Entscheidungsstichwort (Thema)
Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde
Orientierungssatz
Die bloße Vorlage eines von dem prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt unterzeichneten, sonst aber unveränderten Schriftsatzes des Beteiligten selbst oder eines sonst nicht Vertretungsberechtigten stellt keine ordnungsgemäße Beschwerdebegründung dar, wenn der Rechtsanwalt die Durchsicht, Sichtung und Gliederung des Streitstoffes unterlassen hat (vgl BSG vom 24.2.1992 - 7 BAr 86/91 = SozR 3-1500 § 166 Nr 4).
Normenkette
SGG § 160 Abs 2 S 1, § 164 Abs 2 S 3, § 166 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.04.1991; Aktenzeichen L 15 Kn 122/87) |
Tatbestand
Die - in den Tatsacheninstanzen durch ihren Sohn vertretene - Klägerin wendet sich mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen. Hierin hat das Berufungsgericht ihre Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Gelsenkirchen teilweise zurückgewiesen, teilweise als unzulässig verworfen; es hat ferner Klagen gegen Bescheide der Beklagten aus den Jahren 1958, 1965 und 1966 sowie gegen während des Berufungsverfahrens ergangene Bescheide von 1988 und 1989 als unzulässig abgewiesen, da es sich um eine unzulässige Klageänderung handele; unter dem 8. September 1988 sei kein Verwaltungsakt ergangen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist als unzulässig zu verwerfen, da ihre Begründung nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form entspricht.
Nach § 160a Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Nichtzulassungsbeschwerde innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils zu begründen. In der Begründung muß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des LSG abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Bei der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde muß sich ein Beteiligter wie die Klägerin ebenso wie bei der Begründung einer Revision durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten lassen (§ 166 SGG). Zwar ist innerhalb der - vom Vorsitzenden verlängerten (§ 160a Abs 2 Satz 2 SGG) - Begründungsfrist der von einem vor dem Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten, einem deutschen Rechtsanwalt (§ 166 Abs 2 Satz 2 SGG), unterzeichnete Schriftsatz vom 10. Oktober 1991 dem Gericht vorgelegt worden. Gleichwohl ist im vorliegenden Falle die gesetzlich vorgeschriebene Form dadurch nicht gewahrt worden.
Das gesetzliche Erfordernis, eine Revision durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten zu begründen, soll die Revisionsgerichte entlasten und im wohlverstandenen Interesse aller die sorgfältige Vorbereitung des Verfahrens gewährleisten. Die ordnungsgemäße Revisionsbegründung soll - zB durch klare Angaben, welche Teile des Urteils der Vorinstanz angegriffen werden und mit welchen Gründen - die Vorarbeiten des Berichterstatters erleichtern; außerdem soll erreicht werden, daß der Prozeßbevollmächtigte die Rechtslage genau durchdenkt, bevor er durch seine Unterschrift die Verantwortung für die Revision übernimmt, und so ggf von der Durchführung aussichtsloser Revisionen absieht (vgl BSG SozR Nr 27 zu § 164 SGG und BSGE 6, 269 f, jeweils mwN). Erwartet das Gesetz also, daß der Prozeßbevollmächtigte die Rechtslage genau durchdenkt und für die Begründung die volle Verantwortung übernimmt, muß die Begründung in jedem Falle die Prüfung und Durcharbeitung des Prozeßstoffs durch den Prozeßbevollmächtigten erkennen lassen (BSGE 7, 36, 39; BSG SozR Nr 49 zu § 164 SGG). Die bloße Vorlage eines von einem Rechtsanwalt unterzeichneten, sonst aber unveränderten Schriftsatzes des Beteiligten selbst genügt jedenfalls nicht, wenn der Rechtsanwalt den Streitstoff nicht selbst geprüft, gesichtet und rechtlich durchgearbeitet hat (BVerwGE 22, 38 = Buchholz 310 § 139 VwGO Nr 21; BVerwG Buchholz 310 § 139 VwGO Nr 38; BFHE 136, 52, 53; BFHNV 1986, 175 f). In der Regel mag zwar die Unterschrift des Prozeßbevollmächtigten unter die Revisionsbegründung ausreichen, weil es Sinn der Unterzeichnung ist, daß der Unterzeichner die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes übernimmt. Lassen jedoch die gesamten Umstände erkennen, daß der zugelassene Prozeßbevollmächtigte die Prüfung, Gliederung und rechtliche Durchdringung des Streitstoffes unterlassen hat, so handelt es sich um eine rein formale Unterzeichnung und nicht um eine gesetzesmäßige Begründung der Revision. Das gilt nicht nur in den Fällen, in denen der Prozeßbevollmächtigte die Revisionsbegründung seines Mandanten unverändert an das Revisionsgericht weitergibt, sondern auch in solchen Fällen, in denen er von einem Rechtsunkundigen verfaßte Schriftsätze unkritisch abschreibt und zusammenstellt.
Für die Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde gilt nichts anderes (BSG SozR 1500 § 160 Nr 44). Auch das Erfordernis der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten soll bewirken, daß dieser die Rechtslage im Hinblick auf die drei Gründe, auf die die Zulassung einer Revision allein gestützt werden kann (§ 160 Abs 2 SGG), genau durchdenkt, ggf von der Durchführung aussichtsloser Beschwerden absieht und anderenfalls durch eine klare Darstellung, welcher Zulassungsgrund und aus welchen Gründen als vorliegend angesehen wird, die Entscheidungsfindung des Gerichts erleichtert. Auch die nach § 160a Abs 2 SGG erforderliche Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde muß daher das Ergebnis der geistigen Arbeit des zugelassenen Prozeßbevollmächtigten sein, für die der Prozeßbevollmächtigte mit seiner Unterschrift die volle Verantwortung übernimmt, und dies aus sich heraus erkennen lassen. Die bloße Vorlage eines von dem prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalt unterzeichneten, sonst aber unveränderten Schriftsatzes des Beteiligten selbst oder eines sonst nicht Vertretungsberechtigten stellt daher keine ordnungsgemäße Beschwerdebegründung dar, wenn der Rechtsanwalt die Durchsicht, Sichtung und Gliederung des Streitstoffes unterlassen hat (zum Ganzen auch: BSG vom 18. Februar 1980 - 5 RKn 1/78 - sowie BSG vom 24. Februar 1992 - 7 BAr 86/91 -).
So aber liegt der Fall hier. Zur Überzeugung des Senats steht fest, daß der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin einen von ihrem Sohn und Bevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen vorgelegten Entwurf unkritisch übernommen und ohne eigenverantwortliche Sichtung und Durcharbeitung des Streitstoffes an das BSG weitergeleitet hat. Hierfür sprechen die gesamten Umstände, insbesondere das äußere Erscheinungsbild, der Umfang und der Inhalt der Begründungsschrift vom 10. Oktober 1991.
Bereits die Einreichung einer 61 Schreibmaschinenseiten umfassenden Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde ist für einen Rechtsanwalt außerordentlich ungewöhnlich. Dieser Umfang steht jedoch im Einklang mit den aus den sonstigen Verfahrensakten ersichtlichen Übung des Sohnes der Klägerin (zB Schriftsatz an die Beklagte vom 28. Dezember 1989: 37 Blatt mit 52 Anlagen; auch der Vortrag im Verfahren vor dem SG und dem LSG ist gekennzeichnet durch zahlreiche umfangreiche - ca 10seitige - Schriftsätze des Sohnes der Klägerin als ihres Prozeßbevollmächtigten) und gibt damit bereits einen deutlichen Hinweis, daß der Schriftsatz allein von diesem verfaßt ist.
Darüber hinaus entspricht der Schriftsatz auch in Aufbau, Gliederung und Diktion den sonst aus den Akten ersichtlichen Äußerungen des Sohnes der Klägerin, indem zB - innerhalb eines Gliederungspunktes mehrfach hintereinander, zum Teil im selben Satz, neue Untergliederungen mit denselben kleinen Buchstaben (a bis c) verwandt werden (vgl zB Bl 34 des Schriftsatzes an die Beklagte vom 28. Dezember 1989; Bl 5 f der Berufungsbegründung vom 14. November 1987; Bl 22 f der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vom 10. Oktober 1991); - die Silbentrennung mit einem Summenstrich ("=') vorgenommen wird; - Bescheid und Widerspruchsbescheid als zB "Bescheid vom 12.7.1988 / 24.1.1989' zitiert werden.
Bezeichnend ist ebenso die Verwendung juristisch abwegiger Argumentationen, so zB - die unrichtige Auslegung des § 77 SGG durch das SG führe zur Zulässigkeit der Berufung iS des § 150 Nr 2 SGG; - die Verletzung der öffentlich-rechtlichen Wahrheitspflicht durch die Beklagte begründe einen unverzichtbaren Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG; - die Auffassung, ein Bescheid, der rechtswidrig sei, erwachse deswegen nicht in Bindung iS des § 77 SGG; - der mehrfach verwandte Vorwurf, das Berufungsgericht habe gegen "Denkgesetze in verfahrensrechtlicher Hinsicht" verstoßen; - die mehrfache Rüge von Rechtsverletzungen durch die Beklagte; - die Bezeichnung von Rechtsauffassungen als nachweislich unwahr; - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen höherer Gewalt sei zu gewähren, wenn nachträglich ein der Klägerin zusagendes BSG-Urteil aufgefunden werde; - bei der Nichtzulassung der Revision durch das LSG handele es sich um ein Prozeßurteil.
Die soeben dargestellten Argumentationen sachgerecht zu begründen, wurde zwar - auf Vorhalt durch den Senat - in einem weiteren Schriftsatz vom 30. Juni 1992 versucht, allerdings erneut unter Verwendung von Charakteristika des Vortrags des Sohnes der Klägerin und in vergeblichem Bemühen, die unhaltbaren Argumentationsmuster zu rechtfertigen bzw nachzubessern.
Auf dieser Grundlage aber vermag sich der Senat nicht davon überzeugen, daß der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, wie von ihm unter dem 21. April 1992 vorgetragen, die Beschwerdebegründung vom 10. Oktober 1991 selbst gefertigt, den gesamten Streitstoff persönlich gesichtet, geprüft und rechtlich vollständig durchgearbeitet und für die Fertigung der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ca 3 Tage benötigt zu haben.
Der in § 166 SGG normierte Vertretungszwang für das Verfahren vor dem BSG mag zwar dann lästig erscheinen, wenn ein nicht Vertretungsberechtigter der Auffassung ist, sich im Sozialrecht besser auszukennen und mehr Zeit zu haben, sich in das Prozeßgeschehen einzuarbeiten als ein - nicht im Sozialrecht spezialisierter - Anwalt (so der Sohn der Klägerin im Schriftsatz vom 1. Juni 1987 an das SG). Gerade der vorliegende Fall zeigt jedoch in aller Deutlichkeit, daß der Vertretungszwang letztlich wohlverstandenen Interessen der Beteiligten und denen der Rechtspflege dient (hierzu allgemein Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl 1991, § 166 RdNr 1).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen