Leitsatz (amtlich)
"Sozial- oder berufspolitische Zwecksetzung" iS des SGG § 166 Abs 2 ist bei einer selbständigen Vereinigung von Arbeitnehmern nicht schon deshalb anzunehmen, weil sich dieser Zweck aus der Satzung ergibt. Es muß hinzukommen, daß diese Vereinigung auch ernstlich willens und in der Lage ist, diese Ziele nachdrücklich zu verfolgen. Vereinigungen, die wegen ihrer geringen Mitgliederzahl oder ihrer geringen finanziellen Mittel nicht in der Lage sind ernstlich diese Ziele nachdrücklich zu verfolgen, sind keine Vereinigungen iS des SGG § 166 Abs 2.
Die Interessengemeinschaft aller Rentner, Witwen und Waisen in Lünen ist keine Vereinigung iS des SGG § 166 Abs 2.
Orientierungssatz
1. Vor dem BSG sind selbständige Vereinigungen von Versicherten und Rentner mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung ohne Rücksicht darauf, ob und im welchem Verhältnis aktive oder im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer deren Mitglieder sind, nach SGG § 166 Abs 2 S 1 berechtigt, durch Angestellte oder Mitglieder Prozeßvertretungen vornehmen zu lassen (Abweichung von BSG 1966-03-29 12 RJ 26/66).
2. Zum Begriff "Arbeitnehmer" in SGG § 166 Abs 2 S 1.
Normenkette
SGG § 166 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 15. April 1969 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Revision ist unzulässig, weil sie nicht von einem nach § 166 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zur Vertretung vor dem Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen (postulatsfähigen) Prozeßbevollmächtigten eingelegt und begründet worden ist.
Nach § 166 Abs. 2 SGG sind als Prozeßbevollmächtigte die Mitglieder und Angestellten von Gewerkschaften, von selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung, von Vereinigungen von Arbeitgebern und von Vereinigungen der Kriegsopfer zugelassen, sofern sie kraft Satzung oder Vollmacht zur Vertretung befugt sind.
Die "Interessengemeinschaft aller Rentner, Witwen und Waisen in L" ist keine solche Vereinigung. Daher konnte der Geschäftsführer dieser Vereinigung, E D - der Prozeßbevollmächtigte des Klägers - vor dem BSG keine wirksamen Prozeßhandlungen vornehmen.
Der Umstand, daß dieser Vereinigung nach ihrer Satzung nicht nur aktive, sondern auch bereits im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer angehören können und tatsächlich auch angehören, steht der Annahme, daß es sich um eine selbständige Vereinigung von "Arbeitnehmern" im Sinne des § 166 Abs. 2 SGG handelt, zwar nicht entgegen. Der Begriff "Arbeitnehmer" entstammt dem Arbeitsrecht und umfaßt in diesem Rechtsgebiet allerdings nur die aktiven Arbeitnehmer. Dieser Begriff ist in das Sozialversicherungsrecht übernommen worden und mag in manchen Vorschriften dieses Rechtsgebietes denselben Inhalt haben wie im Arbeitsrecht. Doch hat er in den hier in Betracht kommenden Vorschriften des Selbstverwaltungsgesetzes vom 22. Februar 1951 (GSv) und des Sozialgerichtsgesetzes vom 3. September 1953, in welchen von "selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung" gesprochen wird, einen weiteren, auch die im Ruhestand befindlichen Arbeitnehmer umfassenden Inhalt.
Der Begriff "Arbeitnehmer" muß nicht unbedingt in dem engeren arbeitsrechtlichen Sinn aufgefaßt werden, daß nur die aktiven Arbeitnehmer erfaßt werden, er kann vielmehr, ähnlich wie der Begriff des Beamten, auch den weiteren Inhalt haben, daß der Berufsstand des Arbeitnehmers, d. h. die aktiven und die im Ruhestand befindlichen Arbeitnehmer erfaßt sind. Für diese weitere Auslegung spricht die Entstehungsgeschichte, der systematische Zusammenhang und der Zweck dieser Vorschriften.
