscheidungen oder Verträgen auf Bundesebene. Diese sind in den Gesetzesmaterialien beispielhaft aufgezählt (vgl BT-Drucks 11/3480 S 78). Im Hinblick auf den systematischen Zusammenhang, in den die Norm gestellt ist, und auf teleologische Erwägungen dürfte nach alledem eher eine Auslegung des § 57a Abs 4 SGG geboten sein, die nicht mit derjenigen des SG Hildesheim konform geht. Danach spricht mehr dafür, dass die örtliche Zuständigkeit der dort genannten SG nur für solche Streitigkeiten aus dem Leistungserbringerrecht der GKV angeordnet wird, die sich ausschließlich auf die Ebene der Entscheidung oder des Vertrags auf Bundesebene beziehen, also Entscheidungen oder Verträge auf Bundesebene insoweit "betreffen", als diese selbst und unmittelbar in Streit stehen, während Streitigkeiten der vorliegenden Art von der Spezialzuweisung des § 57a Abs 4 SGG nicht erfasst werden.
Fundstellen