Der Begriff "selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung" ist erstmals in § 4 Abs. 1 Satz 5 GSv idF vom 13. August 1952 (BGBl I 421) zu finden, wo diesen Vereinigungen neben den Gewerkschaften und anderen Vereinigungen ein bevorzugtes Vorschlagsrecht für die Wahl der Organmitglieder der Sozialversicherungsträger zugebilligt worden ist. Für die Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs ist nach allen Fassungen des GSv von Bedeutung, daß nicht etwa Arbeitnehmer, sondern Versicherte und Rentner das passive und aktive Wahlrecht bei den Wahlen zu den Organen der Sozialversicherungsträger haben (vgl. z. B. § 2 Abs. 4 Satz 3 und § 4 Abs. 1 Satz 1 GSv idF vom 13. August 1952; in § 19 Abs. 2 und 3 GSv idF vom 3. August 1967 ist später uneingeschränkt bestimmt worden, daß zu den Versicherten auch die Rentner gehören). Sowohl Versicherte wie auch Rentner können aber aktive und im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer sein. Steht aber das passive und das aktive Wahlrecht Versicherten und Rentnern, d. h. aktiven und im Ruhestand befindlichen Arbeitnehmern zu, so muß man in diesem Zusammenhang als "Vereinigungen von Arbeitnehmern" auch Vereinigungen von im Ruhestand befindlichen Arbeitnehmern anerkennen. Daher sind die Organisationen der Versicherten und der Rentner, gleichgültig ob und in welchem Umfang aktive oder im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer Mitglieder sind, als Arbeitnehmervereinigungen in diesem Sinne anzusehen.
Dieser Begriff des GSv ist in das SGG übernommen worden. In § 14 Abs. 2 SGG haben die selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung ein Vorschlagsrecht bei der Berufung der ehrenamtlichen Beisitzer bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit. Da diese Vorschrift aus dem GSv übernommen ist, spricht schon vieles für die Annahme, daß sie hier denselben Inhalt hat. Hinzukommt, daß Versicherte und Rentner, also sowohl aktive als auch im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer, zu ehrenamtlichen Beisitzern bei den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit berufen werden können (§ 16 Abs. 3 SGG). Ist das aber der Fall, so muß man auch hier die Verbände der Versicherten und der Rentner als vorschlagsberechtigt anerkennen, gleichgültig, ob und in welchem Umfang aktive oder im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer deren Mitglieder sind.
Der Begriff "selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung" ist weiterhin in § 73 Abs. 6 und § 166 Abs. 2 SGG übernommen worden; beide Vorschriften regeln Fragen der Vertretung vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit. Der Umstand, daß auch hier dieser Begriff aus dem GSv übernommen worden ist und daß er zudem dem gleichlautenden Begriff in § 14 Abs. 2 SGG entspricht, führt zu der Annahme, daß er auch hier denselben Inhalt hat. Bestätigt wird dies durch den Umstand, daß sich im sozialgerichtlichen Verfahren nicht wie im arbeitsgerichtlichen Verfahren Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sondern Versicherungsträger einerseits und Versicherte und Rentner, d. h. aktive und im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer, andererseits gegenüberstehen. Daher muß man auch hier annehmen, daß Vereinigungen der Versicherten und der Rentner, gleichgültig ob und in welchem Verhältnis aktive oder im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer deren Mitglieder sind, anerkannt werden.
Zwar hat auch das Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) in einigen Vorschriften den Begriff der "selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung" aus dem GSv übernommen. Im Arbeitsrecht aber hat dieser Begriff den engeren arbeitsrechtlichen Inhalt, daß grundsätzlich nur aktive Arbeitnehmer erfaßt werden (vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 ArbGG), weil sich im arbeitsgerichtlichen Verfahren in der Regel nur aktive Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegenüberstehen. Das hat zur Folge, daß im Arbeitsrecht auch von dem Begriff "selbständige Vereinigungen von Arbeitnehmern" nur Vereinigungen von aktiven Arbeitnehmern erfaßt werden können.
Vor dem BSG sind aber aus allen diesen Gründen selbständige Vereinigungen von Versicherten und Rentnern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung ohne Rücksicht darauf, ob und in welchem Verhältnis aktive oder im Ruhestand befindliche Arbeitnehmer deren Mitglieder sind, nach § 166 Abs. 2 SGG berechtigt, durch Angestellte oder Mitglieder Prozeßvertretungen vornehmen zu lassen. Dieser Auffassung steht zwar der Beschluß des 12. Senats vom 29. März 1966 - 12 RJ 26/66 - entgegen, doch hat dieser Senat auf Anfrage erklärt, daß er an der Begründung dieses Beschlusses insoweit nicht festhält.
Es war allerdings weiter zu prüfen, ob die "Interessen-Gemeinschaft aller Rentner, Witwen und Waisen in Lünen" eine Vereinigung mit "sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung" im Sinne des § 166 Abs. 2 SGG ist. Eine "sozial- oder berufspolitische Zwecksetzung" geht über den Zweck, individuelle Ansprüche der einzelnen Mitglieder vor Gerichten, Verwaltungen oder sonstigen Stellen zu vertreten, hinaus; sogenannte Rechtsschutzvereine werden nicht von § 166 Abs. 2 SGG erfaßt. Eine "sozial- oder berufspolitische Zwecksetzung" kann vielmehr nur dann angenommen werden, wenn es zu den Aufgaben einer solchen Vereinigung - u. a. - gehört, sich für soziale oder berufliche, die gesamte Bevölkerung oder einzelne Gruppen der Bevölkerung berührende Fragen einzusetzen. Es genügt nicht, wenn dieser Zweck satzungsgemäß verankert ist, vielmehr muß diese Vereinigung darüber hinaus ernstlich willens und ernstlich in der Lage sein, diese Ziele durch Öffentlichkeitsarbeit und durch Eingaben, Stellungnahmen und Gutachten gegenüber den zuständigen politischen Stellen nachdrücklich zu verfolgen. Dazu aber ist eine Vereinigung, die nach ihrer Mitgliederzahl und den ihr zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln nur unbedeutend ist, nicht in der Lage.
Der Senat ist hiernach zu dem Ergebnis gekommen, daß die "Interessengemeinschaft aller Rentner, Witwen und Waisen in Lünen" keine Vereinigung im Sinne des § 166 Abs. 2 SGG ist. Bei einer Mitgliederzahl von nur 270 Personen und einem monatlichen Mitgliederbeitrag von nur 1,- DM fehlt ihr die Bedeutung, die ihr gestatten würde, ihre sozial- oder berufspolitischen Zwecke nachdrücklich zu verfolgen.
Der 11. Senat des BSG hat in seinem Beschluß vom 20. März 1970 - 11 RA 139/69 - in einem ähnlich gelagerten Fall die Nichtanerkennung einer Vereinigung im Sinne des § 166 Abs. 2 SGG damit begründet, daß diese Vereinigung wegen ihrer geringen finanziellen Mittel nicht in der Lage sei, einen Prozeßbevollmächtigten zu bestellen, der den Anforderungen einer Prozeßführung vor dem BSG entspräche. Es ist richtig, daß es der Zweck des § 166 SGG ist, sicherzustellen, daß nur solche Prozeßbevollmächtigte vor dem BSG auftreten, die die erforderliche Befähigung haben, die Beteiligten durch sachgerechte Prozeßführung vor Schaden und das BSG vor unnötigen Belastungen zu bewahren. Eine Vereinigung mit einer geringen Mitgliederzahl und damit in der Regel niedrigem Beitragsaufkommen wird aus finanziellen Gründen in der Regel aber Kaum in der Lage sein, einen solchen Prozeßbevollmächtigten zu bestellen. Diese Gründe können daher für die zu treffende Entscheidung über die Zulassung der "Interessen-Gemeinschaft aller Rentner, Witwen und Waisen in Lünen" zusätzlich herangezogen werden.
Wegen der Frage, ob der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen kann, wird auf § 67 SGG verwiesen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen